Krieg und Patriarchat:

Der weibliche Körper ist ein Kriegsschauplatz

Franziska Schulz, Cenî – Kurdisches Frauenbüro für Frieden


Egal ob in Afghanistan, Äthiopien, Mexiko, im Mittelmeer, in Kurdistan oder an vielen anderen Orten dieser Welt – das System, in dem wir leben, führt Krieg. Jeden Tag erleben Menschen Gewalt, werden ermordet, verlieren ihr Zuhause oder müssen fliehen. Dass sich all diese Merkmale von Krieg auf eine besondere Art und Weise auf Frauen auswirken, ist vielen bekannt. Es gibt zahlreiche Studien, die sich beispielsweise damit beschäftigen, wie sich Gewalt gegen Frauen in Kriegen erhöht, wie sich ihre ökonomische Situation verschlechtert oder wie Mädchen der Zugang zu Bildung erschwert wird. Oftmals bleibt es dabei jedoch bei einzelnen, voneinander unabhängigen Fallstudien. Der systematische Zusammenhang von Krieg und Patriarchat bleibt, wenn überhaupt, meist im Hintergrund oder findet keinerlei Beachtung. In diesem Artikel soll ein Versuch unternommen werden, sich mit einer der vielen Facetten der Verschränkung von Krieg und Patriarchat zu beschäftigen: Der weibliche Körper als systematischer Kriegsschauplatz.

Definitionen von Patriarchat und Krieg

Wer sich mit dem Zusammenhang von Krieg und Patriarchat beschäftigt, kommt nicht darum herum, diese Begriffe zu definieren. Die Liste an Definitionen ist dabei endlos, die folgenden zwei stellen somit nur eine Auswahl dar.

In der Broschüre »Den dominanten Mann töten und verändern«1 vom Andrea-Wolf-Institut der Jineolojî-Akademie wird Patriarchat wie folgt beschrieben: »Patriarchat wird gemeinhin als ›Herrschaft der Männer‹ verstanden. Die Realität ist ein viel komplexeres und weit verbreitetes System von Herrschaft, Beziehungen und Denken. Das Patriarchat basiert auf einer unterdrückerischen Hierarchie, die Männer über Frauen, Natur und Gesellschaft stellt, was sich auf alle auswirkt.« Darüber hinaus ist das Patriarchat »ein System der Herrschaft, das allen Unterdrückungssystemen zugrunde liegt«.

Krieg ist eines der Instrumente, derer sich das Patriarchat bedient, um diese Herrschaftsverhältnisse aufrechtzuerhalten. Besê Hozat, Ko-Vorsitzende der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK), fasste die Definition von Krieg wie folgt zusammen: »Kriege sind die dominante männliche Erfindung. Der Herrscher hat seine Macht durch Kriege gestärkt und aufrechterhalten. Der Staat ist die Verkörperung der von Männern dominierten Macht. Krieg ist die Nahrung, die diesen Körper am Leben erhält. Während diese Nahrung die Hauptlebensquelle für den dominanten Mann ist, ist sie ein tödliches Gift für Frauen, Gesellschaft und Natur.« Die Erscheinungsformen von Krieg sind vielfältig. Es gibt Kriege zwischen Staaten oder Bürgerkriege. Es gibt ideologische Kriege. Es gibt Genozide, Soziozide (Krieg gegen die Gesellschaft) und Ökozide (Krieg gegen die Natur). Und es gibt Feminizide – die höchste Form der Verschränkung von Krieg und Patriarchat. Wenn im Folgenden von Krieg gesprochen wird, sind damit »klassische« Kriege gemeint, die mit Waffen auf einem definierten Gebiet geführt werden. Das bedeutet nicht, dass nicht auch ideologische Kriege, Ökozide, oder Soziozide besondere Folgen für Frauen haben. Auch auf diese einzugehen, würde jedoch den Rahmen des Artikels sprengen und soll Inhalt eines weiteren Textes sein.

Feminizide und die zentrale Rolle der Eroberung des weiblichen Körpers im Krieg

Eine grundlegende Gemeinsamkeit, die alle Formen von Krieg teilen, ist die besondere Betroffenheit von Frauen, die sich auf unterschiedlichen Ebenen zeigt und auswirkt. Ihre extremste Form ist der Feminizid. Dabei ist es falsch, den Feminizid auf die physische Ebene, nämlich die gezielte Ermordung von Frauen, zu reduzieren. Es geht darüber hinaus um eine systematische Kriegsführung gegen Frauen und alle weiteren unterdrückten Geschlechter. Diese physische und psychische Gewalt findet auf allen Ebenen statt und zieht sich durch alle Lebensbereiche. Das Ziel ist es, Frauen jegliche Lebensgrundlage zu entziehen und ihnen ihre Selbstbestimmung zu nehmen. Generell müssen wir Krieg im Gesamtkontext immer als eine Eroberung begreifen, bei der die Eroberung weiblicher Körper eine zentrale Rolle spielt. Die Unterwerfung, Vergewaltigung und Ermordung von Frauen ist zentraler Bestandteil der Eroberung eines Landes bzw. einer Gesellschaft.

Der Genozid und Feminizid an den Êzîd:innen im Şengal 2014 hat diesen Zusammenhang auf brutalste Art und Weise offen gelegt. Während tausende êzîdische Männer unmittelbar vom sogenannten »Islamischen Staat« (IS/Daesh) ermordet wurden, wurden Frauen zu großen Teilen vergewaltigt, versklavt und verkauft. Das zentrale Ziel von Daesh war vor allem eines: Bilder, Geschichten und Erinnerungen zu erschaffen, um den Êzîd:innen und der ganzen Welt zu zeigen: »Wir sind dazu in der Lage, eure Frauen zu unterwerfen, also sind wir auch in der Lage, euer Land zu unterwerfen.«

Daesh ist dabei kein Einzelfall. Auch der türkische Staat führt einen gezielten Feminizid in Kurdistan durch, um durch die Unterdrückung und Ermordung von Frauen die gesamte Gesellschaft zu unterdrücken. Dabei greift er gezielt die Frauenrevolution in Kurdistan und Frauen, die sich darin organisieren, an. Die Ermordung von Sakine Cansız, Leyla Şöylemez und Fidan Doğan 2013 in Paris, von Hevrîn Xelef (Hevrin Khalaf) 2019 in Rojava, von Zehra Berkel, Hebûn Mele Xelîl und Emîne Waysî 2020 in Kobanê oder die Verschleppung und Verurteilung von Çiçek Kobanê sind nur einige von zahlreichen Momenten, die stellvertretend für diesen Feminizid stehen. Auch die aktuelle Situation von Frauen in den besetzten Gebieten in Nord- und Ostsyrien, ihre tägliche Verschleppung, Vergewaltigung und Ermordung sind Teil der gleichen Eroberungsstrategie. Die Revolution in Rojava, die auch als Frauenrevolution bekannt ist, oder die Organisierung von Frauen sind eine Art der Selbstverteidigung vor Krieg und Feminizid. Sie sind Teil des Aufbaus einer gesellschaftlichen Alternative zu Patriarchat, Nationalstaat und Kapitalismus, die auf der Grundlage von Frauen- und Geschlechterbefreiung basiert. Da diese Selbstverteidigung von Frauen gegen den Feminizid ein Hindernis für die Kriegsstrategie des türkischen Staates ist, wird sie gezielt angegriffen und bekämpft.

Doch die feminizidiale Kriegsstrategie ist nicht auf Kurdi­stan beschränkt. Wir können sie auch an vielen anderen Orten beobachten. Einer dieser Orte, an dem ein Feminizid droht, ist Afghanistan. Auch hier verschärft sich die Lage für Frauen zunehmend. Die Ermordung der Frauenrechtsaktivistin Frozan Safi in Nordafghanistan Anfang November 2021 sollte ein Warnsignal an alle Frauen weltweit sein. Denn der weibliche Körper ist ein Kriegsschauplatz. An ihm zeigt sich der Zustand einer Gesellschaft.

Wenn wir uns heute überlegen, welche Bilder in Europa stellvertretend für die Herrschaft von Daesh standen, kommen uns neben grausamen Enthauptungsvideos vor allem Geschichten von Frauen in den Kopf, wie sie sich gegen ihren Willen verschleiern mussten, wie sie in Käfigen gefangen verkauft wurden, wie sie als Sexsklavinnen von islamistischen Kämpfern missbraucht und vergewaltigt wurden. Ähnliches gilt auch für den Sieg gegen Daesh: Das Bild der Frau, die ihre schwarze Burka abstreift und frei auf einem Auto stehend durch die Straßen fahren kann, stand stellvertretend für die Befreiung der Menschen vor der islamistischen Terrorherrschaft. Auch hier war ihre Sichtbarkeit zentral.

Krieg als Zuspitzung der patriarchalen Unterdrückung

Es ist falsch die Instrumentalisierung von Frauen und ihrer Körper allein bei islamistischen Terrorgruppen und -regimen zu suchen. Auch westliche und imperialistische Mächte machen sich diese Methoden zu eigen – oftmals um Kriege öffentlich zu legitimieren. So wird der angebliche Kampf für die Befreiung von Frauen aus einer diktatorischen, oftmals islamistischen Herrschaft nicht selten als Teil des Einsatzes für Demokratie und Menschenrechte und damit als legitimer Kriegsgrund herangeführt. Doch es ist ein Widerspruch in sich, imperialistische Kriege zu führen, um Frauen zu befreien. Denn Frauen sind über ihre besondere gesellschaftliche Rolle auch als marginalisierte Gruppe generell besonders von Krieg betroffen. Sie sind als Hauptträgerinnen der Reproduktionsarbeit für die alleinige Sicherung des Lebensunterhalts der Familien zuständig, was durch die Zerstörung von Lebensgrundlagen im Krieg zusätzlich erschwert wird. Sie nehmen in Kriegen oft die Rolle einer Handlangerin, Stütze und Pflegerin der kämpfenden Männer ein und sollen in Kriegszeiten in besonderem Maße für die psychische und physische Unterstützung der Männer dienen. Und sie werden – und darauf sind wir bereits eingegangen – als Kriegsbeute missbraucht, zwangsverheiratet, entführt und ermordet. All das sind Formen der Unterdrückung, von welcher Frauen im patriarchalen Herrschaftssystem weltweit generell betroffen sind. Es wäre daher wichtig darüber zu diskutieren, ob wir in einem patriarchalen System überhaupt von Frieden sprechen können oder ob es sich nicht viel mehr um einen dauerhaften Kriegszustand gegenüber Frauen handelt. Im Zusammenhang dieses Artikels, in dem wir den Begriff des Kriegs anders nutzen, ist es jedoch vor allem wichtig zu sehen, dass sich die patriarchalen Zustände und damit die Unterdrückung von Frauen in Kriegen enorm verschärfen.

Kriege, egal von wem, werden also niemals für Frieden, Demokratie oder Frauenrechte geführt. Stattdessen sind sie, wie Besê Hozat schreibt, eine »dominante männliche Erfindung«, die dazu dient, die von Männern dominierte Macht aufrechtzuerhalten und zu stärken.

Feministisch und antimilitaristisch gegen Krieg und Patriarchat

Was bedeutet das nun für Menschen, die sich in Europa gegen Krieg und für Frieden einsetzen? Zunächst müssen wir uns bewusst machen und verinnerlichen, dass patriarchale Herrschaftsverhältnisse niemals durch patriarchale Herrschaftsinstrumente wie Krieg oder auch Staaten überwunden werden. Die Kraft und Stärke für Frieden und Freiheit liegt allein in der Gesellschaft und darin vor allem bei Frauen. Wir sind es, die durch den Kampf für unsere Freiheit Kriege beenden und Gesellschaften befreien können. Unsere Organisierung ist dabei die beste Art der Selbstverteidigung.

Dass Krieg in Europa beginnt, ist bekannt. Denn hier werden zentrale politische Entscheidungen getroffen, um Kriege zu ermöglichen und voranzutreiben. Hier werden die Waffen und die Technologien hergestellt, um Menschen zu ermorden und Feminizide durchzuführen. Hier sitzen die wirtschaftlichen Akteure, die vom Leid der Frauen an anderen Orten der Welt profitieren. Wenn wir uns also als Feminist:innen verstehen, die sich in Solidarität mit Frauen auf der ganzen Welt organisieren wollen, sollte der Widerstand gegen Krieg und der Einsatz für Frieden wieder ein wichtiger und zentraler Bezugspunkt in unserem politischen Kampf werden. Denn der Kampf gegen Krieg muss ein feministischer und der Kampf gegen das Patriarchat ein antimilitaristischer sein.

Fußnote:

1 - https://jineoloji.org/de/wp-content/uploads/2021/07/Den-dominanten-Mann-toeten-und-veraendern.pdf


 Kurdistan Report 219 | Januar/Februar 2022