Ein Rückblick in die erste 1982 erschienene Ausgabe des Kurdistan Reports

40 Jahre Kurdistan Report

Redaktion


»Warum erscheint der Kurdistan Report?« Mit dieser Frage wurde im November 1982 die jetzt vierzigjährige Geschichte des Kurdistan Reports eingeleitet und auch gleich im ersten Absatz von der damaligen Redaktion beantwortet. »Der Kurdistan Report erscheint, um das Kurdistan-Problem, welches seit Hunderten von Jahren nicht gelöst [ist] und als solches eine Region wie dem Mittleren Osten mit all seinen Konflikten, der europäischen Öffentlichkeit nahezubringen.«

In den vergangenen 40 Jahren ist der kurdische Freiheitskampf durch viele Höhen und Tiefen gegangen und der Kurdistan Report hat stets versucht, diese Entwicklungen seinen Leserinnen und Lesern nahezubringen. Er berichtete über den Widerstand der Gefangenen von 1982 bis heute in den Gefängnissen, den vielen Hungerstreiks für ein würdevolles Leben, er berichtete von großen Aufbrüchen wie dem Beginn des bewaffneten Kampfes und von den Aufständen, den Serhildans, der Bevölkerung, den Newrozfeiern, die mit den Jahren Millionen Menschen mobilisierten und auch aus Europa Menschen nach Kurdistan brachten. Der Kurdistan Report brachte auch die Schwere des Kampfes an die Öffentlichkeit, z. B. das internationale Komplott, das in der Verschleppung Abdullah Öcalans in die Isolation auf die Gefängnisinsel İmralı endete, oder die Morde in Paris an den drei revolutionären Freundinnen Sara, Rojbîn und Ronahî. Es gäbe viele weitere Ereignisse, die den Freiheitskampf, der nun international große Beachtung gefunden hat, aufzuzeigen, aber das würde den Rahmen hier sprengen. Doch wer Interesse hat, und durch die Geschichte des Kurdistan Reports gehen will, kann dies im Internet tun. Dort sind viele Ausgaben im Archiv zu finden (https://www.kurdistan-report.de).

Erste Ausgabe des Kurdistan Reports im November 1982Viele Flugblätter und Artikel der kurdischen Freiheitsbewegung begannen mit der Überschrift »An die Demokratische Öffentlichkeit Europas«, so auch der erste Artikel der ersten Ausgabe des Kurdistan Reports im November 1982, den wir für unsere Leserinnen und Leser hier auf dennächsten beiden Seiten noch einmal veröffentlichen:

Seit Hunderten von Jahren lebt das kurdische Volk unter Fremdherrschaft. Kurdistan ist heute aufgeteilt zwischen Türken, Persern und Arabern, in diesen Staaten wird das Streben nach »Unabhängigkeit« gewaltsam unterdrückt. Wie andere Völker will das kurdische Volk sein Recht auf Unabhängigkeit und Freiheit erkämpfen.

Gegen das Grundrecht unseres Volkes über sich selbst zu bestimmen und zu verwalten gehen die türkischen Kolonialisten mit unmenschlichen und brutalen Maßnahmen vor. Der Widerstand, um die Sklavenketten zu zerreißen, erfordert einen langen, harten und ständigen Kampf.

Wenn jemand als Sklave geboren wird, wird ihm kein normaler Mensch die Schuld geben und ihn deshalb verachten. Aber wenn ein Sklave nicht für seine Freiheit kämpft, bekommt er, statt Sympathie und Unterstützung, die Verachtung der Menschheit zu spüren. Heute gewinnt der Kampf des kurdischen Volkes gegen den türkischen, faschistischen und kolonialistischen Staat die Unterstützung und Sympathie der Welt. Der Kampf des kurdischen Volkes ist ein Teil des weltweiten Kampfes für die Abschaffung des Kolonialismus und Rassismus.

In Kurdistan ist aus diesem Kampf gegen die koloniale türkischen Unterdrücker die PKK (Arbeiterpartei Kurdistan) hervorgegangen. Sie hat auf die speziellen Bedingungen Kurdistans entsprechende erfolgreiche Kampfformen entwickelt. Sie hat sich in den letzten Jahren zur bedeutendsten Widerstandsorganisation entwickelt!

Die PKK hat gegen die mit türkischen Kolonialisten verbündeten Großgrundbesitzer und Faschisten einen erfolgreichen Kampf geführt. Als dieses Bündnis immer mehr an Macht verlor, verübten sie grausame Massaker an der Zivilbevölkerung (z. B. wurden in der kurdischen Stadt Maraş in einer Woche etwa 1000 Kurden ermordet.) Ihre Absicht war, ein Vorwand für das Ausrufen des Kriegsrechts und dem damit verbundenen Eingreifen des Militärs zu schaffen, Innerhalb kürzester Zeit wurde in fast allen Provinzen Kurdistans und in den großen türkischen Städten das Kriegsrecht ausgerufen. Tausende wurden verhaftet, oft ohne jedes Beweismaterial, selbst Kinder, Frauen und alte Leute. Um Aussagen und Geständnisse zu erzwingen, wurden die Verhafteten in der Regel schwer gefoltert (Siehe nachstehende Berichte).

Ein breitgefächertes Spitzel- und Denunziantennetz wurde von den Herrschenden aufgebaut, um den weiter anhaltenden Widerstand zu brechen.

Der türkische Staat hat seine wichtigen Armeetruppen nach Kurdistan verlegt. In der folgenden Zeit gab es große umfangreiche militärische Aktivitäten mit dem Ziel, die Führer dieses Widerstands zu verhaften bzw. zu ermorden. Nachdem der türkische Staat sein Ziel nicht ganz erreicht hat, haben sie ihre offiziellen Kräfte, Agenten, Gruppen und Organisationen genutzt. Trotz der Konflikte, die kurdische Feudalherren (Großgrundbesitzer) haben, haben sie sich mit den türkischen Staat vereinigt. Alle sollten gegen PKK in einer Front ihre Angriffe durchführen.
Einer der stärksten bewaffneten Großgrundbesitzer M. Celal Bucak hat alle seine bewaffneten Räuberbanden dem türkischen Staat zur Verfügung gestellt. Dann hat er als Belohnung einen Abgeordnetenpreis erhalten. Die Räuberbanden dieses belohnten Verräters haben die Menschen und Dörfer verbrannt und Hunderte wurden entweder erschossen oder zu Tode gefoltert.

Die Operationen und Massenmorde gegen die kurdische und türkische Bevölkerung zeigen, daß die Quelle des Terrors der türkische Staat selbst ist. Der Terror ist nicht ausschließlich durch die Militärjunta gekommen, sondern das kurdische Volk hat ihn schon oft in seiner Geschichte erlebt.

Nach dem 12. September 1980 hat der türkische Staat eine neue Form angewandt. Die faschistischen Generäle haben die Macht übernommen. Alle demokratischen Organisationen sind verboten worden. Die Verfassung wurde für ungültig erklärt. Das Parlament wurde aufgelöst. Außer der Gewerkschaft Türk-is wurden alle fortschrittlichen Gewerkschaften verboten und auch ein paar Organisationen von Türk-is selbst.

Aufgrund der politischen und ökonomischen Krisen und der anhaltenden Kämpfe waren die staatlichen Institutionen nicht mehr in der Lage, die Macht aufrecht zu erhalten. Außer der Armee blieb nichts erhalten, Der türkische Staat mußte mit seiner letzten Institution brutal durchgreifen und den Eindruck von Stärke vermitteln. Die unmenschlichen Maßnahmen und Operationen gegen türkische und kurdische Völker und andere nationale Minderheiten zeigen sein wahres Gesicht. Sie denken, daß sie lange an der Macht bleiben, wenn sie hart durchgreifen. Aber später wird auch diese letzte Institution in die Krise gehen. Schon desertieren die demokratischen Soldaten vom Militärdienst. Die Offiziere im Militär, die aus Bauern- und Arbeiterfamilien kommen, reagieren auf Anordnung mit zivilem Ungehorsam. Im Laufe der Zeit wird diese Verweigerung in Widerstand Umschlagen. Davor fürchtet sich das Militär, Heute hat der türkische Staat 2/3 seiner Armee in Türkisch-Kurdistan stationiert, denn sie wissen, wo die Gefahr am größten ist. Früher wurden ein paar Dörfer, heute werden ganze Provinzen und Städte in großangelegten Operationen durchsucht.

Die Menschen werden in der Dorfmitte versammelt und tagelang gefoltert, unter der glühenden Sonne oder im Winter bei Schnee festgehalten. Die Männer und die Frauen werden nackt geschlagen und müssen Militärübungen machen.

Unter der Kampagne »Respekt für Atatürk, Verbundenheit mit dem Staat« wird von ihnen Geld gesammelt Die Höhe des zwangsweise gespendeten Geldes bestimmt die Dauer der Folterungen mit, d. h. diejenigen, die kein Geld bezahlen können, müssen lange Folter erleiden und kommen ins Gefängnis. Die anhaltenden Folterungen haben eine schreckliche Dimension erreicht, sie führen zur Passivität und brechen den Widerstand der Gefangenen, selbst wenn sie später wieder freigelassen werden.

Aber andererseits lügen die Generäle und sagen, daß es angeblich keine Folter gibt. Die Polizisten oder die Offiziere, die folterten, sollen bestraft worden sein. Doch die Weltöffentlichkeit glaubt diese Lügen und demagogischen Äußerungen der türkischen Regierung nicht mehr.
Heute wird die gesamte Presse in der Türkei zensiert. Die fortschrittlichen und demokratischen Zeitungen und Zeitschriften sind ganz verboten. Wer mit verbotenen Sachen erwischt wird, landet im Gefängnis. Selbst die von dem türkischen Sozialdemokraten Bülent Ecevit herausgegebene Zeitschrift »Arayis« wurde verboten. Dies verdeutlicht das Ausmaß der Zensur.

In den Zeitungen und Zeitschriften. die heute noch veröffentlicht werden, kann man keine Wahrheit mehr entdecken. Die heutige Presse berichtet nur, wenn Persönlichkeiten gefoltert und getötet wurden. So wurde z. B. über den Todesfall von Ilhan Erdost, dessen Bruder Muzaffer Erdost Besitzer eines großen Verlages und selbst Schriftsteller ist, in der Presse berichtet. Aber wenn ein Lehrer, Arbeiter oder Student getötet wird, liest man in den Zeitungen nichts.

Heute kann man nicht beweisen, daß gefoltert wird, denn es gibt keine Beweismittel und keine Zeugen. Wenn ein Arzt in einem Attest die Wahrheit bescheinigt, wird er für wenigstens 90 Tage verhaftet und muß Folterungen erleiden. Unter diesen Risiken und aus Angst wird die Wahrheit verschwiegen. Wie in Anatolien ein Sprichwort sagt, ‹›Die Schlange, die mich nicht angreift, soll tausend Jahre leben«.

Der türkische Staat hat in den 58 Jahren seiner Geschichte in Kurdistan Terror, Massaker und Völkermord ausgeübt. In der Vergangenheit wurden Hunderttausende getötet und Millionen wurden mit Zwang aus ihrer Heimat umgesiedelt. Es wurde immer versucht, diese Verbrechen in der Türkei und vor der Weltöffentlichkeit geheimzuhalten. Deswegen waren damals die Reaktionen im ln- und Ausland gegen sie nur schwach.

Die Gefolterten zeigten ihre Verletzungen den Vertretern der »türkischen Gerechtigkeit«, den Militärrichtern. Und trotzdem wird weiter behauptet, daß es keine Folter gibt. Hieran wird deutlich, daß eine Krähe der anderen kein Auge aushakt.

Gegen diese unmenschlichen Verbrechen Stellung zu nehmen, ist die Aufgabe von Menschenrechten wahrenden und demokratischen Organisationen. Nach dem Massenmord am 21. März 82 im Militärgefängnis Diyarbakir gab es eine große Empörung. Dies macht die Militärjunta unruhig. Wenn wir auf internationaler Ebene solche Arbeit weiter entwickeln und verstärken, wird dadurch auch die Folter und Unterdrückung eingeschränkt. Unterstützung durch demokratische Kräfte und Humanität wird die grausame Bitterkeit der unterdrückten Völker hindern.


 Kurdistan Report 224 | November/Dezember 2022