Aktuelle Bewertung

Die demokratische Nation als Ausweg aus dem zunehmenden Chaos

Şükrü Demhat, Journalist

Die historische Phase, die wir aktuell gesellschaftlich durchlaufen, hat mittlerweile einen entscheidenden Punkt erreicht. Häufig wird unsere Epoche als die letzte Phase der kapitalistischen Moderne bezeichnet. Zugleich werden die Diskussionen über notwendige Veränderungen und die Suche nach einem neuen System immer intensiver. Die kapitalistische Moderne ist heute ideologisch und paradigmatisch festgefahren. Sie verfügt dementsprechend nicht über die Fähigkeit, ihre Krise zu überwinden und sich grundlegend zu reformieren. Sie versucht ihre Hegemonie, die auf einer kolonialistisch-imperialistischen Politik basiert, mithilfe einiger weniger Täuschungen aufrechtzuerhalten. Dabei lassen sich deutliche Anzeichen erkennen, dass die Phase bereits begonnen hat, in der die kapitalistische Moderne ideologisch überwunden wird. Da ihre Blockade ideologischer Natur ist, erscheint es langfristig unmöglich, die tiefgreifende Krise mithilfe von Reformen und vorübergehenden Vorsichtsmaßnahmen zu bewältigen. Der ausschlaggebende Grund für die Krise ist die imperialistische und kolonialistische Politik, die von einer starken feindseligen Haltung gegenüber Natur, Frau und Gesellschaft geprägt ist. Diese Politik ergibt sich aus dem kapitalistischen Paradigma. Vor diesem Hintergrund entpuppen sich Globalisierung und Nationalstaat eindeutig als ideelle Zwillinge. Der aktuell stattfindende Machtkampf ist das Ergebnis der Widersprüche zwischen den Kräften der kapitalistischen Moderne im Hinblick auf den freien Kapitalverkehr und die Aufteilung ihrer Profite. Während also das nationalstaatliche Paradigma die eine Seite der aktuellen Krise darstellt, ist der globale Krieg um die imperialistische Hegemonie die andere Seite. Im Kern geht es dabei um systemimmanente Widersprüche, die von Zeit zu Zeit zu offenen Konflikten und Kriegen führen können, deutlich häufiger jedoch unter Berücksichtigung der Profite aller Beteiligten in neuen Gleichgewichten und Kompromissen enden. Die Blockade und die Krise umfassen das gesamte System. Der aktuelle Blockadezustand kann aus Sicht der beteiligten Kräfte teilweise zu Ergebnissen und Verlusten führen, die im Rahmen ihrer politischen Strategien nicht vorhergesehen oder berücksichtigt worden waren. Das zentralistisch-hegemoniale System – von den USA angeführt – war zuletzt in Afghanistan mit einer Situation konfrontiert, die genau dieser von uns beschriebenen Realität entspricht. Dort können die letzten Entwicklungen entweder als Kompromiss betrachtet werden, der die Interessen beider Seiten berücksichtigt, oder als Niederlage der USA. Beides stellt letztendlich einen Misserfolg dar.

Tiefe Krise der kapitalistischen Moderne

Bildungswoche im Frauendorf Jinwar in Rojava – Gegen die kapitalistische Moderne setzen die Frauen die demokratische Moderne durch. | Foto: JinwarSowohl die USA als Führungsmacht des Systems als auch die von ihnen aufgebauten internationalen Institutionen erfahren aktuell eine ernstzunehmende Krise. Sie ist Ausdruck der Unfähigkeit der USA und der erwähnten Institutionen, mit ihren veralteten Denkweisen und Systemen den aktuellen Entwicklungen gerecht zu werden. Der system­interne Kampf zwischen nationalstaatlichen Kräften auf der einen und globalistisch orientierten auf der anderen Seite ­endete insbesondere bei den letzten US-Wahlen mit dem Sieg der Globalisten. Die US-Wahlergebnisse haben sowohl weltweit als auch im Mittleren Osten einen großen Einfluss auf die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen. Die lange von den USA dominierten Bündnisse und Plattformen selbst, deren Zweck im Ausgleich bestehender zwischenstaatlicher Widersprüche und der Schaffung staatlicher Beziehungen besteht, werden bis ins Mark von der Krise der kapitalistischen Moderne erschüttert. Da die Krise dieser grundlegend politisch beschaffenen Strukturen sehr umfassend und vielschichtig ist, sind die militärischen, wirtschaftlichen, sozialen und ideologischen Institutionen der kapitalistischen Moderne zu einem Teil des bestehenden Chaos geworden. Die aktuelle Struktur der UN wird von vielen ihrer Mitgliedsstaaten offen zur Diskussion gestellt, und auch die NATO als überlebenswichtige militärische Organisation des Systems wird als »hirntot« bezeichnet. Solche Urteile kommen nicht von ungefähr. Der fluchtartige Ausstieg Großbritanniens aus dem EU-Projekt und der Umstand, dass die Wirtschaftsunternehmen sich nur für die Ergebnisse der auftretenden Krisen interessieren, stellen die auffälligsten Aspekte in diesen Auseinandersetzungen dar. Der Status und die Grenzen zahlreicher heute existierender Nationalstaaten sind das Ergebnis der beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts. Doch werden sie heute in Frage gestellt. Die Bestrebungen, eine Grundlage für die erneute hegemoniale Aufteilung der Welt zu schaffen, werden von Tag zu Tag verstärkt und den verschiedenen Gesellschaften offen präsentiert.

Die Entwicklungen des 20. Jahrhunderts waren klar von der Initiative der USA geprägt. Sie benutzten die Existenz der Sowjetunion zur Stärkung ihres eigenen Einflusses und als Druckmittel, um andere Nationalstaaten im Rahmen ihres eigenen Blocks zu sammeln. Auch die nationalen Befreiungsbewegungen verschiedenster Völker begriffen sie als Chance und nutzten sie im Rahmen der bestehenden Widersprüche. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion verloren die USA jedoch ihren Status als treibende Kraft hinter den allgemeinen Entwicklungen. In der Folge erklärten sie »terroristische Staaten« zu den neuen Feinden – eine Rolle, die bis dahin die Sowjetunion gespielt hatte. So wurde eine neue Generation von Feinden geschaffen. Durch diese Politik gelang es der kapitalistischen Moderne eine Zeit lang, auf Grundlage der Nationalstaaten ihren Fortbestand zu sichern. Doch im Laufe der Zeit musste sie einsehen, dass auch diese Politik ihre Wirksamkeit verlor. Sie musste also akzeptieren, dass nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion nicht wie verkündet das Ende der Geschichte gekommen war. Sie verstand auch, dass sie in Anbetracht des nun fehlenden ewigen Feindes in eine Phase des Zerfalls eingetreten war. Aus dem 2. Weltkrieg waren die USA als globale Führungsmacht des Kapitalismus hervorgegangen. Doch hatten sich seither auch Kräfte weiterentwickelt, die im offenen Konflikt oder Widerspruch zu ihnen standen. Die Mitgliedsländer des Sowjetblocks und dessen Bündnisse waren in diesem Rahmen entstanden. Nach dessen Zerfall begann Russland das 21. Jahrhundert auf der Grundlage seines sowjetischen Erbes und wurde zu einem der schwächeren Rädchen der kapitalistischen Moderne. Obwohl die Auflösung der Sowjetunion weithin als Erfolg der USA galt, bestanden stets Zweifel daran, in welche Richtung sich Russland entwickeln würde. Während dieser Übergangsphase gelang es der kapitalistischen Moderne nicht, einen neuen strategischen Feind zu schaffen. Sie konnte deshalb nicht wie gewollt Nutzen aus den damaligen Chancen ziehen. Mit der Zeit traten immer mehr Kräfte auf den Plan, die sich gegen die USA positionierten und ein Stück vom Kuchen verlangten. Zudem vertraten zahlreiche Nationalstaaten ihre hegemonialen Ansprüche zunehmend selbstbewusst und entwickelten sich zu einem ernsthaften Risiko für die westlich-hegemonialen Kräfte. Zu den aufsteigenden Kräften des neuen Jahrhunderts zählt neben Indien, Russland und anderen Staaten vor allem China. Sie sind mittlerweile Akteure, die durchaus in der Lage sind, den USA ihre Führungsrolle im globalen Kapitalismus streitig zu machen.

USA und ihre Verbündeten sind gescheitert

Es ist eindeutig, dass die politische Strategie der USA und ihrer Verbündeten vom Irak, Syrien und Kurdistan bis nach Afghanistan in eine Sackgasse geraten ist. Da sie offensichtlich nicht über die Kraft verfügen, ihre eigenen Pläne in der Region durchzusetzen, werden ihre Position und ihre globale Führungsrolle heute in Frage gestellt. Auch die Kräfteverschiebungen in Afghanistan, dem Irak und Syrien, die Neupositionierungen und die Rückzugsentscheidungen stehen in direktem Zusammenhang mit dieser Politik. Abdullah Öcalan setzte sich bereits vor Jahren in seinen Verteidigungsschriften intensiv mit der afghanisch-pakistanischen Region auseinander und kam zu Schlussfolgerungen, welche die aktuellen Entwicklungen andeuteten. Seine damaligen Analysen bzw. »Prophezeiungen« sind heute praktisch wahr geworden. Die Kräfte der Moderne stecken tief im Chaos und sind blockiert. Auch wenn sie stets versuchen, Krisen bewusst zu verstärken und so zu ihren eigenen Gunsten zu lenken, sind sie dieses Mal damit gescheitert. Die USA und ihre Verbündeten sind in eine Sackgasse geraten. Insbesondere auf ihrem im Sommer veranstalteten NATO-Gipfel, der EU-Ratssitzung und dem G7-Gipfel unternahmen sie daher den Versuch, eine neue militärische, wirtschaftliche und politische »Roadmap« zu entwerfen. Diese Bemühungen wurden von vielen Beobachter:innen als Versuch der zentralistisch-hegemonialen Mächte bewertet, ähnlich wie im Jahr 1952 eine neue »strategische Gefahr« zu kreieren. Um damals aus der politischen Konjunktur Profit zu schlagen, hatte die Türkei freiwillig am Koreakrieg teilgenommen. Analog zu den damaligen Verhältnissen unternimmt sie heute in Afghanistan einen sehr ähnlichen Versuch, bisher jedoch ohne Erfolg. Es ist offensichtlich, dass der »Hirntod der NATO« deren Existenz hinfällig machen wird. Derartige nationalstaatlich orientierte Institutionen sind nicht in der Lage, Lösungen für das bestehende Chaos zu entwickeln. Der Sowjetunion war es nach der Besetzung Afghanistans im Jahr 1979 nicht gelungen, vor Ort Fuß zu fassen. Stattdessen war ihre Niederlage dort ein wichtiger äußerer Faktor, der zu ihrem Zerfall beitrug. Eine ähnliche Situation erleben heute die USA, die Afghanistan seit den Angriffen im Jahr 2001 zwanzig Jahre lang durchgehend besetzt gehalten haben. Angela Merkel, eine wichtige Partnerin der USA in diesem Projekt, brachte diese Tatsache auf den Punkt: »Mit dem Anspruch, Afghanistan nach unseren Vorstellungen und Werten umzugestalten, sind wir gescheitert.« Auch die USA – eine weithin als globaler Akteur betrachtete Macht – haben ihre Niederlage eingestanden, sich zurückgezogen und das Land den Taliban überlassen, die sie mithilfe ihrer vielfältigen Beziehungen vor Ort in der Vergangenheit selbst empor gebracht hatten. Damit sind die Analysen Abdullah Öcalans bezüglich der »Kraft der Tradition« heute praktisch Realität geworden. Weder die Sowjetunion noch die USA mit ihren westlichen Verbündeten konnten sich mithilfe ihrer kollaborierenden, nationalstaatlichen Agenten oder ihrer eigenen despotisch-modernen Methoden in der Region festsetzen. Nach ihrer Niederlage und ihrem Rückzug haben nun lokale reaktionär-traditionelle Kräfte auf der Basis ihrer aktuellen organisatorischen Stärke das entstandene Vakuum in der Region gefüllt und die Macht übernommen. Oder anders ausgedrückt: Die Macht wurde ihnen übergeben.

Lage im Irak und in Afghanistan – eine Spätfolge der US-Intervention

Die jüngsten Entwicklungen in Afghanistan werden die politische Konjunktur in der gesamten Region beeinflussen. Der panische, unter Verlusten erfolgte Rückzug der von den USA angeführten Kräfte ist entweder das Ergebnis eines auf den Interessen aller Beteiligten basierenden Kompromisses mit den reaktionären Taliban oder des Scheiterns ihrer politischen Strategie. In beiden Fällen ist es absolut angemessen, dem System eine ernstzunehmende ideologische Schwäche und einen Rückschlag zu attestieren. Es scheint so, als werde das Scheitern der USA und ihrer Verbündeten in Afghanistan im politischen Bereich noch dramatischere Folgen haben. Die heutige Lage im Irak und in Afghanistan – eine Spätfolge der US-Intervention vor rund zwanzig Jahren – wird im Hinblick auf die globale Führungsrolle der USA zu einem Sicherheitsproblem führen. In nächster Zeit wird sich dies insbesondere auf die US-Innenpolitik auswirken. In der Folge wird der politische Aufstieg der Demokrat:innen im Zuge der letzten US-Präsidentschaftswahl nach dem Rückzug aus Afghanistan ernsthaft in Frage gestellt und kritisiert werden und ein Ende finden. Die verstärkten innenpolitischen Aktivitäten der Republikaner:innen, die wir in jüngster Zeit beobachten können, sind ein Ausdruck dessen. Auch die Diskussionen um einen vollständigen US-Rückzug aus dem Irak und sogar dem gesamten Mittleren Osten haben massiv an Fahrt aufgenommen. Diejenigen, deren Politik bisher auf einem Bündnis oder auf gemeinsamen Interessen mit den USA beruhte und für diese Politik eine existentielle Stütze dargestellt hatte, diskutieren derzeit intensiv die eigene Lage, insbesondere zahlreiche regionale Akteure, namentlich die südkurdische PDK (Demokratische Partei Kurdistans) und der Irak. Ein weiterer Effekt zeigt sich in der Haltung des Iran, der diese Entwicklungen nutzt, um seine regionale Hegemonie zu vergrößern bzw. zu festigen und sogar als Drohmittel gegen alle Kräfte einzusetzen, die er als Gefahr betrachtet. Die Lage in Afghanistan wird dem Iran in nächster Zeit als zentrales Drohmittel und Argument für seine Politik in der Region selbst und insbesondere in Zentralasien und Fernost dienen.

Kriegerische Auseinandersetzungen werden sich im Mittleren Osten verschärfen

Der Umstand, dass die USA und ihre Verbündeten sich gegenüber dem Iran, Russland und insbesondere China neu positionieren und in Stellung bringen, wird weder zu einem Kalten Krieg wie zwischen der NATO und dem Warschauer Pakt noch zu einem konventionellen »heißen« Krieg führen. Es ist absehbar, dass sich der 3. Weltkrieg in Form lokaler Kriege und mithilfe von wirtschaftlichen, diplomatischen und militärischen Interventionen – unter Einsatz von religiös, ethnisch oder ähnlich motivierten Kräften – verschärfen und fortsetzen wird. Es muss daher davon ausgegangen werden, dass sich die Entwicklungen in Afghanistan auch in Syrien und dem Irak, angepasst an die spezifischen Verhältnisse vor Ort, wiederholen werden. Auch wenn der Eindruck entstehen mag, der Abzug der US-Kräfte aus Girê Spî und Serêkaniyê in Rojava und ihr mit den Taliban vereinbarter Rückzug aus Afghanistan seien zeitlich unmittelbar aufeinander gefolgt, handelt es sich doch um zwei sehr unterschiedliche Ereignisse. Sich auf dieselbe Art und Weise aus dem Irak zurückzuziehen, würde nicht zur politischen Strategie der USA passen. Sie können vielmehr die zuvor erprobte Politik verfolgen, einen Teil ihrer kämpfenden Einheiten abzuziehen, die sich auf aus lokalen Kollaborateuren bestehende Kräfte stützen. Ein vollständiger Abzug aus dem Land bleibt aber in nächster Zeit unwahrscheinlich. Trotz dieser Feststellung würde es zu falschen politischen und militärischen Einschätzungen führen, wenn wir davon ausgingen, die USA könnten sich niemals zurückziehen oder würden – ganz im Gegenteil – umgehend abziehen. Insbesondere vor dem Hintergrund der aktuellen politischen Konjunktur ist es wichtig, stets alle Eventualitäten in Betracht zu ziehen. Wir können also klar festhallten, dass die USA oder andere Kräfte den Mittleren Osten nicht einfach aufgeben werden. Stattdessen wird sich der Kampf in der Region weiter verschärfen und die Gebiete, in denen es zu kriegerischen Auseinandersetzungen kommt, werden sich noch ausweiten. Es ist deutlich zu erkennen, dass insbesondere die Achse USA-Großbritannien-Deutschland-Israel bestrebt ist, ihren Einfluss in der Region auszubauen, indem sie ein Bündnis bestehend aus der Türkei, der PDK und gewissen islamistischen Stellvertretergruppen unterstützt.

Durch ihren Kompromiss mit den Taliban haben sich die Mächte der kapitalistischen Moderne mit den reaktionär-traditionellen Kräften geeinigt. Zugleich bezeichnen sie Freiheitskämpfe, die auf der kommunal-widerständigen gesellschaftlichen Tradition der demokratischen Moderne basieren, als »terroristisch«. Allein dadurch offenbart sich das wahre Gesicht der imperialistisch-hegemonialen Kräfte. Sie haben nicht das geringste Interesse an der Verbreitung von Werten wie Freiheit, Demokratie und Menschenrechten im Mittleren Osten. Ihre regelmäßigen diesbezüglichen Bekundungen sind nichts als Propaganda und bedeuten die Verschleierung der Wahrheit. Die Angriffe der Türkei und anderer kolonialistischer Staaten der Region, die sich gegen die Kurd:innen richten und auf Vernichtung und Völkermord abzielen, sind das Ergebnis der zuvor benannten Haltung. Die Angriffe werden durch diese Haltung bestärkt und letztendlich direkt von deren Vertreter:innen befeuert und gelenkt. Der antikurdischen und antifreiheitlichen Politik, die mithilfe der Türkei verfolgt wird, wurde zuletzt der irakische Premierminister al-Kazimi hinzugefügt. Auf diese Weise sollen insbesondere in den ­Medya-Verteidigungsgebieten, aber auch in Şengal, Mexmûr und Rojava Fakten geschaffen werden. Es wird also versucht, dafür das internationale Komplott gegen die Freiheitsbewegung und Abdullah Öcalan noch einmal deutlich zu verstärken.

Die Gesellschaften des Mittleren Ostens lehnen sich aufgrund ihrer Realität am stärksten gegen Dominanz und Macht auf. Es wird definitiv nicht einfach werden, dieser multiidentitären, farbenfrohen, mehrsprachigen und multikulturellen gesellschaftlichen Realität das nationalstaatliche Korsett aufzuzwingen. Aus genau diesem Grund bezeichnete Abdullah Öcalan bereits vor Jahren die Hinrichtung Saddam Husseins als das Ende des Nationalstaates. Die Strategie der kapitalistischen Moderne, zum Schutz ihrer eigenen Interessen ständig neue künstliche Widersprüche zu schaffen, hat die ausweglose Lage im Mittleren Osten noch weiter verstärkt. Auch die palästinensische Frage ist noch immer nicht gelöst, was mit den erwähnten Haltungen und Konzepten zusammenhängt. Es sind die besagten Kräfte, die den israelisch-palästinensischen Konflikt befeuert haben. Mithilfe dieser von ihnen selbst geschaffenen Krise konnten sie den gesamten Mittleren Osten lange Zeit kontrollieren. Als zu diesem Problem, das sich zu einem grundlegenden, weiterhin ungelösten Widerspruch entwickelt hatte, noch der Freiheitskampf in Kurdistan hinzukam, vertiefte sich die Krise massiv und die Situation in der Region wurde noch chaotischer. Denn während sich die Nationalstaaten und Institutionen des 20. Jahrhunderts völlig auf den israelisch-palästinensischen Konflikt konzentrierten und sich die Regionalstaaten entsprechend positionierten, zwang der Aufbruch Abdullah Öcalans und der PKK sie alle dazu, ihre zuvor gemachten Pläne umfassend zu korrigieren. Nach seiner Entstehung gelang es dem Freiheitskampf der PKK, eine Führungsrolle bei der Zerschlagung der dem Mittleren Osten völlig fremden nationalstaatlichen Zwangsjacke zu spielen. Dadurch hat er auch deutlich gemacht, dass die palästinensische Frage von der kapitalistischen Moderne und den regionalen Nationalstaaten instrumentalisiert und der eigentliche Kampf der Palästinenser:innen verfälscht worden ist. Heute ist nicht der palästinensische Widerstand für die politischen Strategien in der Region maßgeblich, sondern der Freiheitskampf in Kurdistan. Die global-hegemonialen Kräfte sind sich dessen sehr wohl bewusst. Es ist offensichtlich, dass sie mit den Nationalstaaten ein Bündnis gegen den Freiheitskampf in Kurdistan eingegangen sind. Diese beiden Akteure betrachten die Ideen Abdullah Öcalans als eine grundlegende Gefahr für sich selbst. Aus diesem Grund hatten sie das internationale Komplott geplant und durchgeführt. Die Entwicklungen im israelisch-palästinensischen Konflikt und die Haltung gegenüber Abdullah Öcalan haben diese Tatsache seither immer wieder aufs Neue belegt.

Neuordnung der Region

Seit geraumer Zeit wird der Versuch unternommen, die Neuordnung des Mittleren Ostens entlang neu definierter Ziele und Interessen voranzutreiben und die politische Strategie in der Region mithilfe des irakischen Staates zu organisieren. Insbesondere der irakische Premierminister al-Kazimi wird hierfür benutzt. Seit der Besetzung im Jahr 2003 hat der Irak weder an Stabilität gewonnen, noch konnte er sich dem nationalstaatlichen Rahmen anpassen. Die Lage im Land wird aktuell daher allgemein umfassend analysiert und neu bewertet. Die Diskussionen um einen eventuellen US-Rückzug aus dem Irak werden als Möglichkeit genutzt, den Staat und das System mithilfe al-Kazimis zu restaurieren. Es wird dementsprechend versucht, schnell Wahlen im Irak durchzuführen und danach neue politische Rahmenbedingungen zu schaffen. Es melden sich auch Stimmen zu Wort, die von der Verfassung bis zum Staatssystem des Irak alles zur Diskussion stellen möchten. Um al-Kazimi als denjenigen zu präsentieren, der über genügend Kraft für all diese Vorhaben verfügt, wurde die Organisierung einer Konferenz internationaler Staatschefs in Bagdad unterstützt. Diese Konferenz dürfen wir sicherlich nicht ausschließlich als diplomatisches Zusammentreffen verstehen. Auch wenn die diplomatischen Bemühungen, die in diesem Rahmen hinter verschlossenen Türen stattfanden, nicht vollständig an die Öffentlichkeit gelangt sind, können wir trotzdem einen genaueren Blick auf einige öffentlich gewordene Diskussionen und Ergebnisse werfen. Dabei wird deutlich, dass dieses internationale Zusammentreffen eine neue Phase in der Neuordnung der Region eingeläutet hat. Neben diplomatischen Aspekten standen offensichtlich auch sicherheitspolitische, geheimdienstliche, wirtschaftliche und politische Themen auf der Tagesordnung. Weitere Punkte waren das internationale Komplott gegen unsere Bewegung und der andauernde Völkermord an den Kurd:innen. Dass der Irak bisher keine klare Haltung gegen die Besatzungsangriffe der Türkei in Şengal, Mexmûr, den Medya-Verteidigungsgebieten und der Region Asos-Pêncewîn gezeigt hat, zeigt das Ausmaß seiner Kollaboration. Al-Kazimi verfolgt seit geraumer Zeit eine Politik, die auf einen Kompromiss zwischen der Strategie der Türkei und dem irakischen Staat abzielt – und zwar auf Basis einer gemeinsamen Politik gegen die PKK. Al-Kazimi will dadurch sowohl die Unterstützung der Türkei gewinnen als auch mit Unterstützung der PDK seinen eigenen Machterhalt sichern.

Irak hat sich erneut zu einer Kampfarena entwickelt

Die Vernichtungsangriffe und das Komplott gegen unsere Bewegung werden aktuell über zwei Zentren organisiert. Eines davon ist Hewlêr (Erbil). Während hier der Politik in Kurdistan eine spezifische Form gegeben werden soll, wird über Bagdad der Versuch unternommen, den Einfluss unserer Bewegung nicht nur in Kurdistan selbst, sondern im gesamten Mittleren Osten zu schwächen, um sie letztendlich zu vernichten. Es ist allseits bekannt, dass die Türkei große Anstrengungen dafür unternimmt und in Bagdad, Mûsil (Mossul) und anderen Gebieten permanent zu diesem Zweck aktiv ist. Als Zentrum der Neugestaltung der Politik in Kurdistan befindet sich Hewlêr heute in einer sehr gefährlichen Position. Die PDK spielt mittlerweile im Rahmen der türkischen Besatzungsangriffe eine völlig inakzeptable Rolle und verstärkt zunehmend Kollaboration und Verrat. Da die Feindschaft der PDK gegenüber unserer Freiheitsbewegung allseits bekannt ist, wurde Hewlêr zu einem Zentrum für die aktuellen Angriffe auserkoren. Auch gegenüber den schiitischen, sunnitischen, kurdischen und anderen Blöcken im Irak und dessen Anrainern wird entsprechend den Neugestaltungsplänen für die Region und den bestehenden Interessen eine »Teile-und-herrsche-Politik« verfolgt. Zur Durchsetzung der Ziele wird in der derzeitigen politischen Phase massiv Druck auf die unterschiedlichen Akteure ausgeübt. Zwei Blöcke beanspruchen jeweils die Entscheidungsgewalt über die Region, stellen ihre eigenen Interessen permanent in den Vordergrund und üben massiv Druck aus. Die westlichen Mächte unter Führung der USA bilden den einen dieser Blöcke. Die Angriffe des NATO-Mitgliedes Türkei sind Teil ihrer Aktivitäten, denn diese expansionistische und kolonialistische Politik ist Bestandteil der allgemeinen NATO-Strategie in der Region. Die Besatzungsangriffe der Türkei werden von der NATO als eine Art Schlagstock eingesetzt. Das gilt besonders für die USA, die erkannt haben, dass sie unsere Bewegung ideologisch und physisch nicht in die Knie zwingen können. Parallel zu diesen Angriffen wird propagiert, unsere Bewegung sei ein Teil der anderen des vom Iran organisierten Blocks, was von einer entsprechenden Politik begleitet wird. Aus Sicht der USA ist eine PKK, die sich dem iranischen Block anschließt, deutlich vorteilhafter als die PKK, die die Politik des Dritten Weges anführt.

Der Konflikt zwischen der Türkei und dem Iran um die regionale Hegemonie weitet sich geographisch aus und gewinnt zunehmend an Schärfe. Die Erfolge der Guerilla im Kampf gegen die Völkermordangriffe und die daraus resultierenden Ergebnisse haben einen direkten Einfluss auf die gesamte Region. Sie sind der Grund dafür, dass alle Akteure ihre Pläne anpassen und sich unserer Bewegung gegenüber entsprechend positionieren müssen. Die Beziehung, Widersprüche, Konflikte und Zusammenarbeit zwischen der Türkei und dem Iran geraten dadurch in immer größere Unordnung, was wiederum unmittelbare Folgen für die Kurd:innen hat. Die Auseinandersetzungen zwischen dem Iran und der Türkei um die regionale Hegemonie haben nach dem Ende des Afghanistan-Einsatzes dazu geführt, dass alle Akteure deutlich schneller und hektischer agieren. Die Türkei hat dies als Gelegenheit für ähnlich wichtige Resultate wie im Jahr 2001 genutzt. Sie versucht entsprechend, durch den »Erfolg« des sunnitischen Islam in Afghanistan, ihren Einfluss in der Region zu vergrößern und durch zunehmendes Einkreisen unsere Bewegung letztendlich zu zerschlagen. Zugleich ist sie darum bemüht, noch weiter in den Irak und in Syrien vorzudringen und so ihren Einflussbereich auszuweiten. Auch der Iran nutzt die aktuelle Lage, um im Irak, in Syrien und dem Libanon seine Einflusssphäre gegenüber den USA, Israel und der Türkei zu vergrößern und entsprechende Ergebnisse zu erzielen. Der Irak hat sich also erneut zu einer Kampfarena entwickelt, in der strategische Rechnungen beglichen werden.

Im Rahmen dieser Hegemonie- und Machtkämpfe sind die verschiedenen Blöcke bemüht, die Kraft unserer Bewegung für ihre eigenen Interessen zu instrumentalisieren. Trotz all der Behinderungen, Komplotte und Angriffe sind wir als Bewegung ein entscheidender regionaler Faktor. Jede Kraft, die im Mittleren Osten ihre Ziele verfolgen will, ist sich des Potentials unseres Kampfes sehr bewusst und schenkt uns gezwungenermaßen ihre Aufmerksamkeit. Das können wir auch als Absicht deuten, unsere Bewegung zunächst einmal zu schwächen, sie dann zu zwingen, der Politik des jeweils eigenen Blocks zu folgen, und so innerhalb der Neugestaltung der Region zu benutzen. Gelingt ihnen dies nicht, werden sie sich genötigt sehen, ihre Strategie gegenüber unserer Bewegung zu ändern. Bekanntlich spielten die USA eine entscheidende Rolle im internationalen Komplott gegen Abdullah Öcalan. Auch den aktuellen Plan zur Zerschlagung oder – falls dies nicht gelingen sollte – zur Schwächung und Unterwerfung unserer Bewegung unterstützen sie aktiv. Sie wollen sie mithilfe der PDK-Linie ausschalten, zur Kapitulation zwingen und so ein Hindernis für ihre eigenen Pläne aus dem Weg schaffen. Deshalb haben sie insbesondere die Kollaboration zwischen der Türkei, dem Irak und der PDK angestoßen, die zusammen die Völkermordangriffe auf unsere Bewegung führen. In Rojava versuchen sie mit Zuckerbrot und Peitsche durchzusetzen, dass anstelle der dortigen Errungenschaften die regionale US-Politik akzeptiert wird und unser Freiheitsparadigma durch die US-Mentalität ersetzt wird. In diesem Sinne handelt es sich beim aktuellen Kampf letztendlich um einen ideologischen. Die USA wollen unsere Bewegung zwingen, ihr eigenes Paradigma aufzugeben, so wie die PDK einen kurdischen Nationalismus zu forcieren, ihren Kampf gegen die Türkei und die anderen Kolonialkräfte einzustellen, sich nicht mehr im Geringsten mit den bestehenden gesellschaftlichen Problemen zu befassen und keinerlei Widerstand mehr zu leisten. Dies würde nichts anderes als Kapitulation bedeuten.

Fortsetzung des internationalen Komplotts

Die besagten Kräfte antworteten auf die Offensive Abdullah Öcalans nach dem internationalen Komplott gegen ihn mit dem Konzept »Kampf gegen den Terrorismus«. Sie verfolgten damit die Absicht, eine Lösung der kurdischen Frage zu verhindern und sie stattdessen als beliebig einsetzbaren Trumpf in der Hand zu halten. Notwendigerweise wurde deshalb dieses Konzept entwickelt und auf den Freiheitskampf in Kurdistan angewendet. Auch die Türkei war Nutznießer. Sie sicherte sich internationale Unterstützung und profitierte enorm. Sie konzentrierte sich auf ihre Strategie, den Völkermord an den Kurd:innen noch weiter zu intensivieren. Die Entscheidung der EU, unserer Bewegung unter dem Label »Terror« zu begegnen, war Teil dieser Politik. Die heutigen Angriffe, um unsere Bewegung zu vernichten oder zur Kapitulation zu bewegen, sind eine direkte Fortsetzung des internationalen Komplotts. Sie sollen durch die verstärkte und permanente Isolation Abdullah Öcalans, die Angriffe auf die demokratische Politik und Gesellschaft in Nordkurdistan und die Besatzung von Rojava und Südkurdistan ans Ziel führen. Offensichtlich entsprechen all diese Maßnahmen den Interessen der westlich-imperialistischen Mächte, allen voran der USA, und werden von ihnen aktiv befeuert, unterstützt und z. T. direkt ausgeführt. Trotz dieses Konzepts und der umfassenden Angriffe hat unser Kampf den AKP-MHP-Faschismus heute an den Rand des Zusammenbruchs geführt.

Demokratische Moderne als Lösungsmodell

Die ganzen aktuellen Entwicklungen machen deutlich, dass das Medikament »Nationalstaat« in der Gesellschaft seine Wirkung verloren hat. Weiter auf die nationalstaatliche Mentalität zu setzen, führt nicht nur zu Kriegen, sondern zu enormer Zerstörung. Feminizid, ökologische Verwüstung und gesellschaftliche Verwahrlosung sind klare Anzeichen für den Bankrott der kapitalistischen Moderne und nehmen mit jedem Tag gefährlichere Ausmaße an. Diese und zahlreiche andere Entwicklungen haben mittlerweile auf der ganzen Welt verdeutlicht, dass das derzeitige System nicht weiter bestehen kann. Natürlich wird sein Ende nicht ohne Kampf erreicht werden. Denn die kapitalistische Moderne versucht weiterhin, ihre Existenz mit der Ausbeutung von Gesellschaft und Natur zu verlängern. Trotz all ihrer taktischen Manöver und Strategien ist es ihr nicht gelungen, die Gesellschaft zur Kapitulation zu zwingen. Diese Tatsache hängt mit der gesellschaftlichen Natur, Geschichte und Genetik zusammen. Sie eröffnet zugleich eine ganz andere Möglichkeit: Die Identitäten und Kulturen, aus denen die Gesellschaft entsteht, sind unvereinbar mit dem Nationalstaat. Aufgrund ihres demokratisch-kommunalen Charakters ist die Gesellschaft in einer konträren Position zur kapitalistischen Moderne. Diese Situation kann nur mithilfe der Mentalität der demokratischen Nation grundlegend aufgelöst werden. Das ist auch der Grund dafür, warum unser Kampf und die Gebiete, in denen er sich in einen gesellschaftlich-revolutionären Aufbauprozess verwandelt hat, von den Völkern dieser Welt so intensiv verfolgt und unterstützt werden. Solidarität stellt definitiv einen wichtigen Teil der aktuellen Phase unseres gemeinsamen Kampfes dar. Doch grundsätzlich geht es um den gemeinsamen Aufbau eines demokratischen und kommunalen Lebens. Die Mentalität der demokratischen Moderne verfügt über das notwendige Potential und die Kraft, um sowohl die Probleme im Mittleren Osten als auch die weltweit vom Kapitalismus verursachten Konflikte zu lösen. Und genau dafür wird sie bereits heute gebraucht.


 Kurdistan Report 218 | November/Dezember 2021