Rechtssystem der Türkei unter Kontrolle der Mafia

Der Staat wurde zur Mafia, die Mafia zum Staat

Erdal Aliçpinar im Gespräch mit Hatip Dicle, Yeni Özgür Politika, 24. Mai 2021

Gewerkschaftsverbände demonstrieren in Istanbul »Wir werden uns der Ordnung der Unterdrückung, Mafia und Ausbeutung nicht ergeben« und forderten die Regierung zum Rücktritt auf. Foto: anfDer kurdische Politiker Hatip Dicle wertete die auf YouTube veröffentlichten Geständnisse des Mafia Bosses und Auftragskiller des türkischen Staates, Sedat Peker, sowie die aktuellen und geschichtlichen Hintergründe aus.

Sedat Peker, der Auftragskillers des türkischen Staates und Mafiaboss, hat damit begonnen, Insiderwissen zu veröffentlichen. Wie bewerten Sie die Vorgänge?

Was die Verflechtung von Staat und Mafia angeht, befinden wir uns in einer sehr interessanten Phase. Wir haben unsere Erfahrungen aus den 90ern, es ist am wichtigsten zu wissen, worin diese Bandenbildung wurzelt. Was heute passiert, hat seine Wurzeln in der Geschichte, was gestern passiert ist, hat im Heute seine Spuren hinterlassen, das ist eine dialektische Wirklichkeit. Diese Epoche lässt sich bis zur letzten Regierung des Osmanischen Reiches, derjenigen der İttihat Terakki1, zurückverfolgen. In Sedat Pekers fünftem Video waren die Symbole der İttihat Terakki und der Teşkilat-i Mahsusa2 zu sehen, ein Zeichen dafür, das auch sie sich auf die İttihat Terakki beziehen. Am Ende seiner Videos sagt Sedat Peker immer: »Wir werden nie vom Ziel des Turan3 ablassen, wir werden die Einheit der Turkstaaten auf jeden Fall herstellen.«

Könnten diese Worte auch ein Zeichen dafür sein, dass er nicht allein ist?

Natürlich ist der nicht allein. Zwischen seinen Worten sagt er immer wieder »die Freunde haben mich gewarnt«. Die Freunde, von denen er spricht, sind seine eigene Organisation, seine eigene Bande.

In Bezug auf die 90er Jahre sind Sie eine der Personen, die, wie Musa Anter es formuliert hat, sowohl Zeug:innen als auch Verdächtige sind. Ihr Abgeordnetenmandat wurde aufgehoben, sie waren lange Jahre im Gefängnis. In den 90ern wurde häufig die Bezeichnung »Bandenstaat« benutzt. Wo nahm dieser seinen Anfang?

Am 15. August 1984 [Beginn des bewaffneten Kampfes der PKK] war Turgut Özal Ministerpräsident und Kenan Evren Präsident. Der Staat meinte damals über die PKK, »das sind drei bis fünf Rumtreiber, die werden in kurzer Zeit zerschlagen«. Im Gegenteil, die Guerilla wurde von Tag zu Tag stärker und verankerte sich in den Bergen Kurdistans. Der Staat machte daraufhin unterschiedliche Pläne. Zum Beispiel wurde das Dorfschützersystem aufgebaut, der Ausnahmezustand verhängt, die Spezialteamkräfte gegründet. Das Volk wehrte sich gegen diese Repressionen und die Serhildans4, die Volksaufstände, begannen. Kerboran (Dargeçit), Cizîr (Cizre), Nisêbîn (Nusaybin), kurz, die gesamte Botan-Region erhob sich mit den Serhildans.

Was den Staat dann richtig verärgerte, ereignete sich im Jahr 1991: Die Partei der Arbeit des Volkes (Halkın Emek Partisi, HEP) wurde gegründet. Die HEP betrat als eine von Kurd:innen, Alevit:innen und den werktätigen Schichten gemeinsam gegründete Partei die politische Bühne der Türkei. Der Staat traf auf eine dritte Kraft und beschloss, wichtige Maßnahmen zu ergreifen, weil er begriff, dass dieses Problem nicht auf die leichte Schulter genommen werden konnte.

Zu der Zeit wurde auch in Südkurdistan ein kurdisches Parlament gegründet. In diesem Zeitraum tauchten innerhalb des Staates zwei Strömungen auf. Die eine Strömung wurde von Özal angeführt und schlug eine demokratische Lösung der Kurd:innenfrage vor. Die, die dieser Strömung nahestanden, kamen zu der Erkenntnis: »In Südkurdistan wurde 1992 ein Parlament gegründet; die Kurden haben einen Schritt in Richtung eines Status, einen Schritt in Richtung Staatsbildung getan.« Wir haben uns damals selbst mit Özal getroffen, er selbst sagte zu uns: »Wir haben es mit dem Dorfschützersystem, mit Spezialkräften und Ausnahmezustand versucht, aber das hat alles nichts gebracht.« Es sah so aus, als hätten sie verstanden, dass die kurdische Frage nicht mit Gewalt zu lösen ist.

Und was dachte die andere Strömung im Staat?

Die andere Strömung setzte sich aus denjenigen zusammen, die immer noch meinten, dass sie mit Gewalt Ergebnisse erzielen könnten. Diese Politik dauert noch heute an. Die Kurd:innen kulturell und wenn nötig auch physisch auszulöschen ist das, was sie unter Lösung verstehen.

Diese die Gewalt verteidigende Strömung dominierte ab 1992 die staatliche Politik. Was war das Ergebnis? In den New­roztagen 1992 waren wir Abgeordnete der HEP, da haben sie das Feuer auf die Bevölkerung eröffnet; auf vollkommen unbewaffnete Menschen, die einfach nur friedlich demonstrieren wollten. 103 Menschen verloren in den Tagen ihr Leben. Fünf Monate später wurde Şirnex (Şırnak) unter Vortäuschung eines Gefechts angegriffen, dabei wurde die Stadt zerstört, viele Menschen verloren ihr Leben. Das war die Bestrafung für die Bevölkerung, die sich an den Serhildans beteiligt hatte.

1994 begann die Zeit, die zur Schließung der HEP führte. In diesen Tagen begannen sie auch eine gnadenlose Operation zur Vernichtung der Guerilla. Der neue Staat ging auch gegen die drei sich neu herauskristallisierenden Kräfte »Volk«, »HEP« und »Guerilla« mit Gewalt vor. Aber Özal, der voraussah, dass diese Gewaltpolitik zu keinen Ergebnissen führen würde, setzte sich über drei Kanäle mit der PKK in Verbindung.

Welche drei Kanäle?

Erstens über uns, die Abgeordneten der HEP; zweitens über Journalist:innen wie Cengiz Çandar und drittens über den Führer der YNK5, Celal Talabanî, Mam Celal. Über alle drei Kanäle richteten sie die gleiche Forderung: »Noch vor Newroz 1993 soll Herr Öcalan einen Waffenstillstand ausrufen, dieser Waffenstillstand soll unbefristet sein.« Özal sagte uns: »Wir haben einige Generäle überzeugt.« Zum Beispiel wurde Özal von Generälen wie dem Kommandanten der Militärpolizei, General Eşref Bitlis, oder Politikern wie Adnan Kahveci begleitet und diese wiederum bekamen von Özal große Unterstützung.

Wie bewertete Öcalan die Botschaften, die Özal ihm schickte?

Herr Öcalan erklärte, nachdem er die Botschaften erhalten hatte, am 17. März einen einmonatigen Waffenstillstand. Özal setzte sich mit uns in Verbindung und sandte eine Botschaft an Herrn Öcalan: »Das war ein positiver Schritt, aber damit auch wir einen Schritt machen können, muss der Waffenstillstand unbefristet sein.« Um diese Nachricht zu überbringen, reisten wir mit einer sechsköpfigen Delegation in die Bekaa-Ebene. Am 16. April 1993 erklärte Herr Öcalan bei einer Pressekonferenz, bei der auch Mam Celal und Cengiz Çandar dabei waren, einen unbefristeten Waffenstillstand. Wir waren natürlich sehr glücklich, denn wir hatten große Hoffnungen, dass der seit neun Jahren andauernde Krieg endlich zu Ende gehen könnte.

Und dann kam die Nachricht, dass Özal ums Leben gekommen war ...

Ja, am 17. April 1993 wollten wir über Damaskus mit dem Flugzeug nach Istanbul fliegen, an dem Morgen trafen wir unsere Reisevorbereitungen. Wir waren noch nicht in Damaskus, als uns Mam Celal die schlechte Nachricht überbrachte. Er hatte es in einem arabischen Radiosender gehört: Özal war am Morgen des 17. April verstorben. Ein interessantes Datum, oder? Ein Tag nach der Verlängerung des Waffenstillstands ... Özal wollte an dem Tag eine Pressekonferenz einberufen, um Öcalan zu antworten, und wir erhielten einige Stunden vor der Erklärung die Nachricht von seinem Tod.

Wie hat das auf Sie und auf Öcalan gewirkt? Wie haben Sie das interpretiert?

Wir waren niedergeschlagen. Bevor wir nach Damaskus kamen, hatten wir mit Herrn Öcalan gesprochen und er sagte uns ungefähr diese Sätze: »Özal wurde mit großer Wahrscheinlichkeit vom Staat getötet, denn es gibt seit dem Osmanischen Reich eine Tradition: Wer versagt, stirbt. Das ist eigentlich die Parole des İttihat ve Terakkî und auch die Regel des Teşkilât-i Mahşûşa. Dass Özal sich für eine friedliche Lösung an uns gewendet hat, wurde von den Anhängern des Völkermordes als Niederlage empfunden. Deshalb wurde Özal mit dem Tod bestraft.«

Später stellte sich anhand einer von seiner Familie in Auftrag gegebenen Untersuchung seiner Haare heraus, dass Özal vergiftet worden war.

Welche Form nahm die Staatspolitik nach Özals Tod an?

In den Jahren 1993–94 herrschte die Gewalt vollends. An Stelle von Özal wurde Süleyman Demirel Staatspräsident, Ministerpräsidentin wurde Tansu Çiller, die die Türkei selbst nicht besonders gut kannte. Çiller heizte die Gewalt an mit den Worte: »Ehre dem, der für den Staat schießt oder erschossen wird.« So wie heute Devlet Bahçeli, Vorsitzender der Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP), ein Bandenpatron ist, war es damals Alparslan Türkeş, der diese Rolle innehatte. Die Regierung bestand offiziell aus der DYP6 und der SHP7, aber der heimliche Koalitionspartner, ja vielleicht sogar richtungsweisend war Alparslan Türkeş.

Natürlich muss man, wenn man über die herrschende Politik der Gewalt nach Özals Tod spricht, auch über einige andere Themen sprechen, die noch heute eine Rolle spielen. Es gab noch zwei wichtige Ereignisse vor Özals Tod. Das eine war der Flugzeugabsturz über Ankara, bei dem Eşref Bitlis getötet wurde, und ein als Verkehrsunfall getarnter Anschlag, bei dem Adnan Kahveci ums Leben kam. Adnan Kahveci war eine wichtige Figur. Ich habe damals als Abgeordneter seinen Bericht »Wie kann die kurdische Frage nicht gelöst werden?« gelesen; es war ein sehr rationaler Bericht.

Was war der Inhalt des Berichts?

Er stellte fest, dass die kurdische Frage nicht mit Gewalt gelöst werden kann. Adnan Kahveci war auf eine Art Özals rechte Hand. Özal sagte nach seinem Tod: »Ich habe meinen Sohn verloren.« Der dominierende, Gewalt befürwortende İttihat Terakki Flügel, hat zunächst Özals Umfeld und dann Özal selbst liquidiert, um den Staat ganz zu übernehmen. Tansu Çiller war eine von ihnen; Alparslan wurde eine Art Koalitionspartner der Regierung und Demirel, der zu allem Ja und Amen sagte, der Präsident.

In den Jahren 1993 und 94 wurden fast 400 Mitglieder und Vorstandsmitglieder der HEP und der DEP (Demokrasi Partisi, Demokratiepartei) auf offener Straße hingerichtet. Es hat schätzungsweise 17.000 Morde gegeben, bei denen der Staat der Täter war, 4.500 Dörfer wurden niedergebrannt und zerstört.

War der Unfall von Susurluk ein Zufall?

Nein, das war er nicht. Alpaslan Türkeş sagte nach dem Unfall in einer Erklärung: »Das war Mord.« Es war auch später die Rede davon, dass der Geheimdienst MİT (Millî İstihbarat Teşkilâtı) diesen Unfall organisiert hat. Per Fernbedienung wurden die Bremsen des Wagens ausgeschaltet und der Wagen prallte von hinten auf einen LKW. Und wer saß in dem Auto? Sedat Bucak. Bucak war wichtig. Denn er war Abgeordnerter der DYP und nach der Tötung von Hakkı Bucak war er auch Stammesführer. Auf dem Anwesen der Bucaks war der Polizei der Zutritt verboten, denn er baute dort Marihuana an, aus dem Drogen hergestellt wurden. Mit ihm im Auto saß Hüseyin Kocadağ, der ein wichtiger Mann der Spezialkräfte war, er war damals im Dienst. Was brachte das ans Licht? Das Dreiecksgeflecht von Staat, Mafia und Politik ...

Von wem wurden sie denn hingerichtet und warum?

Der türkische Staat war nie homogen. Auch damals gab es im Staat einen realistischen Flügel. Und ich glaube, das ist heute genau so. Dieser Flügel setzte sich aus Menschen zusammen, die erkannten, dass diese Dinge zum kompletten Zusammenbruch des Staates führen würden und die Gesellschaft vollkommen verderben würde. Dass Mehmet Ağar8 damals im Drogenhandel tätig war, wurde auch durch MİT-Berichte enthüllt. Hätte man damals diese Banden zerschlagen können, müssten wir das alles nicht immer noch erleben ...

Eine Zeit lang erweckte es den Anschein, als habe sich die Mafia in den Hintergrund zurückgezogen. Was ist passiert, dass sie wieder die Hauptrolle übernommen habt?

Als 2015 der Krieg gegen die Kurd:innen erneut begonnen wurde, wurde sie von Erdoğan selbst in die staatliche Struktur mit einbezogen. Über Süleyman Soylu wird zum Beispiel gesagt, dass er der engste Vertraute von Mehmet Ağar sei. Es wird auch gesagt, dass Mehmet Ağar der eigentliche Innenminister der Türkei sei. Ağar hat überall an den Schaltstellen im Staat seine Leute positioniert.

Auch die Beziehung zwischen Ağar und Gülen stand mal auf der Agenda ...

Ja, Mehmet Ağar hat das auch zugegeben. Der aserbaidschanische Geschäftsmann Maşimo sagte aus, dass er ihn mit dem Wissen des Staates in die USA geschickt habe, um dort Fetullah Gülen zu treffen.

Sedat Peker nimmt Mehmet Ağar stark ins Visier. Um die Brücke zwischen Ağar und Erdoğan einzureißen, enthüllte er etwas, indem er fragte: »Hast du, als du im Gefängnis warst, den Brief, den Gülen dir geschickt hatte, nicht einrahmen lassen und aufgehängt?« Das ist sehr wichtig und legt die Verbindung zwischen Mehmet Ağar und Fetullah Gülen offen.

Solche Cliquenbezeihungen im Staat enden nie. Es gab in der Vergangenheit nur zwei islamische Strömungen, die sich in das staatliche Handeln verflochten haben: Eine gründete 1965 im staatlichen Interesse den Verein für dem Kampf gegen den Kommunismus, die andere spielte 1980 vor dem Putsch die Vorhut und unterstützte das Regime. Alle anderen stellten sich gegen das Regime. Eine der beiden genannten Strömungen war die Gemeinde des Fettullah Gülen, die andere war die Gemeinde des sogenannten Mehmet Kırkıncı Hoca aus Erzîrom (Erzurum).

Wenden wir uns dem Heute zu: Warum ist dieser Streit eskaliert?

Weil sich die Türkei in einer schweren ökonomischen Krise befindet und der Kuchen kleiner geworden ist.

Alaattin Çakıcı9 wurde frei gelassen, die MHP bestand darauf; und heute ist unter den mafiösen Akteuren Alaattin Çakıcı derjenige, der sich ganz auf die MHP stützt. In Bodrum hatten sie ein Foto gemacht, darauf waren alle Größen des »tiefen Staates« zu sehen außer Sedat Peker. Dass Peker ausgerechnet zu der Zeit ins Ausland ging, ist ebenfalls kein Zufall.

Ein Stück vom Kuchen abbekommen oder nicht, das ist die Frage. Sedat Peker sagt, er sei seit seinem 16. Lebensjahr ein Teil des Staates. Aber wie hat Sedat Peker die Türkei kennengelernt? Während des Susurluk Prozesses wurde er mit Veli Küçük und Korkut Eken gesehen; später wurde sein Name unter den Initiatoren des Mordes an Hrant Dink genannt.

Peker sagt zwar weiterhin »Tayyip Abi« (großer Bruder Tayyip), aber indem er gegen den Innenminister austeilt, schlägt er auch Erdoğan. Überlegen Sie mal, Erdoğan gibt normalerweise jedem eine Antwort, aber diesmal schweigt er. So etwas gibt es nirgendwo sonst auf der Welt. Auch die Staatsanwälte sind bisher nicht aktiv geworden.

Was fällt Ihnen auf, wenn Sie das heutige Mafia-Netzwerk mit dem der 90er Jahre vergleichen?

In den 90ern wurde immer gesagt »Der Staat benutzt einige Mafiastrukturen«, aber jetzt hat die Mafia die Macht im Staat ergriffen. Das Rechtssystem steht komplett unter ihrer Kontrolle.

Damit wären wir dann wieder bei der Frage, ob Sedat Peker allein ist oder nicht ...

Er ist auf keinen Fall allein, aber welche Rolle Erdoğan spielt, ist noch nicht ganz ersichtlich. Es gibt einige, die behaupten, dass Erdoğan auch im Visier steht, dass auch er bald geht.

Erdoğan wird sich Mitte Juni mit dem Präsidenten der USA, Joe Biden, treffen. Bei diesem Treffen könnte er sich in die Ecke gedrängt fühlen und sich den USA anvertrauen, dadurch könnte sich der Prozess ganz anders entwickeln. Erdoğan hat sich jedoch wegen Äußerungen zu den israelischen Angriffen gegen Gaza bei den USA sehr unbeliebt gemacht.

Erdoğan hat jetzt die Möglichkeit, sich unter die Befehlsgewalt der USA zu begeben, um sich zu retten. Ich schätze, dass er sich nach den Plänen der USA richten wird, weil die Umstände sonst seine vollständige Auslöschung bedeuten würde. Wenn es stimmt, dann ist es auch kein Zufall, dass Sedat Peker sich in den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) aufhält, schließlich sind die VAE Verbündete der USA.

Wie bewerten Sie die Reaktionen der Vorsitzenden der İyi Parti, Meral Akşener, auf Sedat Pekers Enthüllungen?

Meral Akşener, trägt den Code-Namen Asena und dieser Name wurde ihr von Abdullah Çatlı gegeben. Und wer wurde nach Ağar zur Innenministerin ernannt? Meral Akşener. Diese beiden Tatsachen beweisen die Verbindung zwischen ihnen. Ihre eigene und die Haltung ihrer Partei zur kurdischen Frage unterscheiden sich nicht von derjenigen der MHP.

Die Angriffe auf die Medya-Verteidigungsgebiete haben mit Billigung der USA stattgefunden. Will der türkische Staat hier seine letzte Chance nutzen?

Ohne die Billigung der USA hätte der türkische Staat das gar nicht machen können. Im Mittleren Osten gibt es unterschiedliche Entwicklungen. Zum Beispiel gibt es ganz aktuelle Entwicklungen in den Beziehungen zwischen den USA und dem Iran. Auch zwischen den USA und Russland taut das Eis. Sieht Erdoğan diese Entwicklungen nicht? Er sieht sie, und da er keine andere Möglichkeit mehr hat, unterwirft er sich ihrer Hegemonie und unterwirft sich der NATO.

Was führte zum Abbruch der Verhandlungen zwischen dem türkischen Staat und dem Repräsentanten des kurdischen Volkes, Abdullah Öcalan, sowie der kurdischen Befreiungsbewegung?

Die Ursache ist, dass der Staat drei Forderungen stellte:

  • Erstens, die Auflösung der drei in Nordsyrien gebildeten Kantone Kobanê, Efrîn und Qamişlo.
  • Zweitens, die Beteiligung der Volksverteidigungskräfte YPG an der komplett unter der Kontrolle des türkischen Staates stehenden FSA (Freie Syrische Armee).
  • Drittens, Erklärung des Krieges gegen Syrien

Diese drei Forderungen des türkischen Staates widersprachen der Strategie der PKK und Öcalans und haben beim Abbruch der Verhandlungen eine wichtige Rolle gespielt. Es ließ sich erahnen, dass die Ablehnung der Forderungen in diesem Prozess in einen Krieg münden könnte.

Die Angriffe des IS und die Pläne des Staates zur Niederschlagung der Revolution in Rojava begannen beide am 14. September 2014. Ein IS-Führer, der beim Widerstand von Kobanê gefangen genommen wurde, sollte später sagen: »Unser Ziel war eigentlich Damaskus, aber auf Wunsch des türkischen Präsidenten haben wir Kobanê zu unserem vorrangigen Ziel gemacht.« Das war die Niederlage des IS, ab da begann der Verlust der vom IS kontrollierten Gebiete.

Danach, gegen Ende des Jahres 2014, hat sich Erdoğan mit den Leuten von Ergenekon10 und der MHP insgeheim verständigt. Davor, bis Ende 2013, gab es eine Koalition mit der Fetullah Gülen-Gemeinde. Sie wissen ja, als zwischen ihnen im Verteilungskampf politische Unterschiede auftraten, begannen die Operationen vom 17.–25. Dezember. Im Anschluss daran, ging Erdoğan ein Bündnis mit Teilen des Ergenekon, der MHP und den Anhängern Perinçeks ein. Das hat im weiteren Verlauf dazu geführt, dass die Übereinkunft von Dolmabahçe nicht anerkannt wurde und der Vernichtungskrieg gegen Kurdistan begann.

Fußnoten:

1 - Das Komitee für Einheit und Fortschritt (osmanisch: İttihâd ve Terakkî Cem´iyeti), auch bekannt als Ittihadisten, war eine politische Organisation im Osmanischen Reich. Es war die treibende Kraft hinter der konstitutionellen Revolution von 1908 und dem Völkermord an den Armenier:innen und regierte mit kurzer Unterbrechung von 1908 bis 1918. Es war die mächtigste und langlebigste Partei der Bewegung der Jungtürken.

2 - Die Teşkilât-ı Mahşûşa (deutsch: Spezialorganisation) war eine Mischung aus Geheimorganisation und Guerillaorganisation des Komitees für Einheit und Fortschritt (İttihâd ve Terakkî Cemiyeti) im Osmanischen Reich.

3 - Turan bezeichnet heute das ursprüngliche Siedlungsgebiet der Turkvölker in Mittelasien. Das Wort hat eine pantur(k)anistische ideologische Nebenbedeutung (Konnotation): Es bezeichnet einen – durch den Kızıl Elma (»Roter Apfel« oder im Deutschen auch »Goldener Apfel«) symbolisierten – Staat, in dem alle Türken der Welt angeblich vereint sein sollen.

4 - Serhildan setzt sich zusammen aus den kurdischen Wörtern ser, was »Kopf« bedeutet, und hildan, was »erheben« bedeutet. Serhildan bedeutet also wörtlich übersetzt »den Kopf erheben« und hat die Bedeutung »Erhebung« oder »Aufstand«.

5 - Die Patriotische Union Kurdistans (Yekêtiy Nîştimaniy Kurdistan, YNK) ist eine kurdische Partei in Südkurdistan im Irak. Die Partei bildet die Opposition zur Demokratischen Partei Kurdistans PDK. Mit der Zeit näherte sich die Partei immer weiter der politischen Mitte, so dass sie heute ein Programm vertritt, das nach westlichen Maßstäben als sozialdemokratisch bezeichnet werden kann.

6 - Die Partei des Rechten Weges (Doğru Yol Partisi, DYP) ist eine Mitte-rechts ausgerichtete türkische Partei, die 1983 von Süleyman Demirel als Nachfolgeorganisation seiner früheren Gerechtigkeitspartei (Adalet Partisi, AP) gegründet wurde. 2007 wurde sie in Demokratische Partei (DP) umbenannt (in Anlehnung an die historische Demokratische Partei von 1946, dem Vorgänger der AP).

7 - Die Sosyaldemokrat Halkçı Parti, SHP (Sozialdemokratische Populistische Partei) war eine türkische Partei, die nach der Schließung der Cumhuriyet Halk Partisi (CHP) mit dem Militärputsch 1980 gegründet wurde, um die Wähler der CHP für sich zu gewinnen. Sie ging aus einem Zusammenschluss der Halkçı Parti und Sosyal Demokrasi Partisi am 3. November 1985 hervor. Das Parteiemblem zeigte sechs Pfeile, die von Olivenzweigen umgeben waren. Die Sosyaldemokrat Halkçı Parti fusionierte am 18. Februar 1995 mit der wieder gegründeten CHP.

8 - Mehmet Ağar, ehemaliger Generalpolizeipräsident der Türkei und Ex-Justizminister. Als Innenminister war Ağar in den sogenannten Susurluk-Skandal, bei dem die Zusammenarbeit zwischen Staat und organisiertem Verbrechen offenkundig wurde, verwickelt.

9 - Verurteilter Mörder und Mafiaboss. Nachdem Çakıcı wiederholt vom Geheimdienst MİT und vom MHP-Vorsitzenden Bahçeli im Gefängnis besucht worden war, wurde er 2020 auf Anordnung der Regierung amnestiert und entlassen.

10 - Die Ergenekon-Gruppe gilt als ein Kreis ultranationalistischer Kemalisten, die innerhalb des Militärs und des sogenannten tiefen Staates organisiert ist. Die AKP hat zunächst mit den Ergenekon-Prozessen zwischen 2007 und 2013 versucht, die Gruppe auszuschalten, weil diese als Gefahr für die eigene Machtstellung erachtet wurde. Nach dem Zerwürfnis mit dem Gülen-Orden suchte die AKP allerdings den Schulterschluss mit der Ergenekon-Gruppe. Ab 2016 wurden zahlreiche Mitglieder der Gruppe aus der Haft entlassen. Seither ist von einem inoffiziellen Machtbündnis zwischen der AKP, der Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) und der Ergenekon-Gruppe an der Spitze des türkischen Staates die Rede.


 Kurdistan Report 216 | Juli/August 2021