Feministisch-kollektive Rauhnächte und Forschung zu den matriarchalen Wurzeln von Weihnachtsbräuchen

Gemeinsames Ausgraben unserer in Vergessenheit geratenen Kulturen

Lea Seidlitz

Von der kurdischen Frauenbewegung lernen wir, in den eigenen Traditionen nach Praktiken zu suchen, die das Leben – sozial, wie auch mit der natürlichen Welt verbunden – wieder ins Zentrum stellen und den gemeinsamen Kampf stärken. In unserem Kulturraum sind viele davon stark nationalistisch und patriarchal besetzt. Das Anliegen der Jineolojî (dt: Wissenschaft der Frau und des Lebens) ist es, gerade deshalb nach den matriarchalen Gehalten und Wurzeln zu suchen und auch die hiesige Kultur zu entwirren von den Besetzungen durch das Herrschaftssystem.

Hevjiana-Azad aufbauen – Methoden finden, um das freiheitliche gemeinschaftliche Leben aufzubauen

Ein altes Ritual in Mitteleuropa ist es, ab der Wintersonnenwende die Rauhnächte zu feiern. Diesen Anlass haben wir genutzt, um dazu zu forschen und unsere Gemeinschaft zu stärken. Traditionell wird in diesen zwölf dunkelsten Nächten des Jahres gemeinsam Kraft getankt, nach innen geschaut und das vergangene Jahr reflektiert. Es ist auch eine Zeit zum Feiern, zum Geschichten erzählen und um die Samen für das Kommende zu setzten, das Neue zu visionieren. Ein guter Anlass auch für uns, Forschung und Praxis zu verbinden. Die Wieder­aneignung von altem Wissen und Bräuchen und das Wiederausgraben von Ritualen, die uns vom Patriarchat gewaltsam entrissen wurden, können uns helfen, uns aus den mentalen Griffen des Patriarchats zu befreien und zu entdecken, wer wir sein wollen. Xwebûn=Selbstwerdung ist nicht ohne Grund ein elementarer Bestandteil der kurdischen Frauenbewegung, und auch wir können hier alte Werkzeuge entdecken, die uns bei dieser Selbstwerdung unterstützen können. Wir plädieren dafür, dass wir sie nutzen, um unsere feministische Organisierung im Widerstandsnetzwerk des Weltfrauenkonföderalismus zu stärken.

Wir haben für einige Tage miteinander kommunal gelebt, gearbeitet und uns vom Jahr erholt. Eine Erfahrung, die wir in dieser kollektiven und reflektierten Form selten in der kapitalistischen Moderne erfahren. Die emotionale Stärkung durch die Aufhebung der Vereinzelung und trennenden Verhaltensweisen des Alltags war unmittelbar spürbar. Wir begreifen das als einen Schritt, um in einer praktisch gelebten Frauenbefreiungsperspektive unser Selbst zu transzendieren hin zu starken, mit freiem Willen und revolutionärer Persönlichkeit handelnden Subjekten – gegen die patriarchalen Objektivierungen und Logiken der Misogynie.

In diesem Sinne haben wir uns anlässlich der Wintersonnenwende als Frauen und nicht-binäre Personen für einige Tage einen Raum der gemeinsamen Weiterentwicklung unserer Persönlichkeiten und Praxis anhand der Prinzipien der Frauenbefreiungsideologie geschaffen. Wir haben uns den Prinzipien auf unsere Weise angenähert und wollen darauf verweisen, dass eine vollständige und originale Ausführung in den Schriften der Frauenbewegung1 zu finden sind.

Die fünf Prinzipien der Frauenbefreiungsideologie sind:

  • Welatparêzî (dt: Heimat verteidigen)

  • Freies Denken und Freier Wille

  • Organisierung

  • Militante Haltung

  • Ethik und Ästhetik

Wir haben eine gemeinschaftliche Zeit zum Nachsinnen darüber gestaltet, wie wir unsere Selbst(werdung)=Xwebûn, Theorie, Geschichte und revolutionäre Praxis zusammenbringen. Denn um Gesellschaft zu verstehen und zu verändern, müssen wir uns selbst verstehen und verändern. Revolution heißt freies Denken in befreiende Taten umzusetzen, Beziehungen im Alltag zu verändern und die Adern des Lebens mit Hevaltî zu füllen – Genoss*innenschaftlichkeit und Freund*innenschaft zu leben. Xwebûn bedeutet also das Entwickeln ethischer und ästhetischer Persönlichkeiten, die in der Lage, sind eine politisch-moralische Gesellschaft zu gestalten. Mit unserer Vereinzelungsmentalität fällt es uns oft gar nicht so leicht, Gemeinschaftlichkeit zu leben und dennoch ist es für die Organisierung unverzichtbar, um eine starke Bewegung zu entwickeln. Das heißt also auch zu lernen, Widersprüche und unsere verschiedenen und auch patriarchal geprägten Persönlichkeiten auszuhalten, um uns miteinander weiterzuentwickeln, wie uns die kurdischen Freund*innen immer wieder erinnern.

Wir kannten uns vorher unterschiedlich gut und einige kannten sich kaum, dennoch sind wir Verbündete im Widerstand und wollten einander den Rücken stärken. Um uns wachzukämpfen aus blockierenden Gefühlen von Ohnmacht, Stress und Erschöpfung, war es wichtig, unsere Körper einzubeziehen. Denn wir haben von einem feministischen Kollektiv aus Lateinamerika2 gelernt, dass Welatparêzî nicht nur bedeutet, Mutter Natur und unsere Heimaten und Kulturen vom kapitalistischen, rassistischen Patriarchat zu befreien. Es bedeutet für uns auch, unsere Körperterritorien zu befreien, zu verteidigen und sie zu Orten des Widerstandes zu machen. Mit befreitem Willen und befreiten Körpern schaffen wir auch befreite Kultur und befreienden Widerstand. Wir befreien unsere Körperterritorien von den herabwürdigenden Zuschreibungen, die durch unsere Gefühle in unsere Nervensysteme gelangen, sich dort zu Stresspunkten kristallisieren und freies Denken und Bewegen blockieren. Emanzipation hat für uns also auch viel mit Heilung von der Unterdrückung zu tun und deshalb braucht es für Heilung widerständige Gemeinschaft, die der Unterdrückung etwas entgegensetzen kann und in der wir starke Persönlichkeiten entwickeln können. Unsere Erfahrung hat gezeigt, dass wir in Deutschland zu sehr vereinzeltem, politischem Arbeiten tendieren. Dabei entgeht uns oft dieses stärkende Moment, das wir erleben, wenn wir in die entschlossenen Augen unserer Mitstreiter*innen sehen. Außerdem ist individuelle Heilung nicht losgelöst von kollektiver Heilung und der Heilung der Natur, da sie in Wechselwirkung zueinander stehen. Ganz im Zeichen der Jineolojî mit der Vision von Hevjiyana Azad (dem befreiten, gemeinschaftlichen Leben), bauen wir also unsere Beziehungen zueinander auf und fragten uns im Speziellen: Wie können wir unser Selbst und unser kollektives Bewusstsein heilen und so auch aus transgenerationalen Traumata herauskommen, die sich in den Gesellschaften festgesetzt haben? Wie schaffen wir also, die ständige Reproduktion des Patriarchats in die nächste Generation zu durchbrechen? Wie können wir uns gegen patriarchale Unterdrückung auf mentaler Ebene zur Wehr setzen und kollektive Selbstverteidigungsstrategien und Widerstandsformen entwickeln? Wie überwinden wir die gezogenen Gräben zwischeneinander und zwischen Mensch und Natur, um kollektiv handeln zu können?

Die Zapatistas sagen zu der Art und Weise, wie sie arbeiten, dass sie ein kollektives Herz schaffen, aus welchem das kollektive Wort und die kollektive Tat entspringt.3 Wir finden es wichtig herauszufinden, welche Methoden dabei unterstützen können, dieses kollektive Herz zu schaffen. Das bedeutet auch, daran zu denken, wie das individuelle Herz im kollektiven Widerstand Heilung erfahren kann, sodass das eigene Herz freier wird, um sich mit den anderen Herzen verbinden zu können.

Wir haben, abgesehen von Tekmil (Kritik und Selbstkritik der kurdischen Freiheitsbewegung), also auch weitere Methoden für Persönlichkeitsentwicklung praktiziert, indem wir einander verschiedene Methoden kollektiver Heilungsarbeit beigebracht haben. Dazu gehörten Körperübungen zu Trauma, Selbstausdruck und Widerstand, Reisen durch Landschaften des Unterbewusstseins, Conciousness-Raising (feministische Austauschpraktik) und Schreibübungen über das Aufwachsen in patriarchalen Familien, Visionieren, poetisches Schreiben, Rituale zum Loslassen von Altem und Gebären von Neuem und natürlich Tanzen.

Gleichfalls haben wir, wie schon erwähnt, zu den matriarchalen Wurzeln der Weihnachts- und Neujahrsrituale geforscht und tragen hier ein paar unserer Funde zusammen.

Hinweise auf vorchristliche bis hin zu matriarchalen Kulturelementen in Weihnachts- und Neujahrsbräuchen

Heute wird uns nur die Geschichte von der Vorbereitung und Vorfreude auf die Geburt von Jesus Christi erzählt, dem männlichen Erlöser. Doch die Traditionen der Weihnacht gehen teils bis in die Jungsteinzeit zurück als auch in Europa noch matriarchales Gesellschaftsleben vorherrschte.4 Wir haben uns in diesen kurzen Tagen und langen Nächten Wissen, Bräuche und Rituale angeeignet, die weitaus älter als das christliche Weihnachtsfest sind und in denen wir emanzipatorisches Potenzial gefunden haben.

Der Adventskranz und das vierblättrige Kleeblatt

»Alle bekannten Symbole dieser Jahreszeit stammen aus heidnischen [vorchristlichen] Zeiten: Der Lebensbaum [im germanischen Mythos Yggdrasil] wurde unser Weihnachtsbaum ... Jul bedeutet ›das Rad‹.«5 In Nordeuropa heißt das Weihnachtsfest auch Jul-Fest und der grüne Adventskranz steht ursprünglich für dieses Rad des Lebens, den Kreislauf des Jahres und die Wiedergeburt von neuem Leben. Die vier roten Kerzen (früher Äpfel) symbolisieren zum einen die vier Himmelsrichtungen, vier Naturelemente, vier Jahreszeiten und zum anderen das Blut, das zusammen mit dem brennenden Licht die Verbindung vom Irdischen zum Heiligen darstellt.

Das Symbol des Rades und die vier (manchmal acht) Richtungen finden wir in Funden der alten Kulturen des heutigen europäischen Raums ebenso wie in anderen Weltregionen. Es ist stark davon auszugehen, dass dieses Symbol eine tiefe Bedeutung für die Menschen hatte, da die matrizentrischen Gesellschaften spirituell (»sacral«) waren und sind.6 Das Medizinrad der Lakota und anderer indigener Communities aus Nordamerika leitet jedenfalls seit tausenden von Jahren Philosophie und Heilungspraktiken für das innere und äußere Gleichgewicht der Einzelnen und der Gemeinschaft an. Es steht für das Zyklische im Leben und für Ganzheitlichkeit (physisch, intellektuell, emotional, spirituell).7 Das Thema des Gleichgewichts und der Verbundenheit zwischen Polen wird darin sichtbar z. B. zwischen Menschen, zwischen Individuum und Gesellschaft, Mensch und Natur, Erde und Kosmos, Ruhe und Aktivität, Innen und Außen. Für Heilung und Ausgewogenheit sind die sozialen und weiteren Verbindungen grundlegend, denn alles ist verbunden. Geht es der Gemeinschaft gut, so geht es den Individuen gut und andersherum. Dasselbe Prinzip gilt für das Mensch-Natur-Verhältnis. Balance wird in matriarchalen Weltanschauungen als elementar für ein gutes Leben in individueller und kollektiver Gesundheit erachtet.8 Balance wird auch durch zyklische Rhythmen hergestellt, z. B. bei den Jahreszeiten. Frau Holle bzw. Perchta, die als matriarchale Göttin der Jungsteinzeit angenommen wird,9 verkörpert diese vier Jahreszeiten, das Werden und Vergehen. Ein Überbleibsel des Symbols des Lebensrades oder Jahreskreises mit den vier Richtungen findet sich im vierblättrigen Kleeblatt als Glücksbringer des Neujahrsfestes.

Der Mistelzweig

Den Brauch, zur Adventszeit einen Mistelzweig aufzuhängen, ist sicherlich auch einigen noch bekannt. Dies geht einerseits zurück auf die Symbolik des Lebensbaums. Dafür wurden früher Zweige oder kleine Bäume im Haus aufgehangen. Heute ist daraus der Weihnachtsbaum geworden. Weiterhin ist die Mistelpflanze ein gutes Herzmittel und wird mit Liebe assoziiert. Heutzutage ist es Tradition, dass Pärchen sich unter der Mistel küssen sollen. Für uns ist Liebe jedoch mehr als Pärchenromantik. Liebe ist die Kraft, die unsere Kämpfe antreibt; die Liebe zum Leben, das es zu verteidigen gilt und die Liebe zueinander, die unser Widerstandsnetz webt. Ché Guevarra sagte schon »Ein wahrer Revolutionär wird von großen Gefühlen der Liebe geleitet« und auch unsere Freund*innen der kurdischen Freiheitsbewegung brachten uns Liebe zu unseren Genoss*innen und zur Gesellschaft näher. Wir denken, dass sie einen wichtigen Punkt damit getroffen haben. Denn welche Menschen werden mit uns zusammen die Welt verändern, wenn sie von uns nur Misstrauen, Verurteilung und Arroganz wahrnehmen? Widersprüche aushalten ist hier ein Schlüssel der Bewegung, den es hier definitiv braucht. Wir sind nun überzeugt, dass eine wirklich demokratische Gesellschaft viel mit Liebe zu tun hat.

Die Wilde Jagd der Holla

Damit die Tage wieder länger werden und die Sonne zurückkehrt aus der Unterwelt, wurde der Sage nach eine »Wilde Jagd« durchgeführt. Mit dieser Jagd wird nicht getötet, sondern ein Kreislauf wieder neu in Gang gebracht. Die Jagd verfolgt den Hirsch, der die Sonne durch die Unterwelt getragen und damit die langen Nächte verursacht hat.10 Die Muttergöttin Percht (südliche Regionen) bzw. die Muttergöttin Holla (in nördlichen Regionen, auch Frau Holle) führt die Jagd an. Die Wilde Jagd treibt den Sonnenhirsch dann aus der Unterwelt zurück in den Himmel – je wilder, umso fruchtbarer wird das kommende Jahr. Der alte, kraftvolle Mythos, der auf einer tief integrierten Verbindung zur Unterwelt basiert, geriet zunehmend in Vergessenheit. Ebenso wurde auch die Bedeutung von Stillstand, Rückzug, Dunkelheit und Kälte für die Keimung, das Gebären von neuem Leben, Gleichgewicht, Heilung, Aktivität und Kreativität vergessen.

Die Anführerin der Wilden Jagd gebietet, dass in den Tagen der Rauhnächte jede Arbeit ruhen soll, »um Zeit und Raum zu öffnen für das Spinnen und Weben von Geschichten, Visionen und anderen Gedankenspielereien. [...] Welche Zeit wäre besser geeignet, Märchen zu erzählen, als diese zwölf Nächte, in denen die Grenze zwischen unserer und der mystischen Welt durchlässig ist?«11 Mit den Geschichten und Märchen wird auch das Wissen für ein gutes Leben genährt und die Hoffnung allen Widrigkeiten zum Trotz ein gut umsorgtes, glückliches Leben führen zu können und sich angesichts widriger Lebensverhältnisse, Kriegen, Krankheiten und Leid behaupten zu können. Die Wilde Jagd beglückt mit Fruchtbarkeit und Geschenken: Die Fruchtbarkeit der Erde, die uns nährt, das neugeborene Leben, aber auch Ideen, Gedanken, Forschungen, Geschichten, Haltungen, kreative Projekte und Aktivitäten, die keimen oder geboren werden. Das Vertrauen darin, dass Wärme, Wachstum, Ernten (Nahrung) zurückkehren und die Gewissheit, dass das Frühjahr naht, sind mit den Göttinnen verbunden, die das Licht zurückbringen und eine neue Welt gebären. Die lebensbringende Göttin Holle und ihre Jagd wurde übrigens in der späteren, patriarchalen Version zum kindermordenden Spukgespenst degradiert und Huldigung an die Göttin wurden von den Christen verboten. Noch später wurde aus der Geschichte der »Böse Jäger«, der alles und jede*n ermordet, die in dieser Zeit vor die Tür gehen.

Interessant ist außerdem, dass wir einige Parallelen zwischen den Mythen der Göttinnen feststellen konnten, die mit dieser Zeit zwischen den Jahren assoziiert werden. Sowohl Lucina, deren Tag einst der 21. Dezember war, als auch Ischtar/Innana, welcher der 25. Dezember gewidmet ist, werden »Morgenstern« genannt und sind Licht- und Fruchtbarkeitsgöttinnen. Ebenso wie die Göttin Venus, welche sogar noch astronomisch dem Morgenstern ihren Namen gibt. Eine der drei Schicksalsweberinnen aus den slawischen Mythen wird ebenso Morgenstern genannt. Morgenstern ist später auch der Name für Luzifer = »Lichtbringer«, dem christlichen Teufel. Die Fruchtbarkeitsgöttin Lucina wurde erst christianisiert zur heiligen Lucia und dann wurde aus ihr die blutige Luz. Möglicherweise sehen wir in diesen ähnlichen Namensgebungen und den Entwicklungen der Mythen Hinweise auf den Prozess der Verteufelung von matriarchaler Kultur. Der Morgenstern ist in der Weihnachtsgeschichte noch vorhanden, nur nicht mehr als Muttergöttin, sondern als Wegweiser zum Stall, in dem Jesus geboren wurde.

Dass viele dieser Göttinnenmythen und ihre Entwicklungen sich weltweit ähneln, finden wir jedenfalls sehr spannend. Auch zwischen Inanna (Mesopotamien) und Frau Holle gibt es viele Parallelen: Beide sind Fruchtbarkeitsgöttinnen und Überbringerinnen von Fähigkeiten und Werkzeugen an die Gesellschaft wie z. B. Ackerbau, Spinnen und Weben oder Holzbearbeitungswerkzeuge. Beide gehen sie in ihrem Mythos in die Unterwelt, um danach neues Leben zu bringen. Damit symbolisieren beide die Einheit von Vergehen und Werden.

Heilige Nacht – Mutter-Nacht

In dieser Phase des Stillstandes am Jahresende liegen die Rauhnächte und das Weihnachtsfest. Dieses war einst das Fest der Geburt und »[d]ie großen Göttinnen aus aller Welt gebaren wie in einem einzigen, orchestrierten göttlichen Akt eine neue Welt.«12 Dass in der Zeit der Ruhe neues Leben entsteht, ist auch ganz nach der Philosophie der Balance, denn »in der Ruhe liegt die Kraft« so wie im Yin das Yang enthalten ist.
In der vorchristlichen Zeit nannte mensch den 24. Dezember auch »Mutter-Nacht« (angelsächsisch: Mōdraniht), eine heilige, geweihte Nacht – Weihnacht. Es waren »geheimnisvolle Mütter, vor denen alle Welt Ehrfurcht empfand«. »Diese Tage sind voller Zauber, denn die Mütter haben sich dem Leben neu verpflichtet. Die Jugend ist voller Erregung, denn nach der Nacht der Mütter ist sie an der Reihe.«14 Die christliche Erzählung der Weihnachtsgeschichte ist erst später über die alte, bestehende Tradition gelegt worden. Maria, die sehr reduzierte Form der gebärenden Mutter, bekommt in den Worten der christianisierten Geschichte nur noch wenig Bedeutung.

Germanischer Ursprung des Neujahr-Schweins

Die Wintersonnenwende am 21. Dezember, wenn die Nacht am längsten und der Tag am kürzesten ist, ist in einigen Regionen der Tag der heiligen Lucia15, welche auf die Göttin Lucina zurückgeht. Diese ist eine Lichtgöttin, und sie bringt die Zuversicht auf das wiederkehrende Leben. Das Tageslicht wird von nun an langsam aber stetig länger. Der 21. Dezember bezeichnet auch den Winteranfang. Mit der längsten Nacht, am 21. Dezember, und den folgenden kurzen, kalten Wintertagen kommt das Leben zur Ruhe. Das Lebensrad ist zum Stillstand gekommen bevor es zum Jahresende wieder neu angestoßen wird. Die Kraft, um das Rad erneut in Bewegung zu setzen, kommt dem germanischen Mythos nach von Freyas Eber mit den goldenen Borsten, dem Gullinborsti. Wildschweine waren für die waldbewohnenden Menschen – Mitteleuropa war dicht bewaldet – ein wichtiges Lebewesen. Diese Symbolik ist im Glücksschweinchen zum Neujahr erhalten geblieben.

Der Schornsteinfeger

Ein weiteres Überbleibsel alter Bräuche ist die Symbolik des Schornsteinfegers als Glücksbringer zu Neujahr. Dies geht zurück auf den Brauch, vor Neubeginn des Jahres alles zu (be-)reinigen, denn sonst könnten sich schlechte Energien in dem Schmutz verstecken. Dies war auf verschiedenen Ebenen gemeint: das Haus wurde geputzt, Streitigkeiten geklärt, Schulden beglichen. Das Räuchern war ein Reinigungsritual, um Räume energetisch zu reinigen und zu weihen. Die Kirche eignete sich dann später an, »Weihrauch« zu benutzen. Manche sagen, dass die Rauhnächte einmal Rauchnächte hießen wegen dem Räucherritual. Was auch noch von der Idee des Reinigens oder Klärens zum Neujahr kommt, ist das Feuerwerk, denn ursprünglich ging es in der germanischen Tradition darum, Lärm zu machen, um böse Geister zu vertreiben.

Was sich für uns aus diesem Aspekt ableiten lässt, ist die Wichtigkeit des regelmäßigen Klärens z. B. auf der zwischenmenschlichen Ebene: Das Aufeinandertreffen von Persönlichkeiten, die von der Freiheitssuche, aber auch noch von Herrschaftsverhältnissen durchzogen sind, wird zwangsläufig zu Problemen führen. Doch um daran nicht zu zerbrechen, bedarf es Klärung, um an unserer Verschiedenheit und an unseren Fehlern zu wachsen. Wir können uns schwelende und spaltende Konflikte oder destruktive Gruppendynamiken nicht leisten angesichts der Lage in dieser Welt. Kritik und Selbstkritik sowie andere Methoden der Persönlichkeitsentwicklung konfrontieren uns mit unseren inneren »bösen Geistern«, die es durch militante Haltung zu vertreiben gilt.

Sternsingen und Segensspruch

Mit dem dreifach gezeichneten Symbol x x x oder auch zusammen mit den drei Kürzeln C x M x B wurden in den Rauh­nächten Häuser gesegnet. Die Zeichen wurden auf einen Balken der Häuser geschrieben. Die Buchstaben C, M und B standen einmal für die Namen von den drei heiligen Nothelferinnen Catharina, Margareta und Barbara, die wiederum vermutlich auf die Bethen zurückgehen. Die Bethen war einer von vielen Namen für die Heilige Dreifaltigkeit der Muttergöttin.

»Die drei Bethen werden meist als gütige Frauen beschrieben, die durch die Lande ziehen, weisen Rat erteilen, Gaben schenken und mit denen man auch über das Schicksal reden oder verhandeln kann.«16 Das weibliche Prinzip der Göttinnen-Trinität galt als Quelle für Licht, Fruchtbarkeit, Heilung, Geborgenheit, Wissen, Weisheit, Schutz, Warmherzigkeit, Leben/Tod/Wiedergeburt, Liebe, Freude und Glück17.

Die christliche Kirche machte aus der alten, matriarchalen Tradition ihren eigenen Segensspruch, indem das X zu einem Kreuz gedreht und die Bedeutung verändert wurde. »Christus segne dieses Haus« lautet auf Lateinisch »Christus mansionem benedicat«, so dass C, M und B als Abkürzung dieser Worte gedeutet werden (ab ca. 8. od. 9. Jh. n. Chr.). Seit mehreren Jahrhunderten gehen am 6. Januar die christlichen »Sternsinger«, verkleidet als die drei Könige aus Asien, Europa und Afrika (oft auch »die Weisen aus dem Morgenland«) – Caspar, Melchior und Balthasar – von Haus zu Haus (der Gemeindemitglieder) und schreiben den Segen C + M + B, eingerahmt von der Jahreszahl, oben an die Türbalken. Der Bezug auf matriarchale Göttinnen bzw. später auf die christlichen, heiligen (Jung-)Frauen als Nothelferinnen wird christlich-patriarchal überlagert.

Ausblick

Dies ist ein Plädoyer für mehr Gemeinschaftlichkeit und Persönlichkeitsentwicklung in widerständigen Kontexten, um unsere Organisierung zu stärken. Um Inspiration dafür zu bekommen, finden wir es lohnenswert, den Blick auch in Richtung der matriarchalen Kulturen zu richten. Diese haben es immerhin für etwa 99 % der Menschheitsgeschichte18 geschafft, Gesellschaften sehr viel egalitärer, basisdemokratischer und nachhaltiger zu gestalten als wir es kennen. In Mythen haben ihre Werte teils überlebt und können uns Hinweise geben. Auch noch lebende matriarchale Communities haben vieles in ihren Traditionen bewahren können. Von der kurdischen Freiheitsbewegung haben wir gelernt, nach den emanzipativen Kräften in unserer eigenen Gesellschaft, Kultur und Geschichte zu suchen, um daran anzuknüpfen. Wir wurden zurecht dafür kritisiert, als linksradikale Kräfte in Europa und besonders in Deutschland oft eine generelle und undifferenzierte Ablehnung gegen alles Heimische entwickelt zu haben. Dabei vergessen wir nämlich oft, dass es auch in unserer Kultur emanzipative Kräfte gab und gibt, die das Herrschaftssystem seit jeher bekämpft.

Beim gemeinsamen Ausgraben unserer in Vergessenheit geratenen Kulturen gibt es jedenfalls noch viel zu entdecken. Wir gehen gestärkt fürs Jahr aus den gemeinsamen Rauhnächten hervor und wünschen auch allen anderen ein kraftvolles weiteres Widerstandsjahr, in dem wir mehr darüber verstehen lernen, was es heißt ein kollektives Herz zu schaffen um daraus kollektive Taten zu schaffen.

Fußnoten:

1 - Bspw. Andrea Wolf Institut für Jineolojî: Den dominanten Mann töten und verändern, S. 31–33, https://jineoloji.org/de/2021/07/06/broschuere-den-dominanten-mann-toeten-und-veraendern/

2 - Zine zu Körperterritorien: https://territorioyfeminismos.org/methodologias/

3 - Kolektivo Alakrxn, 2021: In ihrer eigenen Sprache – Bats´i K´op Zapatista.

4 - Heide Göttner-Abendroth, 2019: Geschichte matriarchaler Gesellschaften und Entstehung des Patriarchats, Band III: Westasien und Europa.

5 - Zsuzanna E. Budapest, 1996: Das magische Jahr, S. 281.

6 - Marija Gimbutas, 1996 (Original in Englisch 1991): Die Zivilisation der Göttin. Die Welt des Alten Europa.

7 - https://www.nlm.nih.gov/nativevoices/exhibition/healing-ways/medicine-ways/medicine-wheel.html

8 - Gudrun Frank-Wissmann, Uschi Madeisky, 2004: Gesellschaft in Balance, Dokumentation des Weltkongresses für Matriarchatsforschung 2003 in Luxemburg.

9 - Stefan Forbert, Karl Kollmann, 2012: Frau Holle und das Meißnerland. Einem Mythos auf der Spur; Heide Göttner-Abendroth, 2022: Die großen Göttinnenmythen Mitteleuropas und der Alpen neu erzählt; Heide Göttner-Abendroth, 2005: Die großen Göttinnenmythen des keltischen Raumes.

10 - Isabella Farkasch, 2020: Rauh Nächte.

11 - Ebd., S. 10.

12 - Zsuzanna E. Budapest, 1996: Das magische Jahr, S. 281.

13 - Ebd., S. 281.

14 - Ebd., S. 281.

15 - Lucia wird in Skandinavien am 13. Dezember gefeiert, doch diese Verschiebung der Wintersonnenwende vom 21.zum 13. Dezember ergab sich aus einem Fehler (von 11 Minuten und 14 Sekunden) des durch Julius Cäsar 45 v. Chr. eingeführten Sonnenkalenders, der erst Ende des 16. Jahrhunderts mit der Einführung des gregorianischen Kalenders korrigiert wurde. Vgl. Farkasch 2020.

16 - Andrea Dechant: Bethen – Keltisch-alpenländische Mutter- und Schicksalsgöttinnen. https://artedea.net/bethen-die-heiligen-drei-madln/.

17 - ebd.

18 - Carel von Schaik, Kai Michel, 2020: Die Wahrheit über Eva.


 Kurdistan Report 220| März/April 2022