Editorial

Liebe Leser:innen,

Mitte Juli reiste Erdoğan nach Teheran, um sich mit dem iranischen Präsidenten Raisi und dem russischen Präsidenten Putin zu treffen. Anfang August folgte ein weiteres Treffen Erdoğans mit Putin, diesmal im russischen Sotschi. Bei beiden Treffen war das Thema Syrien ganz oben auf der Tagesordnung, doch beide Male scheint der türkische Präsident ohne grünes Licht für einen erneuten Angriffskrieg in Rojava (Nordsyrien) abgereist zu sein.

Folgenlos blieben die Treffen jedoch nicht, und Grund zur Beruhigung gibt es ebenso wenig. Denn der Drohnenterror und die militärischen Aggressionen des türkischen Staates in Nordsyrien wurden in den letzten Wochen massiv intensiviert. Die Demokratischen Kräfte Syriens sprechen von insgesamt 3763 türkischen Angriffen gegen Rojava, allein seit Anfang des Jahres (Stand 13.8.). Während also alle gespannt darauf zu warten scheinen, ob die Türkei grünes Licht für die angekündigte Invasion erhält, findet bereits seit geraumer Zeit ein Krieg niederer Intensität statt. Die anhaltenden Angriffe des türkischen Staates destabilisieren die Region und schwächen den Kampf gegen den IS. Sie tragen aber auch dazu bei, dass das Baath-Regime sich gegenüber der Selbstverwaltung in Stellung bringen kann. Der Türkei ist das durchaus recht. Denn das einzige Ziel der Syrienpolitik des AKP-Regimes ist die Zerschlagung der Autonomen Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien. In Ankara wird auf Regierungsebene bereits Bereitschaft für eine politische Einigung mit dem lange verteufelten Baath-Regime signalisiert. In den türkisch besetzten Gebieten Nordsyriens ging die Bevölkerung hingegen auf die Straße, um gegen diese Signale Ankaras zu protestieren.

Heftige Proteste gegen den türkischen Staat gab es in den letzten Wochen auch im Irak, nachdem die Türkei bei einem Angriff in Südkurdistan neun arabische Tourist:innen getötet hatte. Binnen kürzester Zeit demonstrierten tausende Menschen vor türkischen Einrichtungen im Irak und verbrannten türkische Fahnen. Forderungen nach einem sofortigen Rückzug der türkischen Armee aus Südkurdistan wurden laut. Dass der Irak aufgrund interner Machtkonflikte kurze Zeit darauf wieder in eine politische Krise stürzte, wurde in Ankara sicherlich mit Wohlwollen aufgenommen, weil man dadurch nicht mehr in der Schusslinie stand.

Und dann war da noch der Besuch der deutschen Außenministerin Baerbock bei ihrem Amtskollegen Çavuşoğlu in der türkischen Hauptstadt. Auf der gemeinsamen Pressekonferenz nach dem Treffen richtete sie deutliche Kritik an den NATO-Bündnispartner, vor allem in Bezug auf die türkischen Kriegsdrohungen gegen Nordsyrien/Rojava. Für ihre Worte fand sie viel Beifall, auch von den Vertreter:innen der HDP, mit denen sie sich am Folgetag traf. Offen bleibt allerdings die Frage, ob und wenn ja, was für Taten auf ihre Worte folgen werden? Dem andauernden türkischen Drohnenterror in Rojava sieht die Bundesregierung nämlich genauso tatenlos zu wie dem Chemiewaffeneinsatz der türkischen Armee in Südkurdistan.

Ob die Bundesregierung eine klare Haltung gegenüber den Verbrechen des türkischen Staates in Kurdistan einnehmen wird, bleibt also zumindest zweifelhaft. Unzweifelhaft hingegen ist, dass neben den Kurd:innen auch immer größere Teile der arabischen Bevölkerung im Mittleren Osten ihren Widerspruch zur türkischen Kriegs- und Expansionspolitik zum Ausdruck bringen. Wenn es uns gelingt, auch von Europa aus, die militärisch-politische Unterstützung für Ankara zu stoppen oder mindestens zu begrenzen, könnten die Tage des AKP-Regimes vielleicht schon bald gezählt sein.

Eure Redaktion


 Kurdistan Report 223 | September/Oktober 2022