Editorial

Liebe Leserinnen und Leser,

Kurdistan Report 215 | Mai/Juni 2021die Entwicklungen der letzten Monate haben die immense Polarisierung zwischen demokratischen und unterdrückerischen Kräften in Kurdistan und im Mittleren Osten nochmals klar zum Ausdruck gebracht. Nach dem militärischen Fiasko der türkischen Armee im Februar gegen die Guerillaeinheiten der Volksverteidigungskräfte (HPG) in den südkurdischen Medya-Verteidigungsgebieten setzt der Staat seine Kriegs- und Eskalationspolitik unvermindert fort. Jüngste Ziele dieser Repressionsmaschinerie waren nun die Istanbul-Konvention und die Demokratische Partei der Völker (HDP). Mit dem Austritt aus dem Frauenschutz-Abkommen hat Erdoğans Türkei seinen patriarchalen und sexistischen Charakter erneut klar demonstriert. Parallel zu diesem Angriff auf die Errungenschaften der Frauenbewegung in der Türkei und Kurdistan ist die linke pluralistische HDP wieder in den politischen Fokus gerückt. Mit dem eingeleiteten Verbotsverfahren soll der kurdischen Gesellschaft und den demokratischen Kräften in der Türkei einmal mehr die Möglichkeit zur demokratischen Politik genommen werden. Der jüngste Versuch der Parteischließung reiht sich ein in die aggressive Politik gegen Kurdinnen und Kurden. Bereits Mitte Februar wurden in einer Repressionswelle über 700 Menschen festgenommen – darunter zahlreiche Mitglieder und kommunale Funktionsträgerinnen und Funktionsträger der HDP. Das kurdische Neujahrsfest Newroz wurde neben diesen Angriffen auf die Demokratie auch von Gerüchten in den sozialen Medien über den Gesundheitszustand Abdullah Öcalans überschattet. Massiver Protest ermöglichte daraufhin am 25. März ein kurzes Telefongespräch zwischen ihm und seinem Bruder Mehmet. Es wurde nach wenigen Minuten plötzlich unterbrochen. Seitdem gestellte Dringlichkeitsanträge werden von den türkischen Behörden ebenso ignoriert wie reguläre Besuchsanfragen.

Die Menschen ließen diese Angriffe auf ihren politischen Willen und ihre Würde nicht unbeantwortet. Trotz brutaler staatlicher Repression und anhaltender Corona-Pandemie taten Millionen ihren Protest kund. In Kurdistan wurde am Weltfrauentag für Frauenbefreiung und gegen Feminizid demonstriert. Die Frauenproteste in Kurdistan und der Türkei am 8. März waren die größten in der Region. Auch am 21. März feierten Millionen Kurdinnen und Kurden auf der ganzen Welt das Newroz-Fest und protestierten gleichzeitig unter dem Motto »Schluss mit Isolation, Faschismus und Besatzung – Zeit für Freiheit!« – in gewissem Maße auch ein Referendum für die Politik der kurdischen Freiheitsbewegung.

EU und Bundesregierung halten hingegen weiter an ihrer Appeasement-Politik fest. Das Treffen der EU-Spitzen mit dem türkischen Präsidenten Erdoğan Anfang April war in diesem Sinne ein Schlag ins Gesicht für alle Demokratinnen und Demokraten, die auf einen Einsatz für Menschenrechte und Demokratie gehofft hatten. Die andauernde Unterstützung für das türkische Regime vor allem durch die deutsche Bundesregierung trotz Menschenrechtsverletzungen, politischer Verfolgung der Opposition und völkerrechtswidriger Angriffskriege stellt jedoch nicht nur ein Problem für die kurdische Gesellschaft dar. Auch die internationale demokratische Gemeinschaft und vor allem die deutsche Zivilgesellschaft stehen in der Verantwortung, gegen ein menschenverachtendes Regime offen Haltung zu zeigen – durch eine noch stärkere internationale Solidarität mit den demokratischen Kräften in Kurdistan und der Türkei.

Eure Redaktion


Kurdistan Report 215 | Mai/Juni 2021