Entwicklung und Bedeutung des Widerstands- und Freiheitssymbols

Was ist Newroz?

Omedya Revan

Newroz in KerkûkJedes Jahr am 21. März wird Newroz von vielen Menschen auf der ganzen Welt, vor allem von den Kurd:innen, mit einer großen Begeisterung gefeiert. Manche verbringen diese Feierlichkeiten in einer ausgelassenen Festival-Stimmung, andere eher ruhig, festlich.

Ohne Zweifel hat Newroz viele Bedeutungen. Eine besondere ist die »Ankunft des Frühlings«. Deshalb wird es immer mit Frühlingsbeginn gefeiert, obwohl die Rituale zwischen den Regionen variieren.

Wann immer es um Newroz geht, gilt Kurdistan als wichtigste Region und als Zentrum dieses Feiertages. Denn hier wird mit Newroz nicht nur die Ankunft des Frühlings, sondern auch der Beginn des anhaltenden Widerstands des kurdischen Volkes verbunden.

Bei den Kurden beginnt Newroz mit der Legende des Schmiedes Kawa

In der kurdischen Mythologie wird von einem Schmied namens Kawa berichtet, der vor 2500 Jahren unter dem Joch des tyrannischen assyrischen Königs Dehak lebte (anderen Quellen zufolge: Zuhak). Der Legende nach hatte dieser König, der vom Volk aufgrund seiner Grausamkeit mit einem Monster verglichen wurde, auf beiden Schulten je eine Schlange. Um sie zu füttern, ließ er jeden Tag zwei Kinder in den Palast bringen, wo diese von seinen Köchen umgebracht wurden, um ihr Hirn an die Schlangen zu verfüttern.

Doch die Tyrannei des grausamen Königs beschränkte sich nicht nur darauf. Durch seine Unbarmherzigkeit und Macht verhinderte er auch die Ankunft des Frühlings. Seine Brutalität nahm zu, und die Menschen wussten nicht mehr, was sie unternehmen konnten.

Angesichts dessen beschlossen eines Tages zwei Freunde, Armail und Karmail, zu handeln. Sie schafften es, als Köche im Palast angestellt zu werden. Von den beiden Kindern, die umgebracht werden sollten, um ihr Hirn an die Schlangen zu verfüttern, töteten sie nur eines und verhalfen dem anderen zur Flucht. Sie ersetzten dessen Hirn durch das eines Schafes. Dank dieses Plans konnten sie jeden Tag ein Kind retten. Die so dem Tod Entronnenen wurden heimlich in den Bergen von dem tapferen und gutherzigen Schmied Kawa, dessen Sohn ebenfalls vom König ermordet worden war, zu einer Armee ausgebildet.

Nachdem die Armee gewachsen und immer stärker geworden war, zog sie unter Kawas Führung am 20. März (wenn auch dieses Datum nicht genau bekannt ist, war es der Tag vor der legendären Rebellion) zum Palast des tyrannischen Königs. In der folgenden Schlacht tötete Kawa ihn mit seinem Schmiedehammer. Um dem Volk zu signalisieren, dass er den Despoten getötet und so der Unterdrückung ein Ende gesetzt hatte, entzündete er im Innenhof des Palastes ein großes Feuer. Alle, die das Feuer sahen, kamen in Gruppen vom Berg herab und feierten den Sieg. Nachdem er das Feuer gelegt hatte, stieg Kawa auf den höchsten Turm des Palastes und schwang, um so an den Feierlichkeiten teilzunehmen, seinen gelb-rot-grünen Umhang. So wurden das kurdischen Volk vom tyrannischen König befreit und am nächsten Tag begann der lang ersehnte Frühling.

Der Bezug des kurdischen Volkes zu Newroz entwickelte sich also durch das Weitererzählen dieser Legende, durch die Zeiten hindurch bis zum heutigen Tag. Obwohl es sich auch um einen Mythos handelt, haben die Kurd:innen mit der Erkenntnis, dass »die Geschichte im Jetzt verborgen ist und wir im Anfang der Geschichte verborgen sind«, den Widerstand, der zu Newroz führte, entschlossen fortgesetzt.

Der Funke dieses Feuers, das der Schmied Kawa damals entzündete, wurde Jahrhunderte später vom »zeitgenössischen Kawa«, Mazlum Doğan, in die dunklen und kalten Zellen im Gefängnis von Amed (Diyarbakır) getragen. Dies führte ein »auferstehendes« Volk, das vernichtet werden sollte, wieder zu einem 21. März.

Daher ist dieser Tag, der immer ein Symbol für die Pflicht und den Widerstand darstellt, ein wichtiger Teil der kurdischen Geschichte. Newroz ist zum Symbol einer traditionellen Volksrealität geworden und hat, wie bereits erwähnt, eine besondere Bedeutung für Kurd:innen wie auch für viele andere Gesellschaftsgruppen,.

Auch für mich hat Newroz eine besondere Bedeutung. Für mich – als kurdisches Kind, das die Jugend in den türkischen Metropolen verlebte – bedeutet es, in der Nacht des 20. März Autoreifen in den Straßen zu anzuzünden und Parolen rufend über das Feuer zu springen. Mein Erstes am Morgen nach dieser Nacht war es, an den Newroz-Feierlichkeiten und Aktivitäten der HADEP1 teilzunehmen, der kurdischen politischen Bewegung der damaligen Zeit.

Newroz-Feiern waren, außer in den 2000er Jahren, immer nur unter anderen Namen erlaubt. Denn für den Staat war Newroz ein Feiertag, der eigentlich verboten gehörte. Statt ihn jedoch offen zu verbieten, versuchte er einen Feiertag zu etablieren, der stattdessen im Einklang mit seinen Perspektiven und Sichtweisen stehen sollte. So erlaubte der Staat seine eigenen »Nevruz«-Feiern, jedoch kein »Newroz«.

Ihre eigenen »Nevruz«-Feiern waren nichts Weiteres als das Zusammenkommen von Gouverneuren und Regierungsbeamten, für die rote Teppiche ausgerollt wurden. Sie folgten einem festgelegten Protokoll, in dem auch Menschen über ein symbolisches Feuer sprangen. Dieser Ansatz und das Verständnis, das der Staat an den Tag legte, waren der Versuch, die soziale und historische Realität von Newroz ihres Wesens zu berauben.

Newroz und die Bedeutung für die Revolution – Was ist Newroz?

Die Newroz-Plätze, die anfangs nur von Dutzenden oder vielleicht Hunderten besucht wurden, sind heute überfüllt mit Zigtausenden Menschen, die eine gemeinsame Stimme und eine gemeinsame Überzeugung teilen.

Newroz-Feierlichkeiten waren schon immer die Ankündigung eines Aufbruchs und einer neuen Ära. Vor allem das kurdische Volk hat sich immer wieder daran beteiligt und schreibt ihnen bis heute die Qualität einer selbstverständlichen Zustimmung und Volksabstimmung zu. So spiegelte sich 2005 zum Beispiel das Buch Öcalans »Das Paradigma des Demokratischen Konföderalismus« bei allen Newroz-Feierlichkeiten als gemeinsame Forderung des Volkes wider.

Newroz-Feiern spielten schon immer eine wichtige Rolle und hatten eine besondere Bedeutung in politischen Prozessen. Aus diesem Grund hat der türkische Staat in der Vergangenheit versucht, die massenhafte Beteiligung an Newroz-Feiern zu verhindern. So wollte er mit Massakern die Menschen davon abhalten, Newroz als Fest des Widerstands zu begrüßen. Das blutige Newroz von 1992 behält immer seinen Platz in der Erinnerung als eines der markanten Beispiele dieser Realität. In dem Jahr wurden fast hundert Kurd:innen bei den Angriffen auf die Feierlichkeiten ermordet.

Trotz der blutigen Newroz-Feierlichkeiten in den Jahren 1992 und 1993 sorgte der vom kurdischen Repräsentanten Öcalan erklärte einseitige Waffenstillstand dafür, dass New­roz 1994 ohne Zwischenfälle blieb. In den folgenden Jahren verliefen die Feiern teilweise ereignislos. Als sie sich zu einem gemeinsamen Nationalfeiertag für Völker mit freiheitlicher Perspektive entwickelten, entfalteten sie noch größere Pracht. In diesem Sinne ging Newroz 2005 in Amed als eine der Feiern mit der größten Beteiligung in die Geschichte ein. Später erstreckten sich die Newroz-Feierlichkeiten in den Städten Kurdistans und der Türkei über eine ganze Woche. Will man besondere Feste hervorheben, dann ist es natürlich sinnvoll, das Jahr 2013 separat zu erwähnen. Bei den Feierlichkeiten in diesem Jahr öffnete Abdullah Öcalan die Tür zu einer neuen Ära, indem er den historischen Schritt, den er unternahm, um eine Lösung für den politischen Prozess zu entwickeln, in den Geist von Newroz integrierte. Als Ergebnis des langjährigen Kampfes traf sich der Staat mit Abdullah Öcalan [indirekt] am Verhandlungstisch und Hunderttausende erlebten diese wichtige Entwicklung mit dem Verlesen eines Briefes Öcalans2 auf der Newroz-Feier in Amed. Zweifellos war die von ihm vertretene Philosophie die Quelle der Ideen und Bemühungen, die dazu führten, dass Newroz heute in Kurdistan von einer solchen Menge von Menschen und in solch einer Begeisterung und festlichen Atmosphäre begangen wird.

Auf diesen Newroz-Feiern sind die Inhalte der gesungenen Parolen und der gezeigten Flaggen und Transparente leicht nachzuvollziehen.

Die Bedeutung von Newroz für die PKK

Eine Feier, die im März 1973 am Çubuk-Staudamm3 bei Ankara ihren Anfang nahm, wurde mit dem Feuer, das ­Mazlum Doğan4 mit drei Streichhölzern im Gefängnis von Amed legte, erhellt. Und später wurde Newroz zu den Rahşans5, Zekîyes6, Ronahîs und Berîvans7. Laut Öcalan ist Newroz ein historischer Sieg. Daher wird es von allen Völkern des Nahen Ostens mehr als ein Fest der Freiheit begangen, um den Zusammenbruch von Herrschaft und Unterdrückung zu feiern, und weniger als eines, um lediglich den Frühling willkommen zu heißen. Genau wie Abraham das Sklaventum beendete und das Bayram-Fest präsentierte, bedeutet Newroz in diesem Sinne die Befreiung von den Traditionen und politischen Werkzeugen des Sklavensystems, das überlebt, indem es wie eine Maschine den Menschen auffrisst. Aufgrund all des Gesagten beinhaltet Newroz die Essenz des kurdischen Volkes und tritt immer als höchster Ausdruck des freien und demokratischen Lebenswillens in den Vordergrund. Zusammenfassend lässt sich sagen, Newroz ist der Schrei der Kurd:innen, dass »Freiheit meine Identität ist«. Die Quelle von Newroz liegt in den mesopotamischen Ländern. Es ist der Mut, im Frühling Fragen zu stellen. Es ist der gemeinsame Feiertag der Völker des Mittleren Ostens.

In den 1990er Jahren begann die aus jungen Generationen, Arbeiter:innen und Aktivist:innen bestehende kurdische politische Bewegung, Newroz als Reaktion auf die staatliche Politik in verschiedenen Zentren, insbesondere in Amed, als kurdisch-ethnisches Zitat zu verwenden und zu verbreiten. So wurde es zu einer Repräsentation der kurdischen Identität, einer Begegnung mit der Existenz und einer Realität, in der verlorene Identität wiedererlangt wird. Es ist der gemeinsame Feiertag der Völker des Mittleren Ostens.

Nicht »Nevruz«, sondern »Newroz«

Tatsächlich begann der türkische Staat, Newroz als in den Büchern einiger türkischer Historiker erwähntes »Nevruz-Ergenekon-Festival« einzuführen, um so den Zuwachs für die kurdische Bewegung zu verhindern. Dafür begann der Staat zu argumentieren, dass Newroz eine zentralasiatische Tradition sei, und hob hervor, um der »Nevruz«-Tradition ihre Bedeutung zu verleihen und zu belegen, dass bereits Mustafa Kemal 1925 an einer solchen Feier in Ankara teilgenommen habe.

Der Staat, der die Strategie verfolgt, den Reichtum und die Werte des kurdischen Volkes unter dem Etikett »Türkentum« zu »schützen«, veröffentlichte 1991, basierend auf erfundenen Schriften seiner eigenen Historiker, in einem Rundschreiben die Anweisung, im ganzen Land »Nevruz« als türkisches »Ergenekon-Festival« zu begehen. Am 21. März 2002 behauptete der damalige Kulturminister Istemihan Talay in einer Rede im Parlament, »Nevruz« sei eigentlich ein türkischer Feiertag, und hob so die Leugnung der kurdischen Identität auf eine neue Ebene. Die kurdische Presse reagierte auf diese Entwicklungen damals mit der Schlagzeile »Newroz statt Nevruz«. Der Konflikt um die Schreibweise, mit V oder mit W, war zum Symbol geworden und so schienen zwei Buchstaben zu genügen, die Menschen in zwei Lager zu spalten.

Heute beginnt das neue Jahr in Iran, Afghanistan, Aserbaidschan und etlichen anderen zentralasiatischen (Turk-) Staaten am 21. März. Für Zoroastrier, Aleviten und Bahai ist Newroz ein heiliger Tag. Trotz der Tatsache, dass viele Menschen den 21. März, wenn Tag und Nacht die gleiche Länge haben, als Feiertag begehen, sind die Kurd:innen die Einzigen, die ihn als politische Tradition feiern.

Fußnoten:

1 - Die HADEP (Halkın Demokrasi Partisi, Partei der Demokratie des Volkes) wurde nach dem Verbot der DEP (Demokrasi Parti, Partei der Demokratie) am 11. Mai 1994 gegründet und am 13. März 2003 vom Verfassungsgericht der Türkei verboten.

2 - Kurdistan Report 167, S. 7

3 - Der Grundstein der PKK wurde an Newroz 1973 am Çubuk-Staudamm bei Ankara gelegt. Auf einem Treffen der Gruppe Revolutionäre Kurdistans teilte Abdullah Öcalan seine Analyse, dass Kurdistan eine Kolonie sei und ein entschiedenes handeln dagegen notwendig sei.

4 - Mazlum Doğan zündete Newroz 1982 aus Protest seine Zelle im berüchtigten Foltergefängnis in Amed (Diyarbakır) an und erhängte sich.

5 - Rahşan Demirel protestierte gegen das Verbot vom Innenminister der Türkei, das 1992 Newroz nicht gefeiert werden durfte und verbrannte sich selbst in Kadifekale.

6 - Zekîye Alkan: Am 21. März 1990 verbrannte sich Zekiye auf den historischen Stadtmauern von Amed mit den Worten »Newroz feiert man, indem man das Feuer entfacht«

7 - Bedriye Taş (Ronahî) und Nilgün Yıldırım (Bêrîvan) verbrannten sich am 21. März 1994 in Mannheim aus Protest gegen das Verbot der Newrozfeiern in der Bundesrepublik Deutschland und die Beteiligung am Krieg in Kurdistan.


 Kurdistan Report 220| März/April 2022