Die ökonomische Krise in der Türkei

»Die Syrer:innen sind schuld!«

Mako Qocgirî – Mitarbeiter von Civaka Azad, kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit e.V.


»Schulter an Schulter gegen den Faschismus« – Demonstration gegen rassistische Angriffe auf syrische Geflüchtete in der Türkei | Foto: ANFStraßeninterviews werden in der Türkei immer beliebter. In Zeiten, in denen die türkische Regierungspartei weite Teile der Medienlandschaft kontrolliert, haben junge Medienaktivist:innen damit angefangen, auf den Straßen Interviews zu führen, um die Meinung der Menschen einzufangen. Es gibt mittlerweile einige dieser Kanäle auf YouTube, deren Videos zu Hunderttausenden angeklickt werden. Oft geht es in den Interviews um die ökonomische Situation des Landes. Und kaum sehen die Menschen auf der Straße ein Mikro und eine Kamera, scheinen sie das Bedürfnis zu haben, auch ihre Meinung kundzutun. Wer sich einige dieser Videos anschaut, merkt sofort, dass die Wut auf das AKP-Regime in der Bevölkerung groß ist. Aber die Wut der Straße richtet sich nicht nur gegen die Regierenden, sie richtet sich zunehmend auch gegen die Geflüchteten, insbesondere gegen die Syrer:innen im Land.

In den letzten Wochen ist ein Straßenvideo des Portals »medyali tv« in den sozialen Medien viral gegangen. Es beginnt damit, dass sich ein Mann im mittleren Alter mit seiner Tochter an der Hand vor der Kamera darüber beklagt, dass sein Heimatland verloren gehe. Der Grund dafür? Die Syrer:innen, Afghan:innen, Pakistaner:innen usw. im Land würden sich wie die Karnickel vermehren und dann die türkische Staatsbürger:innenschaft annehmen. Dann taucht plötzlich ein syrischer Jugendlicher vor der Kamera auf, der den Dialog mit dem Mann sucht. Obwohl er in ruhigem Ton spricht, braucht es nicht lange, bis sich die Stimmung hochschaukelt. Es mischen sich immer mehr Menschen in das Gespräch ein, die dem Jugendlichen lautstark Vorwürfe machen. Er würde Geld von der Regierung bekommen, er solle seine Heimat verteidigen gehen, statt in Istanbul Wasserpfeife zu rauchen, oder ob er schon einmal das Denkmal für die Gefallenen des türkischen Befreiungskrieges in Çanakkale besucht habe. Die Vorwürfe sind so absurd, dass der syrische Geflüchtete sich am Ende gezwungen sieht, laut auszurufen, er sei auch ein Mensch.

Der Schwindel von der freiwilligen Rückkehr

Rund 3,6 Millionen Syrer:innen leben derzeit in der Türkei. Die Wirtschaftskrise und die Inflation trifft sie ebenso sehr wie alle anderen Menschen im Land. Dadurch, dass viele Geflüchtete im Niedriglohnsektor arbeiten, trifft sie die Wirtschaftskrise potentiell sogar stärker. Laut türkischem Innenminister haben etwas mehr als 200.000 Syrer:innen die türkische Staatsbürger:innenschaft, weitere 31.000 haben eine Arbeitserlaubnis. Allein diese Zahlen machen deutlich, dass der allergrößte Teil der syrischen Geflüchteten, wenn überhaupt, dann im informellen Sektor arbeitet und somit weder Anspruch auf einen Mindestlohn noch auf sonstige Arbeitnehmer:innenrechte hat. Sie gehören sozusagen zu den vulnerabelsten Teilen der Gesellschaft. Das schützt sie aber nicht vor dem Rassismus der türkischen Mehrheitsgesellschaft.

Der antisyrische Rassismus wird bewusst von der türkischen Opposition geschürt. Die Anhänger:innen sowohl der kemalistischen CHP1 als auch der nationalistischen İyi Parti2 verwenden eine offen antisyrische Rhetorik. Verantwortlich für die Anzahl der syrischen Geflüchteten in der Türkei machen sie die Regierungspartei AKP3. Sie habe die Syrer:innen ins Land eingeladen und leiste ihnen finanzielle Hilfe, die der eigenen Bevölkerung vorenthalten würde. Auch wenn Behauptungen wie diese nicht haltbar sind, so sind sie in der Bevölkerung mittlerweile doch sehr verbreitet. Der kemalistische Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu4 hat bereits angekündigt, bei einem Wahlerfolg die Syrer:innen im Land innerhalb von zwei Jahren auszuweisen. Mit dieser Ankündigung stößt er auf große Zustimmung unter der wirtschaftlich gebeutelten nationalistischen Bevölkerung des Landes.

Auch wenn die öffentliche Stimmung etwas anderes suggerieren mag, ist die regierende AKP weiterhin die große Profiteurin der Geflüchtetensituation im Land. Zunächst einmal sind die geflüchteten Syrer:innen seit Jahren eine sogenannte Verhandlungsmasse für die AKP, mit der sie Deutschland und die EU erpresst und großzügige Finanzhilfen an Land zieht. Darüber hinaus gebärdet sie sich einerseits als Beschützerin der Syrer:innen im Inland und schafft durch die Einbürgerungen ein starkes Wähler:innenpotential. Andererseits steigt sie ebenfalls in die Debatten um zeitnahe Rückführung der Syrer:innen ein, um die Wut der türkischen Bevölkerung zu dämpfen. Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan hat bereits den Startschuss für ein Projekt verkündet, in dessen Rahmen rund eine Million Syrer:innen zur freiwilligen Rückreise bewegt werden sollen.

Wie freiwillig solche Rückführungen am Ende sind, ist selbstverständlich fraglich. Gerade vor dem Hintergrund der rassistischen Erfahrungen, denen die Syrer:innen ausgesetzt sind, bleibt vielen oftmals keine andere Wahl, als die Türkei zu verlassen. Da die Grenzen in Richtung Europa weitgehend geschlossen sind, bleibt häufig nur der Weg zurück in die bürgerkriegsgeplagte Heimat.

Rassismus schlägt in offene Gewalt um

Bei einer Untersuchung aus dem Jahr 2018, an der 1000 syrische Geflüchtete teilgenommen hatten, gaben 92 Prozent an, dass sie in der Türkei mindestens einmal rassistische Diskriminierung erlebt hätten. 2021 gaben bei einer anderen Umfrage mit türkischstämmigen Menschen mehr als 56 Prozent der Befragten an, dass sie sich keine:n syrische:n Nachbar:in wünschten. Dass diese antisyrische Grundstimmung schnell in rohe Gewalt umschlagen kann, erlebten im August die syrischstämmigen Menschen in Ankaras Bezirk Altındağ. Nachdem bei einem Streit zwischen einer vermeintlich syrischen Gruppe und einem oder mehreren türkischen Menschen im Viertel Battalgazi ein türkischer Jugendlicher mit einem Messer tödlich verletzt wurde, tobte ein rassistischer Mob durch die Straßen, zerstörte Geschäfte syrischer Einwohner:innen und griff auch die Wohnungen von Syrer:innen an. Während die Familien und insbesondere ihre Kinder große Ängste ausstanden, patrouillierten im Viertel noch tagelang junge Männer mit türkischer Fahne auf den Schultern. Einwohner:innen des Viertels, die sich gut mit ihren syrischen Nachbar:innen verstehen, berichten, wie sie selbst Angst davor hatten, sich dem Mob entgegenzustellen. Die pogromartige Stimmung im Viertel führte dazu, dass viele Syrer:innen ihre Wohnungen verließen und sich nach einem neuen Wohnort umsahen.

Ebenfalls im vergangenen Jahr tauchten plötzlich Videos einer Gruppe von dunkel gekleideten Männern im Internet auf, die sich als »Ataman Kardeşliği« (Ataman-Bruderschaft) bezeichneten. Diese Gruppe, deren Logo an ein Hakenkreuz aus drei Halbmonden erinnert, machte öffentlich Jagd auf Geflüchtete und verbreitete Videos in den sozialen Medien, in denen einzelne Geflüchtete von Gruppen verprügelt werden.
Im November letzten Jahres wurde dann eine Unterkunft für Arbeiter:innen in der Provinz İzmir in Brand gesteckt. In der Unterkunft lebten drei Syrer, die alle bei dem Feuer ums Leben kamen. Die Menschenrechtsorganisation İHD5 bezeichnete den Fall als rassistisch motiviert. Auf eine abschließende Aufklärung des Falles warten wir noch heute.

Das politische Kalkül der AKP

Es sind Fälle wie diese, die aufzeigen, wie der antisyrische Rassismus in der Türkei schnell lebensgefährlich werden kann. In den nächsten Monaten wird sich die Stimmung mit Sicherheit weiter aufheizen, auch weil Wahlen anstehen. Oppositionsparteien wie die CHP und die İyi Parti werden antisyrische Ressentiments weiter stärken und die Regierungspartei dafür verantwortlich machen. Die AKP wird von den Stimmen der eingebürgerten syrischen Geflüchteten profitieren und sich zugleich zur Schutzpatronin ihrer »muslimischen Geschwister« aus dem Nachbarland stilisieren. Gewissermaßen profitiert die AKP auch davon, dass die Syrer:innen von der Opposition zu Sündenböcken für die ökonomische Krise im Land erklärt werden. Denn solange die Leidtragenden dieser Krise nach unten treten, bleiben diejenigen, die oben sind, weitgehend verschont.

Doch es gibt da noch einen außenpolitischen Faktor, der die Syrer:innen in der Türkei für die Agenda der AKP-Regierung wichtig macht: Die geplante 30 Kilometer tiefe Sicherheitszone in Nordsyrien/Rojava. Recep Tayyip Erdoğan versucht, den Unmut der türkischen Bevölkerung gegen die Syrer:innen in Unterstützung für seinen Kriegskurs in Nordsyrien umzumünzen. Er hat bereits mehrfach betont, dass er in diesem Gebiet die syrischen Geflüchteten ansiedeln will. Selbst internationale Mächte zeigen Verständnis für dieses Vorhaben des türkischen Präsidenten. Immerhin sei die Türkei über lange Jahre eine großzügige Gastgeberin gewesen.

Dass die Syrer:innen, die in die Türkei geflüchtet sind, zumeist nicht aus den Gebieten Nordsyriens kommen, interessiert da nicht weiter. Was die türkische Regierung plant, ist eine umfassende Vertreibung der Kurd:innen, die eigentlich in den Gebieten Nordsyriens beheimatet sind. Tatsächlich verfolgt Erdoğan in den türkisch besetzten Gebieten wie Efrîn bereits seit Jahren diese Politik der ethnischen Säuberung.

Das AKP-Regime hat die syrischen Geflüchteten zu einem Faustpfand für seine eigene innen- und außenpolitische Agenda gemacht. Die Oppositionsparteien CHP und İyi Parti lassen sich ebenso bereitwillig auf dieses Spielchen ein wie die europäischen Staaten, die sich durch die sogenannte Flüchtlingskarte der AKP bedrohen lassen. Leidtragende sind die Syrer:innen selbst, die nach der Vertreibung aus ihrer Heimat aufgrund des Bürger:innenkrieges nicht nur zu einem Spielball der Interessenpolitik der AKP geworden, sondern auch mit dem gewaltsamen Rassismus in der türkischen Gesellschaft konfrontiert sind.

Fußnoten:

1 - CHP – Cumhuriyet Halk Partisi, türkisch für »Republikanische Volkspartei«.

2 - İyi Parti – türkisch für »Gute Partei«, ist eine nationalkonservativ bis nationalistische, laizistisch-kemalistisch ausgerichtete Partei in der Türkei

3 - AKP – Adalet ve Kalkınma Partisi, türkisch für »Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung«.

4 - Kemal Kılıçdaroğlu ist seit 2010 Vorsitzender der kemalistisch-sozialdemokratischen CHP, der größten Oppositionsfraktion im türkischen Parlament. 

5 - İHD – İnsan Hakları Derneği, türkisch für »Menschenrechtsverein«, ist ein Verein mit Sitz in Ankara, der sich für die Einhaltung der Menschenrechte in der Türkei einsetzt.


 Kurdistan Report 223 | September/Oktober 2022