Die »Gesellschaftlichen Verteidigungskräfte« HPC

Wo das Volk ist, ist auch die HPC

Interview mit dem Verantwortlichen der HPC Reşid Kobanê


Die Gesellschaftlichen Verteidigungskräfte (Hêzên Parastina Civakî, HPC) stellen seit 2015 einen wichtigen Ausdruck der radikaldemokratischen Selbstorganisierung in Nord- und Ostsyrien dar. Sie sind das demokratische Gegenmodell zu staatlichen Sicherheitskräften. Sie schützen die Bevölkerung in den Stadtvierteln, Städten und Dörfern. Der Kurdistan Report sprach mit Reşid Kobanê, dem Verantwortlichen der HPC.

Die Gesellschaft in Rojava/Nordsyrien ist täglich Angriffen von Seiten der Türkei und ihren dschihadistischen Söldnern ausgesetzt. Welche Aufgabe haben darin die Gesellschaftlichen Verteidigungskräfte HPC?

Es stimmt, dass der türkische Staat die in Rojava lebenden Völker mit repressiver Vergeltung angreift. Diese Angriffe sind nicht neu. Er verfolgt im Norden Syriens seit Beginn der Revolution eine Interventionspolitik. Als Syrien komplett in einen Bürgerkrieg stürzte, intervenierte er dort direkt. Er wollte eine Rolle spielen bei der Transformation Syriens, entscheidend sein, zumindest Einfluss nehmen auf die stattfindenden Veränderungen. Wenn es eine Veränderung geben soll, muss sie in seinem Interesse liegen, und das kurdische Volk hat keinen Platz in Syriens Zukunft, keinen Status. Die Politik der Vernichtung wird unverändert fortgesetzt. Denn als die Kriegsprobleme in Syrien begannen, der Islamische Staat (IS) angriff, begann auch der türkische Staat zu intervenieren, aber vor allem gegen Rojava.

Er bildete die dschihadistischen Banden im Namen der Koalition mit deren Mitteln und Geldern zunächst auf türkischem Boden aus und schickte sie dann nach Syrien in den Krieg, voll beladen mit Waffen und Munition. Die Dokumentation dieser Waffentransporte geschah in den türkischen Medien, das heißt, vor den Augen der Öffentlichkeit, und es ist bekannt, also alle wissen es. Dschabhat al-Nusra (die Al-Nusra-Front) war eine ihrer Hauptbanden. Besonders in der Region Rojava wurde in ihrem Namen zunehmend eingegriffen, aber es dauerte nicht lange, bis der ISIS/IS zur führenden Kraft wurde und diese Banden sich ihm auch anschlossen. Tatsächlich besteht kein realer Unterschied zwischen ISIS/IS und Dschabhat al-Nusra, er liegt einzig in der Definition. Spätere Söldnertruppen wie die Sultan-Murad-Brigade, die Nureddin-al-Zenki-Bewegung und andere wurden auch direkt vom türkischen Staat gegründet, organisiert und betrieben. Ihr Krieg wurde und wird bekanntlich auf dem Territorium Rojavas geführt.

Der Kobanê-Widerstand war ein historischer. Die IS-Banden hatten es brutal angegriffen, um Städte wie Kobanê, welche die Revolution voranbringen, den Händen der autonomen Verwaltung zu entreißen und jeden Fortschritt der Revolution zu verhindern. Das wurde in einer Rede des türkischen Staatspräsidenten Erdoğan sehr deutlich. Die Revolution hörte jedoch nicht auf seine Rede und auf seine Bedürfnisse und breitete sich immer weiter aus. Die schweren IS-Angriffe wurden erfolgreich zurückgeschlagen und auch ihre Hauptstadt (Raqqa) wurde von ihrer Macht befreit. Ebenso wurden weitere befreite Gebiete in den Zugangsregionen Rojavas im Nordosten Syriens geschaffen. Der türkische Staat scheiterte mit seinem Ziel und das machte ihn wütend. Cerablus, al-Bab und Azaz wurden von ihm unter dem Stillschweigen internationaler Truppen besetzt. Und er setzte die Okkupation fort: in Efrîn, Serê Kaniyê und Girê Spî.

Zusammen mit zehntausenden Kämpfern griff hier der türkische Staat mit aller Kraft die Bevölkerung an. Flugzeuge, Hubschrauber, Panzer, Chemiewaffen – alle Arten von Waffen wurden dabei eingesetzt. Ziele waren nicht nur die Kräfte der Volks- und Frauenverteidigungseinheiten YPG/YPJ, sondern hauptsächlich Zivilisten. Die Wucht der Angriffe in diesem Gebiet nahm nach der Besetzung nicht ab, und wo es der türkische Staat nicht selbst war, waren es seine Söldnertruppen: Tötungen, Entführungen, Raubüberfälle, Plünderungen und Vergewaltigungen in Minbîç, Til Rifat, Şehba, Efrîn, Ain Issa, Til Temir und Zigran; kein Tag mehr ohne Bombenangriffe, ohne Tote oder Entführte.

Demgegenüber ist es die Pflicht der freiheitsliebenden Menschen, Land und Gesellschaft gegen Angriffe zu verteidigen. Jede Institution und jede Person ist für die Verteidigung des Landes verantwortlich. Dafür wurden die HPC im Kampf gegen den IS gegründet, wobei sie tausende Gefallene und Verletzte beklagen mussten. Bis zum letzten Angriff erfüllten sie ihre Pflicht, so unterstützten sie die demokratischen Verteidigungseinheiten.

Sie dienten auch als Wache in den von den IS-Banden befreiten Gebieten und sorgten dort für die Verteidigung und Sicherheit der Städte und Viertel. In der demokratischen autonomen Region haben sich die Rolle und die Zuständigkeiten der Institutionen im Laufe der Zeit verändert, wobei sich die Aufgabe des Schutzes noch weiterentwickelte. Die Revolution auszubauen und aufrechtzuerhalten ist eine historische Aufgabe, und auch die HPC sind mit ihren Fähigkeiten direkt beteiligt. Im Falle entsprechender Angriffe und Notwendigkeiten sind sie immer bereit. Heute haben die HPC die Pflicht, das Volk, das Land, die Institutionen, kurz die Werte der Revolution gegen die Angriffe der dschihadistischen Söldner und des türkischen Staates zu schützen. Sie fungieren als Augen und Ohren der Revolution und spielen eine Rolle bei der Entlarvung von geheimen und versteckten Zellen des Feindes. Sie schützen das Land und die Umwelt in befreiten Gebieten.

Es gibt jedoch immer noch die vom türkischen Staat besetzten Gebiete, in denen die Kontrolle den Dschihadisten überlassen wurde und die Bevölkerung meist unter dem Druck des Feindes steht. Natürlich sehen auch hier Menschen die Verantwortung für die HPC und deren Aufgaben. Zu diesen Bereichen können wir aber nichts sagen. Den Kampf gegen die Besatzer zu verstärken, den Feind in unserem Land zu bekämpfen, das sind unsere Hauptaufgaben. Diese Pflicht gilt auch für die besetzten Gebiete und die dort lebenden Menschen kennen auch ihre Arbeit, ihre Pflichten und Verantwortlichkeiten.

Warum wurde diese Form der Selbstverteidigung gewählt und wie setzen sich die Kräfte zusammen?

Die HPC sind aus einer Not heraus entstanden. Als das syrische Regime an der Macht war und über die Region von Rojava bestimmte, war die zivile Verteidigung nicht auf demselben Niveau wie heute, aber sie operierte als eine Miliz zur Verteidigung des Volkes. Natürlich war die Organisation nicht öffentlich, sie hatte auch keine Zentren. Sie war nicht als Institution aufgebaut und ihre Organisierung war schwach. Als der IS angriff, wurden die Probleme deutlich. Es gab keine Ordnung, das System funktionierte nicht, die Zukunft war unklar. Menschenleben waren in Gefahr, ihre jahrelangen Anstrengungen wurden zunichtegemacht, ihre Häuser zerstört.

Als die Dschihadisten die Städte Rojavas angriffen, wollten sie dort dasselbe tun wie in Syrien. In dieser Situation war man mit dem Problem des Schutzes konfrontiert. Wegen der Gebiete, in denen die Dschihadisten an Boden gewannen, einerseits wegen des Krieges, den sie gegen das syrische Regime führten, andererseits wegen der Angriffe auf die Zivilbevölkerung, den Morden, Entführungen, der Folter, Vergewaltigungen und des Raubes von Gemeinschaftseigentum, führte das aufgrund dieser Sicherheitsbedenken zum Aufbau der HPC.

Denn wo Gefahr besteht, ist es nötig, den Schutz der Gemeinschaft zu gewährleisten, dort bedarf es der Verteidigungsinstitutionen. Im Grunde wird eine solche Organisation nicht nur wegen stattfindender Angriffe gebraucht, sondern allein die Wahrscheinlichkeit eines Angriffs legitimiert ihre Einrichtung. Große Staaten haben beispielsweise solche Institutionen etabliert. Je nach Situation sind sie neben der Verteidigung ebenfalls mit der Aufgabe betraut, bei Katastrophen zum Schutz der Menschen tätig zu werden. In einigen Ländern werden sie als Zivil- oder Heimatschutz bezeichnet. Natürlich ist die gesellschaftliche Situation ein Grund für die Schaffung einer solchen Institution, aber wesentlich ist das Verständnis von der Verteidigung der Bevölkerung und des Landes, und das ist allgemeingültig. Wenn das kurdische Volk sie vor der Revolution nicht gegründet hätte, gäbe es kein Grundwissen aus ihrer Tätigkeit und dem unter den Schwierigkeiten der Besatzung Gelernten. Diese Institution muss für die Zukunft geschützt und gestärkt werden, damit der Schutz des Landes und seiner Menschen gesichert werden kann. Andererseits ist die Existenz der HPC kein Hindernis für die Sicherheitsinstitutionen wie die YPG/YPJ, sondern sie ergänzen sich.

Unter dem Schirm der HPC gibt es keine anderen Kräfte. Sie sind eine eigene Institution, mit einer eigenen Organisierung. Sie ziehen ihre Stärke und ihre Kraft im Grunde aus der Bevölkerung. Mit deren Verständnis ist die Selbstverteidigung autonom organisiert. An der Arbeit der HPC sind die Menschen aller gesellschaftlichen Sektoren, jung und alt sowie jeden Geschlechts beteiligt. Außer im Natur- und Umweltschutz gehören der Schutz historischer Stätten sowie landwirtschaftlicher Flächen und der Produktion ebenfalls zu den Aufgaben der HPC.

Das heißt natürlich nicht, dass sie zu keinen anderen Institutionen Beziehungen unterhalten. Sie sind dem Verteidigungsministerium der demokratischen Autonomie angegliedert. Sie sind wiederum mit den demokratischen Verteidigungskräften verbunden und haben koordinierte Sicherheits- und Verteidigungsaufgaben. Den Anforderungen von z.B. Wirtschafts- und Landwirtschaftskommissionen entsprechend besteht mit diesen auch eine Zusammenarbeit.

Warum gibt es neben den YPJ/YPG auch noch die HPC?

Die YPG/YPJ fungieren als Verteidigungs- und als militärische Kraft, sie erfüllen ihre Pflicht und tragen Verantwortung für das ganze Land. Sie sind militärisch organisiert, also professionelle Kräfte, mit rein militärischen Aufgaben und Verantwortlichkeiten. Sie können nicht an den täglichen Angelegenheiten der Gesellschaft teilhaben, denn nicht alle Schutzaufgaben können von ihnen allein erfüllt werden. Die Verteidigung von Land und Bevölkerung ist eine umfassende Aufgabe.

Die HPC unterstützen die YPG/YPJ im Krieg. Sie ergänzen sich. Wenn die YPG/YPJ an vorderster Front kämpfen, übernehmen die HPC die Aufgabe, für die Sicherheit innerhalb der Städte zu sorgen. Die HPC sind täglich in den Kommunen präsent. Sie sind jederzeit und überall einsatzbereit, können also immer eingreifen. Innerhalb des Bereichs der Verteidigung kann durchaus auch eigene wirtschaftliche, landwirtschaftliche und organisatorische Arbeit erledigt werden. Kurz gesagt, die Funktionen jeder Institution sind unterschiedlich, eine ersetzt nicht die andere, sie können sich jedoch gegenseitig ergänzen.

Was ist die tägliche Arbeit der HPC? Was tun sie?

Öffentliche und alltägliche Aktivitäten sind miteinander verflochten. Aber auch wenn wir differenzieren, HPC-Zentren gibt es in jeder Stadt. Unsere Mitarbeiter in den Kommunen besuchen die Nachbarschaften und Gebiete in der Nähe unseres Zentrums nach Bedarf und bei Problemen. Denn die HPC stehen im Rahmen ihrer Arbeit in Kontakt mit der Bevölkerung und arbeiten auch gemeinsam mit ihr. Gemäß den Sicherheitsanforderungen finden Planung und Streifengänge gemeinsam mit den Asayîş [Sicherheitskräfte der Autonomieverwaltung] statt. Gemeinsam werden auch Kontrollschichten absolviert, das sind tägliche Aufgaben. Wenn die Asayîş für die Sicherheit bei Veranstaltungen sorgen, leisten die HPC gleichfalls ihren Teil. Der Schutz einiger Institutionen wird durch die HPC abgedeckt. Sie schützen jeden Tag Viertel und Straßen. Ebenso regelmäßig gibt es Bildungsmaßnahmen für ihre Mitglieder.

Männer und Frauen machen diese Arbeit gleichermaßen. Alle Patrouillen, der Schutz auf Demonstrationen, Kundgebungen usw. fallen in ihre Zuständigkeit. Frauen beteiligen sich an den Arbeiten, sie erhalten auch eine besondere Bildung, genauso nehmen sie an allen Verteidigungsmaßnahmen teil.

Nehmen alle Bewohner in den Stadtvierteln bzw. Dörfern an den HPC teil oder wie groß ist der Anteil der Zivilbevölkerung?

Der Schutz der Gemeinschaft ist die Pflicht der Bevölkerung selbst. Der Name unserer Organisation gibt dies wieder. Es stimmt, wenn wir sagen, dass die HPC von der Gesellschaft aufgebaut wurden. Damit ist dann auch die gesamte Gesellschaft gemeint. Mann und Frau, Oma und Opa, von jung bis alt können alle ihren Platz in der Verteidigung und der Organisation der HPC einnehmen. Zu unseren Mitgliedern zählen beispielsweise Ärzte, Landwirte, Politiker, Arbeiter, Schüler, Hausfrauen, kurz Menschen aus allen gesellschaftlichen Bereichen und können sich an unserer Arbeit beteiligen. Darum ist es nicht falsch, wenn wir sagen, die HPC sind das Volk.

Die Teilnahme ist zahlreich. Es gibt fast keine Dörfer oder Nachbarschaften, in denen die HPC nicht organisiert sind. Diejenigen, die die Verteidigung des Landes als ihre Pflicht ansehen, klopfen an unsere Tür. Wie bereits erwähnt, es gibt einige Menschen, die nicht ihre tägliche Arbeit aufgeben und an professionellen militärischen Arbeiten teilnehmen können, aber einen Platz in den HPC finden alle.

Auf die Frage, wie viele in den HPC organisiert sind, können wir keine Zahl nennen. Aber wir können sagen, dass es dort, wo das Volk ist, auch die HPC mit ihrer Kraft gibt.


 Kurdistan Report 218 | November/Dezember 2021