Wirtschaft in der demokratischen Moderne:

Kooperieren statt konkurrieren

Interview mit Zinar Agit, einem Internationalisten in Rojava


Revolution und Kooperativen, Gedanken über meine Zeit beim Ökonomie Komitee in Rojava, Herausgegeben von der Internationalistischen Kommune in Rojava in Kooperation mit der Union Coop Föderation in Deutschland. https://internationalistcommune.com/revolution-und-kooperativen-gedanken-uber-meine-zeit-im-wirtschaftskomitee-in-rojava/Zinar Agit war innerhalb der letzten zwei Jahre in mehreren Wirtschaftskomitees der Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien aktiv. Er beschreibt seine Eindrücke und Erfahrungen aus seinem ersten Jahr in der Broschüre »Revolution und Kooperativen1«. In der Broschüre diskutiert er, inwiefern Kooperativen Teil einer revolutionären Strategie und des Aufbaus einer basisdemokratischen, geschlechterbefreiten und ökologischen Gesellschaft sein können.

Wie definieren wir die Begriffe Wirtschaft und Industrie als ökologische, feministische und basisdemokratische Bewegung? Welche Bedeutung bekommen sie in der demokratischen Moderne?

Unter Wirtschaft sollten wir das verstehen, wofür der Begriff tatsächlich steht. Das Wort Ökonomie stammt aus dem Altgriechischen und kann mit Haushaltung übersetzt werden. Es beschreibt also zunächst nichts anderes als die Organisierung des Zusammenlebens in einem Haushalt. Mit anderen Worten, die Befriedigung der Bedürfnisse des Haushaltes. In größerem Rahmen ist das Ziel der Wirtschaft folglich die Befriedigung der Grundbedürfnisse aller Menschen. In der Mainstreamökonomie wird das Grundproblem der Wirtschaft wie folgt erklärt: Die Bedürfnisse des Menschen (oder mit anderen Worten unsere Habgier) seien unendlich, während die Ressourcen auf der Erde endlich seien. Daher ist ihre Antwort, den knappen Ressourcen einen Preis zu geben, um alles gemäß der individuellen Nutzenmaximierung aufzuteilen. Dabei könnten wir das Ganze auch genau andersherum betrachten: Denn während die kapitalistische Profitlogik eine Unendlichkeit an neuen Produkten und Bedürfnissen schafft, sind die tatsächlichen Bedürfnisse der Gesellschaft nicht grenzenlos. Gleichzeitig sollten wir uns die Erde nicht als Ressourcenlager vorstellen, das eines Tages einfach leer gekauft ist. Ressourcen sind in langjährige und komplexe Dynamiken und Kreisläufe eingebunden, in denen sich die Natur von sich aus ständig erneuert. Unsere Antwort sollte daher sein, uns in basisdemokratischen und dezentralen Prozessen darüber klar zu werden, was unsere Bedürfnisse tatsächlich sind und unser Wirtschaften gleichzeitig als Teil ökologischer Kreisläufe zu begreifen und dementsprechend auszurichten. Dafür müssen wir unser Wirtschaften langfristig von der Geld- und Tauschlogik befreien.

In der kapitalistischen Vorstellung von Wirtschaft ist reproduktive Arbeit unsichtbar und wird meistens wie ein selbstverständlicher Service überwiegend von Frauen* geleistet, obwohl gerade diese Arbeit die Grundlage für alles andere ist. Als ökologische, feministische und basisdemokratische Bewegung, bezeichnen wir physische und emotionale Fürsorge für Mitmenschen sowie generelle zwischenmenschliche Beziehungsarbeit eben als das was es ist: Arbeit. Ist es also Wirtschaft, wenn ich eine traurige Freund*in tröste? Instinktiv möchten die meisten vermutlich »nein« sagen, da wir damit das Vordringen der Tausch- und Geldlogik in alle Lebensbereiche tragen. Aber in der demokratischen Moderne hat sich die Wirtschaft von genau dieser Logik befreit. Und da ich durch das Trösten ja offensichtlich ein großes menschliches Bedürfnis befriedige, gehört dies laut unserer Definition zur Grundlage der Wirtschaft. Denn ebenso offensichtlich sind Bedürfnisse natürlich nicht nur materieller Natur. Wo ist dann die Grenze von Wirtschaft? Ist jede Interaktion in der Gesellschaft Wirtschaft? Es ist vermutlich nicht zielführend, den Begriff zu weitläufig zu definieren, um ihn nicht zu einem schwammigen »alles und nichts« werden zu lassen. Aber eines ist klar: Wirtschaft ist mit allen Bereichen des Lebens verbunden. Darum ist Wirtschaft auch einer der Grundbausteine der Jineolojî (was neben »Wissenschaft der Frau« eben auch als »Wissenschaft des Lebens« übersetzt und praktiziert wird).

Für den Aufbau einer kommunalen Wirtschaft müssen wir auch die ursprüngliche Bedeutung der Industrie erkennen und vom Industrialismus abgrenzen. Wenn wir in der westlichen Welt über den Ursprung der Industrie nachdenken, ist die erste Assoziation oft die industrielle Revolution im 18. und 19. Jahrhundert, die dem kapitalistischen System zum Aufschwung verholfen hat und zu massiver Umweltzerstörung führte. In der kurdischen Freiheitsbewegung betrachten wir allerdings die Nutzung der ersten einfachen Werkzeuge vor Tausenden von Jahren als den Beginn der Industrie. Industrialismus dagegen steht für die ideologische Nutzung der Industrie im Sinne von Ausbeutung (von Mensch und Natur) mit dem Ziel der Kapitalanhäufung. Das geht gleichzeitig einher mit gesellschaftlichem Wandel. Das Aussterben des Dorflebens und die Entfremdung von der Natur müssen wir beispielsweise als soziale Folgen des Industrialismus verstehen. Der Begriff Industrie ist heutzutage eng verbunden mit Technologie. Beides muss so eingesetzt werden, dass es der Wirtschaft nutzt. Wenn ich das so sage, klingt das nach einem Zitat von Christian Lindner, aber wenn wir daran denken, wie wir Wirtschaft definieren, bedeutet es einfach, dass industrielle Produktion und technologische Entwicklung in der demokratischen Moderne an den Bedürfnissen der Gesellschaft orientiert sein müssen. Wenn das in den letzten 200 Jahren der Fall gewesen wäre, würden wir heute sicherlich nicht vor dem ökologischen Kollaps stehen.

Auf welchen Werten beruht die kommunale Wirtschaft in der demokratischen Moderne?

Als fundamentale Werte der kommunalen Wirtschaft gelten das Teilen und das gemeinsame Arbeiten. Darum spreche ich auch gerne von hevaborî (hev- ist eine kurdische Vorsilbe für »miteinander, gegenseitig, gemeinsam« und aborî bedeutet Wirtschaft. Das ist übrigens die gleiche Vorsilbe wie auch im Wort heval – Freund*in, Genoss*in). Die Wirtschaft der demokratischen Moderne basiert zudem auf Werten wie Wissen, Organisation, Anstrengung, ein klares Ziel, Liebe, Selbstverteidigung und Willensstärke. Die Grundlage, um diese Ziele überhaupt erreichen zu können, ist allerdings das kommunale Leben als gemeinsames Ziel. Wir müssen uns fragen: Wie und wofür arbeiten und leben wir?

Dabei müssen wir uns darüber klar sein, dass eine Gesellschaft, die sich von herkömmlichen ökonomischen Klassen befreit hat, nicht automatisch eine befreite Gesellschaft ist. Um die Wirtschaft der demokratischen Moderne aufzubauen, müssen wir also nicht einfach den »Kapitalismus abschaffen«, sondern jegliche Form von Herrschaft und Unterdrückung überwinden. Denn der Kapitalismus ist nur das jüngste Gesicht der letzten paar hundert Jahre in einer Geschichte von circa 6.000 Jahren zentralistischer Zivilisation. Ganz am Anfang stand die Entstehung von Hierarchie, die in der Unsicherheit und Angst der Unterdrücker ihren Ursprung hat. Murray Bookchin beschreibt, dass die daraus folgende Mentalität der gewaltsamen Unterdrückung von Menschen untereinander (Mann vs. Frau, alt vs. jung) den Weg für die Unterdrückung der Natur geebnet hat. Diese Entwicklung wurde auch durch die aufkommende Frage der Kontrolle über die ersten primitiven Kapitalakkumulationen im Zuge der Sesshaftigkeit der vorher nomadisch lebenden Menschen ermöglicht (in deren Alltag es auch vorher sicherlich immer Gewalt gegeben hat, aber nicht in systematischer Weise in Form von Dominanz und Unterdrückung). Diese systematische Gewalt wurde nach und nach immer weiter durch Kriege, Herrschaft und die Entwicklung der ersten Staaten gefestigt und ausgebaut. Seit Jahrtausenden sind Patriarchat und Ausbeutung von Mensch und Natur also eng miteinander verzahnt und treten meist gemeinsam auf. Daher kann unsere Antwort nur sein, das zugrundeliegende hierarchische Denken in allen Lebensbereichen zu bekämpfen. Wenn wir das nicht schaffen, also beispielsweise Unterdrückungsmechanismen des Patriarchats in uns und unserem Umfeld nicht ernsthaft bekämpfen, brauchen wir nicht von Revolution zu sprechen und begehen die gleichen Fehler wie beispielsweise der Realsozialismus. Des Weiteren ist Wirtschaft heute das Sinnbild der positivistischen Wissenschaft schlechthin, die darauf basiert, das individualistische Leben und dessen zwischenmenschliche Beziehungen zu berechnen und unterbewusst nach rationalen Kosten-Nutzen-Abwägungen zu bewerten. Das ist eng verbunden mit patriarchalen Denkmustern, die besonders in der männlich sozialisierten Gesellschaft tief verwurzelt sind. Das steht dem Aufbau unserer Wirtschaft im Weg. Wir brauchen eine holistische Sichtweise auf Wirtschaft, welche die Fürsorge der Gesellschaft, also die Befriedigung der Bedürfnisse, als Grundlage unseres gemeinsamen Lebens nimmt.

Eine wichtige Charaktereigenschaft einer kommunalen Wirtschaft und aus ökologischer Sicht unabdingbar ist es außerdem, einen ausgeprägten Selbstversorgungsgrad zu erreichen. Wir wollen dadurch eine Unabhängigkeit von Nationalstaaten und globalen Marktkräften erreichen, aber gleichzeitig intensive und zusammenhängende Beziehungen zu anderen Gemeinschaften in der Region und weltweit pflegen und dabei auf Augenhöhe kooperieren. Durch die Verfügbarkeit von Millionen von Waren durch einen Klick im Internet sind wir nicht nur als Produzierende, sondern auch als Konsumgesellschaft extrem entfremdet von dem Produkt. Wir sehen nur den monetären Wert und nicht die Mühe und Ressourcen, welche für dieses Produkt aufgebracht wurden. Durch das Wiederaufleben von regionalem Handwerk und der ökologischen Nutzung von bestehender Industrie kann beispielsweise eine Wertschätzung für den Produktionsprozess gestärkt werden. Aufbauend auf dem Konzept »Solidarische Landwirtschaft« kann eine regionale und kommunale Lebensmittelproduktion das Gespür für Natur und Ernährung stärken, die Landwirtschaft aus den Zwängen des globalen Marktes befreien und eine nachhaltige Landbewirtschaftung möglich machen. Die Entfremdung der Gesellschaft von der Landwirtschaft ist einer der größten Brüche zwischen Mensch und Natur und eine direkte Auswirkung des Industrialismus.

Was sind Kooperativen und welche Rolle spielen sie beim Aufbau der befreiten Gesellschaft?

Kooperativen sind das Herzstück der kommunalen Wirtschaft und im besten Fall auch ein Werkzeug, um diese zu erkämpfen. Eine Kooperative ist eine Gruppe von Menschen, die in organisierter Form Bedürfnisse befriedigt. Wie der Name beschreibt, passiert das durch zwischenmenschliche Kooperation an Stelle von kapitalistischer Konkurrenz. Entscheidend ist dabei, dass jegliche materielle und immaterielle Produktionsmittel in den Händen der dort arbeitenden Menschen – also vergesellschaftet – sind. Klar ist: Radikale Kooperativen sind tatsächlich auch der Inbegriff von Vergesellschaftung als Alternative zu kapitalistischer Privatisierung und zentralistischer Verstaatlichung. Aber auf dem Weg zu einer kommunalen Wirtschaft kommt es besonders auch auf die immateriellen Werte der Vergesellschaftung (das Entstehen von kooperativer Gemeinschaft) an, wie gerade beschrieben. Ein weiteres Kernmerkmal einer Kooperative ist, dass alle Mitglieder an den Entscheidungen, die sie betreffen, teilhaben. Das sind zwei Grundkriterien, die so auch schon in der europäischen Genossenschaftsbewegung seit Robert Owen und vielen anderen existieren. Da diese Kriterien die Entwicklung jener oben beschriebenen immateriellen Werte zwar begünstigt aber nicht garantiert, muss die Praxis konsequent nach den Werten der Frauenbefreiung, Ökologie, Basisdemokratie und Selbstverteidigung ausgerichtet sein. Besonders in dem schwierigen Umfeld der kapitalistischen Moderne muss es eine Kooperative schaffen, diese Werte im Alltag tatsächlich zu leben, um so eine realistische und spürbare Keimzelle für das Neue zu sein. Auf grundlegender Ebene hat die kommunale Wirtschaft der demokratischen Moderne das gleiche Endziel wie jegliche revolutionäre Wirtschaftstheorie von Anarchismus bis Kommunismus: »Von jeder* gemäß ihren Möglichkeiten, für jede* gemäß ihren Bedürfnisse.«

Welche Schwierigkeiten haben Kooperativen in der kapitalistischen Moderne?

Im Wirtschaftskomitee hier in Rojava benutzten wir den Slogan »Bê komîn koperatîf nabe, bê koperatîf komîn nabe«, was soviel heißt wie: Eine wahre Kooperative kann nicht ohne Kommune und eine wahre Kommune kann wiederum nicht ohne die Kooperative bestehen. Dies beschreibt den Fakt, dass eine Wirtschaft basierend auf Kooperativen Hand in Hand geht mit einem basisdemokratischen Rätesystem, das auf Kommunen aufbaut. Ohne dieses Umfeld, von dem wir in der kapitalistischen Moderne sehr weit entfernt sind, befindet sich eine Kooperative im ständigen Überlebenskampf. Die Kooperative ist dann vergleichbar mit einem Fisch ohne Wasser, der aus seinem natürlichen Lebensumfeld gerissen wurde.

Die kapitalistische Moderne hat je nach Region sehr unterschiedliche Ausprägungen und Facetten. Eigeninitiative ist nicht nur die Voraussetzung für funktionierende Kooperativen, sondern das Ziel von gesellschaftlicher Revolution generell. Die Staatsmentalität der kapitalistischen Moderne steht der Eigeninitiative der Gesellschaft entgegen. Staatsmentalität hat für mich beim genaueren Hinsehen z. B. mehrere Ebenen, die sicherlich überall vertreten, aber nicht überall gleich stark ausgeprägt sind. Der Aspekt der Obrigkeitsgläubigkeit und das daraus resultierende Unterwerfen großer Teile der Gesellschaft gegenüber Autoritäten ist meiner Einschätzung nach z. B. hier im Mittleren Osten durch den Einfluss von zentralistischem Islam und Feudalismus recht groß. Gleichzeitig erlebt die Gesellschaft hier seit Jahrzehnten hautnah mit, dass bestehende Nationalstaaten über Nacht zusammenbrechen können. Daher ist es eher die Erfahrung, dass Alternativen jenseits vom Staat möglich sind. Darüber hinaus ist es hier oft eine materielle Notwendigkeit, das Leben selbst in die Hand zu nehmen. Im Zentrum der kapitalistischen Moderne dagegen scheint es gerade in den Generationen, die ohne größere Umwälzungen in scheinbarer Stabilität aufgewachsen sind, unvorstellbar, dass es jemals eine andere Gesellschaftsform als den Nationalstaat sowie eine kapitalistische Marktwirtschaft gegeben hat, gibt und geben wird.

Es haben sich vor uns schon viele mit den Schwierigkeiten der Kooperative im kapitalistischen Umfeld in Praxis und Theorie auseinandergesetzt. Rosa Luxemburg z. B. hat schon vor mehr als hundert Jahren vor der Falle gewarnt, dass Kooperativen im Zentrum der kapitalistischen Moderne häufig entweder zu Marginalisierung und Selbstausbeutung tendieren oder früher oder später Kompromisse mit der Logik des Systems eingehen, um in ihm bestehen zu können. Ein Teil der Herausforderung in der heutigen westeuropäischen Realität ist auch der Kampf um Zeit: Wir müssen Zeit zurückgewinnen. Klar, wir befinden uns ohnehin in einem Kampf gegen die Zeit, da jedes Jahr viele weitere Landstriche weltweit unbewohnbar werden und durch Artensterben etc. unumkehrbarer Schaden angerichtet wird. Außerdem sind rechte bis faschistische Gruppen in vielen Teilen der Welt, nicht zuletzt in Deutschland, einer linken Alternative, was Organisierungsgrad und Ernsthaftigkeit angeht, weit voraus. Der Kampf um Zeit ist aber nicht nur ein Wettlauf gegen Klimakrise und Aufrüstung von reaktionären Kräften. In erster Linie ist es der Kampf darum, unsere eigene Lebenszeit im Alltag zurückzugewinnen. Unser großes Problem ist es, dass wir durch die Zwänge und Reize im System oft gar nicht die Kraft und Zeit haben, Kooperativen auf ein solches ideologisches Level zu bringen, dass wir eine direkte Bedrohung für die Profite der Industrie sowie für den Einfluss der Staatsmacht auf uns darstellen könnten. Wenn wir den Mut und die Entschlossenheit aufbringen, bewusst neue Wege außerhalb des gesteckten Rahmens des Liberalismus zu gehen, und dabei nicht in kultureller Selbstisolation linker Szenen verbleiben, wird daraus große Strahlkraft und konkrete Hoffnung entstehen, dass ein anderes Wirtschaften möglich ist.

Was raubt uns also unsere Zeit, um konkrete Alternativen aufzubauen und zu leben?

Ganz vorne mit dabei ist der in uns tief verankerte Einfluss des Liberalismus, die Ideologie des Kapitalismus. Das führt besonders bei der jungen Generation, in deren Händen die Zukunft liegt, entweder zu einem individualistischen Fokus auf Karriere an der Universität oder im Beruf (in der von der weißen Mittelklasse geprägten Linken besonders bedingt durch unterbewusste Verlustängste) oder zu ausgeprägtem Hedonismus mit Hang zu postmodernem Nihilismus. Ganze Bewegungen werden bewusst und unterbewusst liberalisiert und so in weniger radikale und systembedrohende Bahnen geleitet. Gerade die ökologischen und feministischen Kämpfe, die den Nerv der Zeit treffen und das Ausbeutungssystem von Grund auf in Frage stellen, sind daher solchen Angriffen der Vereinnahmung ausgesetzt mit dem Ziel, ihr revolutionäres Potenzial ins Leere laufen zu lassen und das bestehende System lediglich zu reformieren. Beispielsweise sehen wir, wie in den letzten Jahren kapitalistische Großkonzerne, die Wissenschaft und die Politik ihre öffentliche Sprache gendern ohne aber patriarchale Denkmuster greifbar zu machen, um sie nachhaltig überwinden zu können. Wir sind in den Institutionen des Systems, angefangen mit Schulen und Universitäten, sowie durch den ständigen Einfluss von Medien, einem großen mentalen Spezialkrieg ausgesetzt. Das Problem ist, dass wir uns damit gar nicht richtig auseinandersetzen. Und wie wollen wir einen Krieg gewinnen, den wir gar nicht als solchen wahrnehmen? Wir müssen als linke Bewegung kollektive Antworten finden, um uns vor den negativen Einflüssen, die uns tagtäglich umgeben, zu schützen.

Die kapitalistische Moderne ist nicht der natürliche Lebensraum von Kooperativen. Doch wie können sie schon jetzt Teil einer revolutionären Bewegung hier im Herzen der kapitalistischen Moderne sein?

Kooperativen werden im Herzen der kapitalistischen Moderne nicht in wenigen Jahren eine autarke Wirtschaftsversorgung aufbauen können. Gerade in der jetzigen Phase können sie daher besonders als Orte der Bildung und Organisierung durch kollektive Selbstermächtigung funktionieren. Zum Beispiel, um den Einflüssen des Spezialkrieges der kapitalistischen Mentalität, der zu Vereinzelung, Individualismus und diversen Unterdrückungsmechanismen führt, im Kollektiv etwas entgegen zu setzen. Bildung und Selbstbildung ist die beste Verteidigung der eigenen Werte. Darüber hinaus kann eine Kooperative im Zusammenhang mit politischer Bildung auch ein guter Ort für praktische Bildung sein, um beispielsweise das Wissen über ökologische, regenerative (im Kreislauf denkende) Landwirtschaft zu verbreiten und in der Praxis zu vertiefen.

Aufstände entstehen spontan und impulsiv, sind aber nur Höhepunkte in jahrzehntelangen revolutionären Prozessen. Wir müssen für kommende Möglichkeitsfenster für Umbrüche mental und strukturell vorbereitet sein, um in die Lage zu kommen, sie nutzen zu können. Der Aufbau von vernetzten Kooperativen kann dabei einen wichtigen Beitrag leisten. Es geht auch darum, Strukturen zu schaffen, die radikale Lebensentwürfe außerhalb des Systems und der linken Szene logistisch ermöglichen. Ein weiterer Zweck weshalb Kooperativen im Zentrum der kapitalistischen Moderne – trotz aller Gefahren und Widersprüche – Teil einer revolutionären Strategie sein können, ist es also, praktische Erfahrungen zu sammeln und ein neues Bewusstsein aufzubauen. Auch hier in Rojava sehen wir, dass ohne jahrzehntelangen Aufbau von Alternativen im Untergrund die Revolution gar nicht möglich gewesen wäre. Gleichzeitig wäre eine vorherige tiefere Erfahrung in der Praxis von Kooperativen heute von großem Nutzen, da wir hier jetzt vieles ganz neu ausprobieren müssen. Die Kooperative kann die Synthese des dialektischen Zusammenspiels von Materialismus und Idealismus sein. Aus der Einsicht heraus, dass Institutionen einerseits ohne die entsprechende Mentalität leere Hülsen bleiben müssen und wir andererseits nicht auf eine vollkommene Bewusstseinsveränderung warten können, bis wir den ersten Stein setzen, bietet sich die Kooperative als Ort an, an dem sich das Materielle und das Ideelle tagtäglich gegenseitig stärken und so die Kooperative hin zu einer wahren Alternative entwickeln.

Letztendlich ist es gerade im Zentrum der kapitalistischen Moderne wichtig, dass Kooperativen sich eben als Teil einer revolutionären Bewegung verstehen. Das heißt, solch ein Projekt kann nicht nur die isolierte Lebensverwirklichung einer befreundeten Gruppe sein. Wir müssen uns immer wieder fragen: Wofür machen wir es? Bezogen auf landwirtschaftliche Kooperativen beispielsweise sind Naturverbundenheit, Landleben und Lebensgemeinschaft natürlich wichtige Motive, um eine Kooperative aufzubauen. Aber solange der revolutionäre Wandel der Gesellschaft nicht die Priorität und Perspektive der Mitglieder ist, wird die Kooperative in der Praxis auch wenig dazu beitragen. Das ist natürlich nur in gemeinschaftlicher, organisierter Form möglich. Wir müssen uns alle fragen: Wie leben wir? Wofür leben wir? Und wo fangen wir an? Das ist die Basis für alle, die ernsthaft gegen die kapitalistische Moderne ankämpfen und die Wirtschaft der demokratischen Moderne aufbauen wollen.

Fußnote:

1 - Revolution und Kooperativen, Gedanken über meine Zeit beim Ökonomie Komitee in Rojava, Herausgegeben von der Internationalistischen Kommune in Rojava in Kooperation mit der Union Coop Föderation in Deutschland. https://internationalistcommune.com/revolution-und-kooperativen-gedanken-uber-meine-zeit-im-wirtschaftskomitee-in-rojava/


 Kurdistan Report 219 | Januar/Februar 2022