Ein Bericht vom Forum zur Frauenrevolution in Nord- und Ostsyrien

»Diese Revolution wird Realität werden, für die Frauen der ganzen Welt«

Andrea Wolf Institut, In Erinnerung an Şehîd Jiyan Tolhildan, Şehîd Roj Xabur und Şehîd Barîn Botan


Am 22. und 23. Juli 2022, zum zehnten Jahrestag der Revolution, fand das Forum zur Frauenrevolution in Qamişlo, Nord- und Ostsyrien statt. Organisiert wurde es von Kongra Star, der Jineolojî-Akademie, den Frauenverteidigungseinheiten (YPJ), der Frauenunion Zenobiya, der Union der Suryoye-Frauen, dem Frauenrat Nord- und Ostsyrien und dem Frauenrat Syrien. Das Forum fand in der Rojava-Universität statt und vor Ort nahmen über 200 Frauen als Delegierte aus Kurdistan, dem Mittleren Osten und der ganzen Welt teil. Es hätten noch mehr sein sollen, jedoch war es Frauen aus einigen Regionen des Mittleren Ostens aufgrund der Visa- und Reisepolitik der Staaten nicht möglich einzureisen. Unzählige Frauen verfolgten die Veranstaltung online.
Wir befinden uns mitten im Krieg, und es bedeutet viel, ein solches Forum zu veranstalten. Es ist ein Moment des Zusammenkommens in höchst angespannten Zeiten, in denen vieles auf dem Spiel steht. Zeiten, in denen es gilt, wachsam zu sein und die Errungenschaften der Revolution auf allen Ebenen zu verteidigen, sie weiterzuentwickeln, zu vertiefen und auszuweiten.
Die Allgegenwärtigkeit des Krieges wurde uns auch während des Forums schmerzlich bewusst. Drei Teilnehmerinnen wurden auf ihrem Rückweg vom faschistischen türkischen Staat gezielt durch einen Drohnenangriff getötet: die YPJ-Kommandantin bzw. Kommandantin der Anti-Terror-Einheiten (YAT) Jiyan Tolhildan, die am ersten Tag auf dem Forum gesprochen hatte, die YPJ-Kommandantin Roj Xabûr und Barîn Botan, ebenfalls Mitglied der YAT. Alle drei fielen bei dem Angriff, und so wurde das Forum nachträglich den drei Freundinnen gewidmet.
Das Forum
Das Forum gab einer beeindruckenden Zusammenkunft von Frauen Raum, die in den verschiedenen Bereichen gesellschaftlicher Organisierung eine wichtige Rolle einnehmen. In jeder einzelnen Frau spiegelten sich die Stärke, Entschlossenheit und die Lebendigkeit dieser Revolution wider. Gleichzeitig wurden die verschiedenen Farben, die jede Frau zum Gelingen der Revolution beiträgt, sichtbar: Viele der anwesenden Frauen haben seit den allerersten Schritten der Revolution große Verantwortung getragen, und dann ist da die neue Generation junger Frauen, die in der Revolution groß geworden sind. In den Pausen diskutierten Frauen in ihren traditionellen Kleidern mit Freundinnen in YPJ-Uniform, mit Müttern, die im Gerechtigkeitssystem aktiv sind, mit Frauen aus lokalen Selbstverwaltungsstrukturen, mit jungen Studentinnen … Es wird nur einmal mehr klar, dass alle Bereiche der Revolution zusammengehören und es einen ganzheitlichen Aufbau und eine ganzheitliche Verteidigung braucht. Das Forum fand zum großen Teil auf Arabisch mit Übersetzung ins Kurdische statt. Das, ebenso wie die Vielfalt an Organisationen, zeigt, dass es sich schon lange nicht mehr allein um eine kurdische Revolution handelt, sondern alle Frauen Nord- und Ostsyriens und darüber hinaus expliziter und selbstverständlicher Teil dessen sind.
Das Forum begann und endete mit der Erinnerung an die Şehîds [dt.: Gefallenen], an all die Frauen, die ihr Leben für die Revolution und für die Verteidigung einer freien Gesellschaft gegeben haben. Ein Video mit Bildern machte die Erinnerungen an sie lebendig. Nach einer einleitenden Rede von Seiten der Frauenorganisation Kongra Stars zur Feier der zehn Jahre Frauenrevolution folgte eine Einordnung der globalen und regionalen politischen Lage im Angesicht globaler Kriegsführung, der wir als Frauen organisiert und solidarisch entgegentreten, um die Frauenrevolution im 21. Jahrhundert voranzubringen. »Als Frauen Mesopotamiens haben wir das Glück, selbst Geschichte zu schreiben«, sagte Foza Yûsifals, Sprecherin der Partei der Demokratischen Einheit (PYD). »Deshalb müssen wir uns auf einen großen Krieg vorbereiten. (…) Wir müssen uns immer die Situation der Frauen in Efrîn, Serêkaniyê und Afghanistan vor Augen führen. Wir sind stark und glauben an uns, wir müssen das 21. Jahrhundert zum Jahrhundert der Freiheit für alle Widerstandskämpferinnen werden lassen. Das 21. Jahrhundert wird das Jahrhundert der Freiheit der Frauen und der Völker sein.«
Die zwei Tage waren gefüllt mit eindrücklichen Redebeiträgen und Workshops. Zu den Themen gehörten die Bewertung von zehn Jahren Frauenrevolution, ideologische und physische Angriffe auf die Errungenschaften der Frauenrevolution und deren Verteidigung. In den Workshops wurden Themen wie die Vorreiterinnenrolle von Frauen in gesellschaftlichen Veränderungsprozessen, Frauenkämpfe im politischen und rechtlichen Bereich, Frauenrechte und die Entwicklung von Frauenökonomie gegen Armutspolitik diskutiert. Weiterhin wurde die Rolle der Frauenrevolution im Kontext Syriens und des Mittleren Ostens erörtert. Den Abschluss bildete eine Diskussion über die Ergebnisse des Forums zum Aufbau von Zukunftsperspektiven.
Über jedes Panel und jeden Workshop ließen sich Seiten schreiben, jedoch wollen wir hier einen besonderen Fokus auf den Beitrag von Şehîd Jiyan Tolhildan legen, den sie im Rahmen des zweiten Panels gehalten hat. In Erinnerung an sie überlassen wir ihr hier das Wort.
Die Rede von Hevala Jiyan Tolhildan:
»Wir grüßen dieses Forum und wir grüßen alle Frauen in Syrien, im Mittleren Osten und auf der ganzen Welt. Wir sprechen allen Şehîds, die für Freiheit und Demokratie gekämpft haben, ihren Müttern, Partner:innen und Kindern unseren Respekt aus. Wir sprechen all unseren Freundinnen und Freunden Respekt aus, die einen Teil ihres Körpers geopfert haben, die in dieser Revolution verwundet worden sind.
Erst vor wenigen Tagen haben wir den zehnten Jahrestag der Revolution vom 19. Juli gefeiert. Euer aller zehnjähriges Arbeiten und Wirken ist in allen Farben, Nationalitäten, Religionen und Kulturen erblüht. Aus diesem Grund gedenken wir ein weiteres Mal aller Şehîds dieser Revolution, und als Kommandantinnen und Kämpferinnen der YPJ verneigen wir uns vor ihnen.
Jede Gesellschaft hat ihre Geschichte, und diese Geschichte ist voller Vorkämpfer:innen und Held:innen. Gesellschaften, insbesondere die kurdische Gesellschaft, die arabische Gesellschaft, die türkische und die iranische Gesellschaft, mit denen wir in dieser Region zusammenleben, hatten historische Vorkämpfer:innen, die heute in Rojava, Kurdistan weiterleben.
Was sich durch die Vorkämpferinnenrolle von Frauen wie Besê, Sara und Zarîfe entwickelt hat, wurde in Rojava durch die Vorreiterinnenschaft von Warşîn, Jînda, Roksan und zuletzt Tolhildan Raman, Sosîn Bîrhat, Şîlan Cûdî fortgesetzt. Sie haben ihr Leben gegeben, um all jene Gesellschaften zu stärken, die heute gegen das hegemoniale System der Unterdrückung, des Staates und des Mannes kämpfen.
Überall in Rojava begannen sich die YPJ Schritt für Schritt zunächst in den eigenen Dörfern und Städten zu organisieren; mit sehr bescheidenen Schritten, mit der Philosophie, die eigene Existenz und Gesellschaft zu verteidigen. Sie gingen von dort aus und stellten sich im gesamten Syrien all den brutalen Söldnern entgegen, die im Namen der islamischen Religion, im Namen der Schaffung eines islamischen Staates zwischen Irak und Damaskus, jede:n ermordeten, der:die ihnen unter die Augen kam. Wir haben die Bilder gesehen. Die Kämpfer:innen haben uns von einer solchen Gewalt, Brutalität und Mentalität befreit. Was haben sie damit für die Gesellschaft erreicht?
Wenn wir heute auf sämtliche Kontinente der Welt schauen, dann sehen wir, dass das System des Nationalstaates den Frauen und Gesellschaften nichts gelassen hat, außer unserer Selbstverteidigung und unserem Kampf. Nur auf diese Weise können freie Individuenund eine freie Gesellschaft entstehen.
Aus diesem Grund gratulieren wir heute von ganzem Herzen allen Frauen, die Teil dieser Revolution sind. Und wir sagen als YPJ: Zehn Jahre liegen hinter uns. Um diesen Tag zu erleben, haben Tausende von Freiheitskämpfer:innen, Frauen und Mütter, mit der Arbeit und Anstrengung ihrer eigenen Hände diese Erde, diese Revolution in eine großartige verwandelt. Es wurden große Opfer dafür gegeben. Wir könnten stundenlang davon erzählen. Jede Familie, jede Mutter und jedes Mädchen – alle sahen sich in der Verantwortung. Wer genug Kraft dazu hatte, griff zur Waffe und stellte sich an die vorderste Front, mit großer Selbstlosigkeit, ohne einen Blick zurück zu werfen, ohne zu unterscheiden: ist jemand arabisch, syrianisch, turkmenisch, assyrisch, syrisch, irakisch, aus dem Mittleren Osten, oder sind es Frauen der ganzen Welt?
Ethik, der Weg der politischen Gesellschaft, ist für uns der einzige Weg. Wir leben dafür, wir kämpfen dafür und wir werden dafür auch sterben. Ohne jemals auch nur eine Minute daran zu zweifeln. Denn der Gedanke und die Philosophie der Demokratischen Nation wurden als ein Geschenk der Freiheit von Abdullah Öcalan formuliert. Ein Samen, der vor 50 Jahren gepflanzt wurde, in Kurdistan, im Mittleren Osten und weltweit.
Heute hat sich in Rojava die Chance aufgetan, dass wir uns vom Faschismus der Nationalstaaten befreien können, dass wir uns von der Kultur des Völkermords, der Vergewaltigungskultur, der Kultur des Kaufens und Verkaufens befreien können.
Wir sagen: Wir sind Frauen, wir existieren; ohne dass jemand sich meines Körpers bemächtigt, meine Sprache an sich reißt, ohne mein Geschlecht als Frau auszulöschen.
Wir haben gesehen, was der IS im Irak und in Syrien gemacht hat. Diese Aktion, die wir heute hier organisieren, ist eine sehr demokratische und natürliche Aktion. Eine solche Möglichkeit hätte es vor zehn Jahren nicht gegeben. Frauen hätten nicht einmal in diesem Maße an Frauen geglaubt und Frauen hätten nicht so einfach mit anderen Frauen zusammen arbeiten oder Aktionen durchführen können. Denn das System der Nationalstaaten hat im Namen des Nationalismus, im Namen der Religion, im Namen anderer Kulturen eine totale Fragmentierung geschaffen. Nicht nur in unseren Gedanken und Seelen, sondern auch in unseren Körpern. Aus diesem Grund entspringt das Bewusstsein der Selbstverteidigung in den Kräften der YPJ ihrer demokratischen, gleichwertigen und natürlichen Kraft. Sie machen keine Unterschiede. Wie gesagt, die YPJ begannen in den eigenen Dörfern und Städten und organisierten sich mit arabischen Frauen, syrianischen Frauen, assyrischen Frauen, chaldäischen Frauen. Sie organisierten sich an den ersten Frontlinien, sie griffen zu den Waffen. Denn ohne organisierte Selbstverteidigung kann die Gesellschaft nicht verteidigt werden. Und besonders Frauen können wir ohne diese nicht verteidigen.
Wir schauen heute auf die Kontinente dieser Welt, auf die Gesellschaft in Europa. Zweifellos hatten sie ihre Held:innen und Vorkämpfer:innen, um die Freiheit zu erreichen, die wir heute als individuelle bezeichnen. Wenn wir uns die Gesellschaften des afrikanischen Kontinents und die Situation der Frauen vergegenwärtigen, sehen wir, sie sind ohne Verteidigung. Sie sind sehr wissend, sie kämpfen und sind nicht mit allem einverstanden, aber sie haben kein System, um alle Frauen des Kontinents zu erreichen. Heute schauen wir auch auf die Frauen im Mittleren Osten, sie sind nicht schlecht aufgestellt. Sie sind Vorreiterinnen in jedem Sinne, aber als es zum Angriff auf ihre Gesellschaften und ihre Körper kam, wurden sie wie Sklavinnen verkauft. Der IS verkaufte und kaufte sehr viele kurdische, arabische, armenische und assyrische Mädchen und Frauen als Gefangene. Dies ist keine Geschichte, die sich vor tausenden von Jahren ereignet hat, sondern innerhalb der letzten zehn Jahre. All das geschah nicht im Verborgenen, sondern vor den Augen der Weltöffentlichkeit. Niemand hat sich dazu geäußert, außer Frauen einiger demokratischer und feministischer Bewegungen, die Aktionen gemacht haben. Das wissen wir zu schätzen – all diejenigen, die auf der Seite der Frauen Nord- und Ostsyriens standen und die YPJ als ihre eigene Armee betrachteten. Und heute in Afghanistan: Wer außer Müttern, Frauen und Mädchen erlebt heute so viel Gewalt in Afghanistan? Das haben Frauen heute in der Sitzung schon angesprochen. Den Schmerz, den sie in ihrer Persönlichkeit erleiden, erleidet die ganze Gesellschaft.
Die Mentalität der Selbstverteidigung ist sehr schwach. Verteidigung ist seit tausenden von Jahren den Männern überlassen worden. Und Männer, das hat man in Şengal personifiziert in der PDK und dem irakischen Staat gesehen, liefen davon, als der IS kam, und ließen Frauen und Gesellschaft zurück, ohne sich umzudrehen. Bevor auch nur ein »Allahu Akbar‹ ihre Ohren erreichte. Fünf Jahre später wurden Raqqa und schließlich Deir ez-Zor vom IS befreit, der jede mögliche Form von Gewalt im Namen der Religion des Islam ausübte. Frauen, die befreit wurden, drückten es in wenigen Worten aus: »Wir haben uns tausende Male den Tod gewünscht. Aber nicht mal das lag in unserer Hand, als wir in den Händen des IS waren.« Wir haben das alles in Bildern, in Videos und Filmen gesehen.
Aber heute sind wir einer noch größeren Gefahr ausgesetzt, weil das Bewusstsein über Selbstverteidigung als Kultur noch nicht in jedem Haus und jeder Gesellschaft angekommen ist.
Sie ist nicht zur Aufgabe jeder Frau geworden. Deshalb können problemlos Pläne hinter verschlossenen Türen geschmiedet werden, auf Landkarten werden Linien gezogen. Und wenn diese Pläne umgesetzt werden, wird die Menschheit nicht gefragt und die Frauen werden erst recht nicht gefragt. Dabei sind es die Frauen, die den größten Schaden davontragen. Ihre Ansichten und ihre Meinungen sind nicht vertreten, aber in der Praxis sind sie es, die gekauft und verkauft, vergewaltigt und ermordet werden. Wir sehen heute, wie schlecht die Situation der Frauen in Wirklichkeit ist, auch in den demokratischsten Staaten.
Ich möchte das nicht nur so in theoretischer Form sagen, sondern ich möchte, dass unsere Mütter selbst aufstehen und hier sprechen. Welche Selbstlosigkeit und Aufopferung sie gelebt haben; mit ihren eigenen Händen, mit tausenden Töchtern dieses Landes haben sie neben jeder Stadt eine weitere Stadt geschaffen. Das ist unsere Überzeugung im Hinblick auf die Verteidigung aller Frauen.
Auf jedem Gefallenenfriedhof dieses Landes ruhen tausende junger Frauen. Und sie ruhen friedlich, weil sie davon überzeugt sind, dass diese Revolution erfolgreich sein wird. Dass dieses System der Demokratischen Nation mit der Kraft der Frauen Wirklichkeit werden wird. Mit dieser Überzeugung und in diesem Glauben sind sie an die Front gegangen. Und unsere Mütter tanzten für uns Govend. Sie haben für die ganze Welt gekämpft. Vor allem für alle Frauen.
Diese Zusammenkunft hier ist allein schon sehr bedeutungsvoll, aber danach wird es unsere erste und wichtigste Aufgabe sein, die Kultur der Selbstverteidigung in allen Häusern zu etablieren. Aufgrund der Kultur der Selbstverteidigung hat die Revolution von Rojava, von Nord- und Ostsyrien, die Aufmerksamkeit der ganzen Welt auf sich gezogen. Internationalistische Frauen sind aus allen Richtungen der Welt über Ozeane und Länder hinweg hergekommen. Sie haben ihren Platz in dieser Revolution eingenommen und sind für sie als Şehîd gefallen. Vielleicht ist ihre Zahl nicht so groß, aber der Geist hat sich verbreitet.
Die YPJ stehen heute vor noch größeren Aufgaben, ihre Verantwortung ist größer geworden, denn die Bedrohung der Revolution durch die Nationalstaaten ist noch ernster geworden. Vom ersten Tag der Revolution an wurde uns gesagt: ›Das wird nach einem Monat vorbei sein. Das wird in einem Jahr vorbei sein, es wird keine Zukunft haben. Die haben keinen Glauben, die sind sowieso Ungläubige.‹ Unter diesem Motto griffen sie uns an und kündigten unser nahes Ende an. Frauenkörper wurden auf Märkten verkauft und einander zum Geschenk gemacht.
Unser Handeln sollte jede Gesellschaft, jede Nation und jede Religion erreichen. Gleichheit, Freiheit, Geschwisterlichkeit entstehen mit der Vorreiterinnenrolle der Frauen.
Weil Frauen in ihrem Wesen weich sind, befürworten sie keinen Krieg. Aber wenn ihre Körper und Gesellschaften angegriffen werden, werden sie als Erste, vor allen anderen, auf höchstem Niveau kämpfen. Sie werden mit jeder Methode, Taktik und Technik kämpfen. Sie werden ihren Kopf nicht senken. Denn das Siegel der Sklaverei und Unterdrückung ist gebrochen. Frauen sind nicht mehr bereit, sich zu unterwerfen. Frauen akzeptieren es nicht mehr, in Unterdrückung zu leben. In Nordkurdistan, Südkurdistan und Rojava, überall auf der Welt werden Frauen gefangen genommen, werden Frauen ermordet. Aber sie geben nicht auf. Sie verteidigen sich mit all ihren Möglichkeiten.
Wir sind daher sehr froh, dass dieses Forum stattfindet, an dem alle Farben und Stimmen der syrischen Gesellschaft beteiligt sind und an dem Frauen des Mittleren Ostens und der ganzen Welt ebenfalls teilnehmen.
Wir erklären gegenüber der ganzen Welt: Wir greifen niemanden an, aber wenn die ganze Welt uns angreift, dann werden wir uns bis zum letzten Atemzug, bis zum letzten Tropfen unseres Blutes verteidigen. Etwas anderes werden wir nicht akzeptieren.
Niemand kann diese Revolution zerstören, solange noch eine Kommandantin oder eine Kämpferin dieser Verteidigungseinheiten existiert. Mit dieser Überzeugung haben Sosîn Bîrhat, Tolhildan Raman, Şîlan Goyî und Sozdar Cûdî bis zum Schluss in vorderster Front für die Verteidigung des freien Individuums und der freien Gesellschaft gekämpft und ihr Leben gegeben.
Damit unsere Mütter und alle Mädchen diese Revolution wirklich leben können, und nicht nur sie, sind wir bereit, gegen alle Angriffe Widerstand zu leisten. Und das sind keine leeren Worte. Als Frauen der YPJ stehen wir in der Schuld der Frauen von Efrîn, Serêkaniyê und Girê Spî. Solange wir diese Regionen nicht befreien, solange wir die Geflüchteten, die Mütter, Mädchen und Frauen nicht zurückbringen können, werden wir Tag und Nacht nicht ruhig schlafen können. Es wird nur eine Aufgabe für uns geben: Wie wir diese Regionen wieder befreien können.
Und wie Mütter und Frauen mit ihren Nachbar:innen in Frieden zusammenleben können. Das wird unsere Aufgabe, unsere Arbeit sein.
In diesem Sinne grüße ich noch einmal dieses Forum.
Und grüße mit Respekt alle Gefallenen dieser Revolution.
Wir gehen auf ihrem Weg.
Wir beglückwünschen erneut die Frauen weltweit, die Frauen des Mittleren Ostens, Syriens, Nord- und Ostsyriens zu diesem Forum.
Als YPJ erneuern wir unsere Überzeugung im Lichte dieses Forums und aller Frauen.
Solange es Angriffe auf die Nation der Frauen gibt,
wird unsere Waffe in unseren Händen sein.
Schritt für Schritt, Front für Front werden wir diese Region befreien.
Das versprechen wir unseren Freund:innen und Feind:innen:
Diese Revolution wird Realität werden, für die Frauen der ganzen Welt.
Vielen Dank.«
Die Abschlusserklärung des Forums
In der Abschlusserklärung des Forums wurde bekräftigt, die Kämpfe für Freiheit zu intensivieren und daran zu arbeiten, die Revolution noch mehr zu einer Revolution aller Frauen zu machen.
Als konkrete Ziele wurden ferner formuliert, die Frauengesetze und -prinzipien in ganz Syrien zu implementieren, sich dafür einzusetzen, dass Frauenrechte auch in der zukünftigen syrischen Verfassung festgeschrieben werden, sowie Allianzen zwischen Frauen in ganz Syrien zu stärken. Die Frauenrevolution ist in erster Linie auch eine Revolution des Bewusstseins, weshalb es besonders notwendig ist, dass das Bewusstsein für den Kampf um Freiheit wächst. Auch die Befreiung der besetzten Gebiete wurde in der Abschlusserklärung erneut aufgegriffen: »Die Befreiung aller Frauen aus Besatzung, Gefangenschaft und Angriffen ist unsere Hauptaufgabe. Mit diesem Ziel werden wir unsere Anstrengungen verstärken. Vor allem um Städte wie Efrîn, al-Bab, Cerablus, Azaz, Idlib, Serêkaniyê und Girê Spî zu befreien, die unter der Besatzung des türkischen Staates und seiner Söldner stehen, müssen wir diese Anstrengungen verdoppeln.« Da insbesondere Frauen Zielscheibe geplanter Morde sind, sollten Frauen selbst auch die Kraft haben, sich zu verteidigen. Nicht eine Frau soll ungeschützt bleiben. Am Ende der Erklärung heißt es: »Wir verurteilen den türkischen Besatzungsstaat mit großer Entschlossenheit. Das Forum über die Frauenrevolution widmen wir den Şehids Jiyan Tolhildan, Roj Xabûr und Barîn Botan. Wir verpflichten uns, den Kampf für die Freiheit der Frauen und unsere Selbstverteidigungskraft zu verstärken.«
»You, sisters, are truly the guiding spirit of the revolution«
Was für uns nach dem Forum bleibt: die Stärke und Entschlossenheit der Frauen; das Bewusstsein über die Wichtigkeit globaler Organisierung; dass wir schon viele gute Schritte gegangen sind, diese jedoch nicht ausreichen und wir uns weiterhin mehr Mühe geben und unsere Anstengungen intensivieren müssen.
Es bleiben die Erinnerung an die starke Rede von Hevala Jiyan Tolhildan und der Angriff des türkischen Staates auf sie, Roj Xabûr und Barîn Botan. Der türkische Staat nimmt gezielt Revolutionärinnen und Revolutionäre ins Visier, die schon lange in der Bewegung sind, viel Erfahrung haben, in der Region verwurzelt sind und deren Perspektiven in der Gesellschaft sehr geschätzt werden. Diese Tat ist also kein Einzelfall, sondern dahinter steckt das System, wichtige Revolutionärinnen und Revolutionäre aus unserer Mitte zu nehmen.
Was ist eine angemessene Antwort auf diese Form der Kriegsführung? Rêber Apo hat mit Gründung der PKK als Antwort auf den Mord an Haki Karer deutlich gemacht, dass wir jedem Angriff gegen uns mit einer starken Antwort begegnen müssen. Mit einer Form von Rache, die die patriarchale Macht- und Kriegslogik selbst aushebelt. Es ist wichtig, angesichts solcher Angriffe nicht ausschließlich in eine Politik von Reaktionen zu verfallen. Denn natürlich ist in uns der Wunsch groß, dem türkischen Staat deutlich zu machen, dass wir zurückschlagen, dass wir uns das keinesfalls gefallen lassen, wenn er unsere Freundinnen und Freunde derartig hinterhältig ermordet. Wichtiger als die bloße Reaktion ist jedoch, dass wir mit Leidenschaft und Entschlossenheit am Aufbau der freien Gesellschaft festhalten. Es ist auch wichtig, uns immer wieder zu fragen, ob die Arbeiten, die wir gerade machen, ob das Leben, das wir führen, wichtig und bedeutungsvoll sind. Wenn wir angesichts solcher Ereignisse merken, dass sie es nicht sind, müssen wir uns neu ausrichten. Wir können die Wut in Stärke und Entschlossenheit umwandeln und aus dem Leben, aus den Worten der Gefallenen lernen. Wenn wir uns der Gefallenen würdig erweisen wollen, müssen wir auch die Rede, die Hevala Jiyan Tolhildan auf dem Forum gehalten hat, ernst nehmen. Das bedeutet: Selbstverteidigung in jedem Haus, in jedem Dorf, in jedem Stadtteil, in jeder Stadt aufzubauen.
Und eben auch in uns selbst, in unserem Bewusstsein und in den Verbindungen zwischen uns. Der Feind will uns entmenschlichen. Und genau das dürfen wir nicht zulassen, sondern müssen stattdessen mit noch größerer Verbundenheit mit unseren Werten und miteinander kämpfen. Wie der Name der Freundin Jiyan Tolhildan ausdrückt: Leben (Jiyan) und Rache (Tolhildan). Sich auf der Grundlage revolutionärer Werte zu organisieren, mit Liebe, Geduld und Radikalität, ist die größte Rache gegen patriarchale Angriffe, Kolonisierung und Unterdrückung.
Über die gefallenen Freundinnen sagen wir, was Debbie Bookchin beim Forum in ihrem Grußwort an die Frauenbewegung sagte: »You, sisters, are truly the guiding spirit of the revolution.«
Wir gehen vorwärts mit dem Wissen, dass sich das, was wir Frauenrevolution nennen, nicht aufhalten lässt. Frauen kämpfen überall, allerorts wird an Alternativen zum kapitalistischen Patriarchat gebaut und unsere Verbindungen werden immer tiefer und zahlreicher. Angesichts der globalen Lage, die von Krisen und Kriegen gezeichnet ist, werden im Austausch zwischen den widerständigen demokratischen Kräften weltweit immer mehr gemeinsame strategische Perspektiven deutlich. Sie spiegeln sich für uns in der Perspektive des demokratischen Konföderalismus wider. Es braucht die Kraft und Kreativität einer jeden Einzelnen von uns, es braucht die gemeinsame Organisierung, und es braucht die Entschlossenheit, uns gegenseitig zu verteidigen, wo und wann auch immer es nötig ist, um das 21. Jahrhundert zum Jahrhundert der Frauenrevolution zu machen. t


 Kurdistan Report 223 | September/Oktober 2022