Auswertung der ersten Phase der Kampagne »100 Gründe gegen den Diktator«

Wir haben eine kollektive Kraft aufgebaut

Cenî – Frauenbüro für Frieden

Informationsstand zur Sammlung von Unterschriften für die Kampagne »100 Gründe, den Diktator zu verurteilen« in Hamburg am 3.2.2021 | Foto: anfMit dem 8. März 2021 endete die erste Phase unserer Kampagne »100 Gründe, den Diktator zu verurteilen«: das Sammeln von 100.000 Unterschriften. Es ist Zeit, eine kurze Bilanz zu ziehen, um die nächsten Schritte erfolgreich umsetzen zu können.

Momentan sind wir dabei, die eingegangenen Unterschriften auszuzählen und notariell bestätigen zu lassen. Das dauert eine ganze Weile, da wirklich von allen möglichen Orten dieser Welt Unterschriften eingegangen sind. In Kürze werden wir die offiziell bestätigte Anzahl der Unterschriften bekannt machen, aber wir können schon jetzt sagen, dass wir weit mehr als 100.000 Unterschriften gesammelt haben! Dieses Ziel haben wir nur mit vereinten Kräften erreicht, denn die Unterschriftensammlung fand unter äußerst widrigen Bedingungen statt: Aufgrund der Corona-Pandemie waren Infostände nur unter sehr strengen Auflagen erlaubt, es sind viel weniger Menschen unterwegs und sie halten sich viel kürzer als normalerweise draußen auf. Viele wollen nicht angesprochen werden, trotz ausreichendem Abstand.

Aufbau einer kollektiven Kraft

Dass es uns dennoch gelungen ist, unser gestecktes Ziel zu erreichen, verdanken wir vor allem dem unermüdlichen Einsatz der Frauen auf aller Welt und insbesondere den kurdischen Frauen. Sehr viele Menschen, denen wir von der Kampagne erzählten, hatten schon von der Kampagne gehört oder schon Unterschriftensammelnde getroffen. Denn sie haben einfach überall, wo sie waren – sei es auf der Straße, in der U-Bahn, in der Familie und ihrem Umfeld, auf der Arbeit – Unterschriften gesammelt. Und es ging dabei nicht bloß um eine Unterschrift. Wir hatten dadurch die Möglichkeit, mit Hunderttausenden von Frauen in Kontakt zu kommen und ihnen unser Anliegen darzulegen. Wir konnten ihnen von Angesicht zu Angesicht erzählen, worüber die Medien nicht berichten. Wir konnten sie über die Situation der Frauen in Kurdistan informieren und unseren Schmerz mit ihnen teilen. Wir konnten ihnen von den diktatorischen Zuständen in der Türkei erzählen und warum Erdoğan verurteilt werden muss. Wir konnten mit ihnen darüber sprechen, dass die Regierenden die Menschenrechte und Frauenrechte einfach nicht beachten und wir das so nicht länger hinnehmen werden. Wir konnten mit ihnen über die Morde an Frauen weltweit sprechen und wie wir uns dagegen organisieren. Das wichtigste jedoch war, dass wir ihnen eine Möglichkeit gegeben haben, sich mit ihrer Unterschrift an unserer Kampagne zu beteiligen und damit selbst etwas zu tun. Nicht länger darauf zu warten, dass die Regierenden etwas unternehmen werden, denn für sie werden immer wirtschaftliche und machtpolitische Interessen im Vordergrund stehen. Die Unterzeichnenden konnten sich mit ihrer Unterschrift mit den anderen 99.999 Menschen verbinden, die ebenfalls nicht länger stillschweigend zuschauen, wie immer mehr Frauen Opfer der feminizidalen Politik werden! Sie konnten damit ihre Solidarität mit den kurdischen Frauen zum Ausdruck bringen. Sie konnten sich am Unterschriftensammeln beteiligen. Und sie können nun noch viel mehr tun, indem sie sich in der neuen Phase der Kampagne an den weiteren Arbeiten beteiligen. Auch für uns war das Unterschriftensammeln ein wichtiger erster Schritt der Klarwerdung. Das Sammeln der Unterschriften hat uns dabei unterstützt, innerhalb der kurdischen Frauenbewegung, in unseren Institutionen, in unserer Gesellschaft, ein gemeinsames Bewusstsein aufzubauen und eine gemeinsame Analyse der Lage der Frauen zu entwickeln und die Angriffe gegen uns als systematisch zu verstehen. Wir können heute mit Stolz sagen, dass wir durch unsere Arbeit in der Öffentlichkeit und in den Familien eine kollektive Kraft aufgebaut haben ‒ eine gute Grundlage dafür, um gemeinsam die nächsten Schritte zu gehen.

Internationaler Kampf gegen Feminizide

Mittlerweile haben sich unserer Kampagne auch sehr viele bekannte Organisationen angeschlossen und verbreiten unsere Informationen und Aufrufe über ihre eigenen Kanäle. Insbesondere freut es uns, dass sich sowohl kolumbianische als auch tamilische Frauen (https://tfogermany.com/100-reasons/) ein Beispiel an unserer Kampagne genommen und auf ihre jeweils spezifische Situation bezogen eigene Kampagnen gestartet haben. Mit den Frauen in Argentinien und Mexiko, die bereits seit einigen Jahren eine Bewegung aufgebaut haben, um gegen den dort stattfindenden Feminizid vorzugehen, haben wir so eine internationale feministische Kraft geschaffen, die das Potential hat, sich gegen die feminizidale Politik weltweit zu organisieren.

In der kommenden Zeit werden wir unsere durch das Sammeln von Unterschriften, die dabei entstandene Unterstützung und kollektive Energie vor allem darauf lenken, das Thema Feminizid auf internationaler Ebene noch bekannter zu machen und zu bekämpfen. Wir möchten unsere Anstrengungen verstärken, Druck auf die internationalen Institutionen aufzubauen, um den Feminizid als Verbrechen im internationalen Recht zu verankern. Hierfür werden wir mit verschiedenen Frauenorganisationen Veranstaltungen für ein alternatives Gerechtigkeitssystem organisieren, bei denen wir Verbrechen aufdecken, aus unserer Perspektive bewerten, was uns Frauen tagtäglich zustößt und selbstbestimmt Rechenschaft dafür einfordern. Des Weiteren verfolgen wir weiterhin die rechtliche Entwicklung der Fälle der ermordeten Frauen. Wir haben verschiedenste Rechtsanwältinnen zusammengebracht, die von nun an das weitere rechtliche Vorgehen miteinander koordinieren werden. Insbesondere die Hinrichtung der drei kurdischen Revolutionärinnen mitten in Paris steht wieder auf der Tagesordnung, nachdem der ehemalige Leiter der Geheimdienstabteilung des Generalstabs, Ismail Hakkı Pekin, in einer am 16. Februar 2021 bei CNN Türk ausgestrahlten Fernsehsendung einräumte, dass es sich bei den Morden in Paris im Jahr 2013 um einen Auftrag des türkischen Staates gehandelt habe und er mit weiteren Morden in Europa drohte.

Feminizid in Efrîn als einer der nächsten Schwerpunkte

Wir haben zudem beschlossen, im Rahmen der Kampagne einen Schwerpunkt auf die Frauen aus Efrîn zu legen. 20 der für unsere Kampagne ausgewählten Frauen stammten von dort. Die brutale Gewalt, die ihnen widerfahren ist, dauert bis heute an, da Efrîn auch nach drei Jahren noch immer unter Besatzung steht. Tagtäglich finden unter der türkischer Besatzung Verbrechen der schlimmsten Art statt. Frauen werden entführt, vergewaltigt, gefoltert und getötet. Bis heute wurden mehr als 200 Frauen nachweislich entführt, von denen über 100 ermordet wurden. Die Dunkelziffer liegt um ein Vielfaches höher. Neben der physischen Gewalt wurden die weitreichenden Errungenschaften, die mit der Revolution gegen das Regime von den Frauen erkämpft wurden, zerstört. Das Ausmaß der politischen Diskriminierung wird beispielsweise deutlich, wenn wir die politische Repräsentation der Frauen betrachten. Während vor der Besatzung autonome Frauenstrukturen in allen Lebensbereichen aufgebaut wurden, eine Geschlechterquote von 40 % und das Prinzip des Ko-Vorsitzes existierte, machen Frauen heute weniger als 10 % der Mitglieder der von der Türkei eingesetzten lokalen »Regierungen« aus. Einige von der Türkei unterstützten Strukturen haben überhaupt keine weiblichen Mitglieder. Keine einzige Frau ist derzeit in einer politischen Führungsposition in Efrîn tätig. Nach Angaben der Untersuchungskommission der Vereinten Nationen zu Syrien haben die Muster der Diskriminierung und Gewalt gegen Frauen durch die Besatzungsmächte in Efrîn ein »allgegenwärtiges Klima der Angst« geschaffen, das »sie tatsächlich auf ihre Häuser beschränkt hat«. Viele Frauen und ihre Familien sind sogar gerade wegen der Bedrohung durch sexuelle und geschlechtsspezifische Gewalt aus Efrîn geflohen, was darauf hindeutet, dass diese Verbrechen eine Rolle bei der Massenvertreibung und dem erzwungenen demografischen Wandel spielen. Dieser illegale und unmoralische Krieg gegen Frauen darf nicht länger weitergehen. Wir können diese Situation nicht länger hinnehmen und fordern in einem offenen Brief gemeinsam mit weiteren Frauenorganisationen wie awid (Association for Women›s Rights in Development), International Women‘s Alliance, Deutscher Frauenring, Terre des Femmes, filia.die frauenstiftung, Internationale Frauenliga für Frieden und Freiheit, Kongreya Star, der Dachverband Êzîdischer Frauenräte und die Kurdische Frauenbewegung in Europa TJK-E die internationale Staatengemeinschaft zum Handeln auf.

Ein weiterer Arbeitsbereich im Rahmen der Kampagne wird die inhaltliche Auseinandersetzung mit Feminizid sein. Wir werden eine Veranstaltungsreihe organisieren, in der wir die verschiedenen Aspekte des Feminizids aufgreifen, um unsere Perspektive auf und Wissen über den Feminizid gemeinsam zu vertiefen. Wir möchten darin aufzeigen, wie Morde an Frauen aus ihrem nahen Umfeld, politische Morde an Frauen, Genitalverstümmelung, Gewalt an Frauen, Vergewaltigung als Kriegswaffe zusammenhängen und Teil einer systematischen feminizidalen Politik sind. Des Weiteren wollen wir eine Veranstaltung machen, welche die unterschiedlichen und doch sehr ähnlichen Formen von Feminiziden in den unterschiedlichen Regionen unserer Erde, wie etwa in Lateinamerika, Kurdistan und den tamilischen Regionen zur Sprache bringt. Und nicht zuletzt werden wir uns aus aktuellem Anlass mit der Bedeutung der Istanbul-Konvention für unseren Kampf gegen feminizidale Politik auseinandersetzen.

Nicht nur der per Präsidialdekret des Diktator Erdoğans beschlossene Austritt aus der Istanbul-Konvention fällt in die Zeit unserer Kampagne. In der kurzen Zeit, die unsere Kampagne nun läuft, sind bereits mehrere weitere Frauen auf brutale Art und Weise ermordet und misshandelt worden. Nur wenige Tage nach Beginn der Kampagne mussten wir erfahren, dass in Êlih (Batman) eine junge kurdische Frau von mindestens 27 Männern, darunter auch Polizisten und Offiziere, über Monate hinweg systematisch vergewaltigt wurde. Ende Dezember erreichte uns die Nachricht von der Ermordung der Aktivistin Karima Baloch, die unaufhaltsam für ein unabhängiges Belutschistan kämpfte. Am 16. Januar erfuhren wir, dass die Armenierin Alvard Tovmasyan, die im Oktober 2020 entführt wurde, mit abgeschnittenen Händen und Füßen tot aufgefunden wurde. Am 22. Januar 2021 wurden die Ko-Vorsitzende des Zivilrats der Gemeinde Til Sheir, Sada al-Harmoush, und ihre Stellvertreterin, Hind al-Khedr, die gleichzeitig für das Ökonomie-Komitee zuständig war, von IS-Dschihadisten entführt und enthauptet. Während dies vor Jahren noch zu einem weltweiten Aufschrei geführt hätte, wurde in den internationalen Medien nicht darüber berichtet. Darüber hinaus werden tagtäglich Frauen auf der ganzen Welt umgebracht. Auch der politische Vernichtungsfeldzug gegen Aktivistinnen, Journalistinnen und Politikerinnen geht weiter. Am 5. April gab es erneut eine Verhaftungswelle bekannter Aktivistinnen in Amed (Diyarbakır), insbesondere der Frauenverein Rosa ist erneut zur Zielscheibe der staatlichen Repression geworden. Gegen die Demokratische Partei der Völker (HDP), welche sich unermüdlich für Frauenrechte, ein Ende der Gewalt an Frauen und den Aufbau einer demokratischen Gesellschaft auf Grundlage von Geschlechterbefreiung einsetzt, ist ein Verbotsverfahren eingeleitet worden.

All das zeigt uns, dass unsere Kampagne genau zur richtigen Zeit stattfindet und nötiger denn je ist. Der Feminizid hört nicht auf und wir müssen auf jeden Mord, jeden Versuch, uns zum Schweigen zu bringen, eine Antwort geben, indem wir unsere Organisierung und unseren Kampf verstärken!


Kurdistan Report 215 | Mai/Juni 2021