Ein Lied für die Frauenrevolution und den internationalistischen Widerstand
Ballem – Lasst uns tanzen
Nûjîn Derya / Andrea Wolf Institut
Zum internationalen Frauen*kampftag am 8. März 2021 ist das Lied Ballem erschienen. Auf katalan, kurdisch, spanisch und deutsch ruft es dazu auf, uns zusammenzutun, gemeinsam zu kämpfen und zu tanzen. Es ist ein gemeinsames Projekt des Andrea Wolf Instituts, mit verschiedenen Musikerinnen und Hunergeha Welat1. Ballem ist allen Frauen im Widerstand und den vielfältigen Kämpfen gegen das Patriarchat auf der ganzen Welt gewidmet – ein Lied der internationalistischen Solidarität, für eine Revolution der Frauen, von der wir längst Teil sind.
Wie das Lied entstanden ist
Musik ist Teil unseres Lebens, eine Form des Zusammenkommens, eine Form des Austauschs auf anderen Ebenen. Wir leben und arbeiten zusammen, manchmal sitzen wir Abends am Feuer und singen, wir teilen revolutionäre Lieder aus verschiedenen Regionen der Welt, wir hören Musik auf dem Weg, manchmal schreiben wir Texte oder wir summen Melodien, während wir im Garten arbeiten. In diesem Sinne ist die Musikgruppe »Koma Andrea Wolf« aus einer Initiative im Alltag des Andrea Wolf Instituts entstanden. Als eine Form, unseren gemeinsamen Kämpfen Ausdruck zu verleihen. Die Gruppe hat wechselnde Mitglieder, uns verbindet die Perspektive der Jineolojî und der internationalistischen Organisierung.
Jineolojî bedeutet Wissenschaft der Frauen und des Lebens, Wissenschaft der Gesellschaft und der Revolution. Jineolojî bedeutet Alternativen zur patriarchalen Mentalität zu entwickeln, zu forschen, die eigene Geschichte zu verstehen, die Ursachen gesellschaftlicher Probleme zu begreifen um etwas verändern zu können, den Wurzeln nachzugehen und all das vergessene und zum Schweigen gebrachte Wissen hervorzubringen, welches Frauen und gesellschaftliche Freiheitsbewegungen seit jeher hatten. Jineolojî bedeutet Verbindung, Erinnerung, Weitergabe von Wissen. Und Jineolojî bedeutet, auf Grundlage dieses Wissens gesellschaftliche Alternativen zum bestehenden patriarchalen, kapitalistischen System zu entwickeln und diese zu verteidigen.
Wenn wir beginnen, Wissen neu zu bestimmen, merken wir, dass Wissen sich nicht abstrakt und allein durch ein paar Worte ausdrücken lässt. Wissen lebt in der Art und Weise wie wir kommunizieren, denken, fühlen und handeln. Wissen ist gesellschaftlich, es ist mit unserer Umwelt und der politischen und gesellschaftlichen Situation der jeweiligen Zeit verbunden. Es verbindet Geschichte, Erfahrungen, Analysen, Gedanken und Gefühle. Seit jeher haben Menschen und ganze Gesellschaften ihr Wissen auch durch Lieder, Rhythmen, Gesänge und Melodien ausgedrückt und über Generationen hinweg weitergegeben. Musik ist ein Spiegel unseres Lebens, unserer Gesellschaften und Bewegungen und kann doch über das Bestehende hinausweisen.
Ballem ist durch Begegnungen im Andrea Wolf Institut der Jineolojî Akademie entstanden. Wir leben und arbeiten zusammen. Eine von uns hatte die Melodie im Sinn, wir haben daraufhin begonnen, in verschiedenen Sprachen Texte dazu zu schreiben. An verschiedenen Orten saßen wir zusammen und haben an der Melodie gefeilt, die Strophen aufeinander abgestimmt, Teile des Textes nochmal verändert und ausprobiert. Eine Freundin und Cellistin in Katalonien, Marta Roma, war begeistert von der Idee des Liedes und hat uns dazu improvisierte Cello Aufnahmen geschickt. Dann kam die Idee, das Lied nicht nur für die Freund_innen um uns herum zu machen, sondern es aufzunehmen, um es in weiteren Kreisen teilen zu können. Die Freund_innen von Hunergeha Welat fanden die Idee sehr gut und haben vorgeschlagen, die Aufnahmen gemeinsam im Studio zu machen. Wir waren im Austausch mit Mizgîn Tahîr, die wiederum viele Ideen für die Musik und die Begleitinstrumente hatte und einen Teil des Liedes auf Kurdisch verfasst hat. Sie stammt aus Rojava und lebte und arbeitete als Sängerin in Damaskus, Amed und an anderen Orten. Mit der Revolution kam sie zurück nach Rojava und lebte mit ihrer Familie in Serêkaniyê, bevor die Stadt besetzt wurde und sie wie Tausende andere mit ihrem Mann und ihren Kindern zur Flucht gezwungen war. Nun lebt sie in Qamişlo, singt, komponiert, gibt Musikunterricht und arbeitet unter anderem daran, ein Orchester für Kinder aufzubauen. Diyana Mûrad, die ebenfalls auf kurdisch singt, lebt in einer Kommune junger Frauen, die Teil von Kevana Zerîn ist, der »Frauen Kunst und Kultur Bewegung«. Die Frauen von Kevana Zerîn sind gerade dabei, ein eigenes Studio aufzubauen und lernen die Technik. Die Aufnahme von Diyanas Part war einer der ersten praktischen Versuche im neu entstehenden Studio.
Am 6. März haben wir das Lied bei einem großen Fest zum ersten Mal auf der Bühne aufgeführt. Anlässlich des 8. März waren an diesem Tag tausende Frauen aus verschiedenen Teilen Nord- und Ostsyriens in Qamişlo zusammengekommen. Zahlreiche Gruppen haben mit Tänzen, Musik und Reden zum Fest beigetragen. Als Zeichen internationalistischer Kämpfe haben wir die Kleidung von Bewegungen unserer Regionen getragen: Eine YPJ-Uniform, ein kurdisches Kleid, die Kleidung der indischen Naxalite-Guerilla, die einfache Kleidung der Partisan_innen, die im 20ten Jahrhundert in vielen Regionen Europas gegen Faschismus und für eine freie Gesellschaft gekämpft haben. Das Fest zum 8. März und all die Frauen ließen uns die Kraft der Frauenrevolution spüren.
Witches united, haben ein Feuer entfacht
Der Liedtext von Ballem umfasst verschiedene Sprachen: Katalan, Kurdisch, Spanisch, Deutsch und ein paar Worte Englisch. Besonders Kurdisch und Katalan sind Sprachen, die im Rahmen von nationalistischen und imperialistischen Assimilations-Politiken verboten und abgewertet wurden. Das Recht auf Bildung und Ausdruck in der eigenen Muttersprache, die Anerkennung gesellschaftlicher Wurzeln und politischer Selbstbestimmung sind wichtige Grundlagen des demokratischen Konföderalismus.
In den ersten Zeilen des Textes auf Katalan geht es um die lange Geschichte der Widerstände, Generationen von Frauen, die für Befreiung und gegen das Patriarchat gekämpft haben. Auf ihren Spuren und mit ihrem Erbe führen wir die Kämpfe weiter. Es geht auch um die herrschende Geschichtsschreibung, in der die Geschichte der Frauen und der Widerstände einfach nicht vorkommen. Es geht um die zahlreichen Frauen, die als Hexen verbrannt wurden – weil ihre Existenz und ihr Wissen der Herrschaft im Wege standen: »Sie fürchten uns, deshalb haben sie uns verbrannt. Aber sie wissen nicht, dass wir Feuer sind, die brennende Flamme, die niemals erlischt.«
In den Zeilen auf deutsch geht es darum, wie wir fragend voranschreiten und die Revolution als einen Weg begreifen. Es geht um die Diversität der Kämpfe und darum, dass wir viele sind: »Und ja, wir sind Viele, und wir sind überall: in den Städten, in den Wäldern, in den Dörfern, Heval.« Das ist eine Solidaritätsbotschaft an all diejenigen, die sich trotz schwieriger Umstände in den Städten und Metropolen organisieren. An diejenigen, die in den Dörfern und ländlichen Gebieten Kommunen, Kooperativen und andere Strukturen der Selbstorganisierung aufbauen. Es ist ein Gruß an diejenigen, die die Wälder, Urwälder und Landschaften gegen kapitalistische Ausbeutung, Kolonisierung und Umweltzerstörung verteidigen. Denn »Widerstand ist Leben – und unser Widerstand wächst«. In all diesen Gebieten entstehen Alternativen zum kapitalistischen System, die einander ergänzen und wie verschiedene Teile eines Ökosystems strategisch miteinander verbunden sind.
Im spanischen Teil des Liedes geht es um die Verbundenheit mit der Natur, mit den Elementen und miteinander, es geht um Schwesternschaft und Hoffnung. »Ich stehe auf, ich teile, wir kämpfen, und am Ende... gewinnen wir.« Der kurdische Teil des Liedes spricht davon, wie Frauen überall auf der Welt für Freiheit und das Recht auf Leben eintreten. »Gemeinsam, Hand in Hand, Frauen im Widerstand, schreiben die Geschichte ihrer Existenz!« Das Lied endet mit dem Aufruf, sich gegenseitig zu unterstützen, »von der Umarmung einer Mutter, bis zum Horizont des Wissens, Jin Jiyan Azadî!«
Die Aufnahmen für das Video zu Ballem sind zu einem großen Teil im Frauendorf Jinwar entstanden. Jinwar ist eines der Beispiele dafür, wie Frauen gemeinsam ein neues Leben aufbauen können. In Jinwar organisieren sich Frauen unterschiedlicher kultureller und religiöser Hintergründe zusammen. Der Dorfrat, die kommunale Ökonomie und Landwirtschaft, freiheitliche Bildung und geteilte Verantwortung für Kinder sind grundlegende Aspekte der demokratischen Autonomie, die sich in verschiedenen Formen überall auf der Welt finden.
Es braucht mehr solcher Orte und es ist unsere Aufgabe, die bestehenden Kämpfe und alternativen Strukturen mehr miteinander zu verbinden, um voneinander zu lernen, uns zu koordinieren, weiter zu entwickeln und uns gegen Angriffe verteidigen zu können. Denn: »Wenn sie eine* von uns angreifen, werden wir alle antworten!«
Neue Schritte revolutionärer Organisierung
Die Revolution in Nord- und Ostsyrien befindet sich in einer neuen Phase. Es ist nicht mehr die Aufregung über die allerersten Schritte einer neugeborenen Revolution, sondern es geht mehr denn je um langfristige Perspektiven und die Frage, wie die Errungenschaften der Revolution lebendig weiter entwickelt und verteidigt werden können. Die ständigen militärischen, politischen, psychologischen, ideologischen und wirtschaftlichen Angriffe zielen auf die Zermürbung der Bevölkerung und insbesondere der Frauen ab.
Ballem ist auch ein Statement dafür, für revolutionäre Errungenschaften zu kämpfen, sich bewusst zu sein, wie viel Wert die gemachten Schritte sind und sich dennoch niemals mit dem was ist zufrieden zu geben. Entgegen dem Versuch der Staaten, Befreiungsbewegungen an einzelnen Orten zu isolieren und gesellschaftliche Kräfte gegeneinander auszuspielen, gilt es, bei den Punkten anzusetzen, die unsere Kämpfe verbinden.
Wir müssen einander noch viel besser kennen lernen, die Bündnisse, Netzwerke und gemeinsame Organisierung stärken. Lieder wie Ballem können Teil einer internationalistischen Widerstandskultur sein, die wir tagtäglich leben und weitergeben.
»Wir werden weiterkämpfen, jetzt können sie uns nicht mehr aufhalten.«
Ballem Esta canción va dedicada a todas las mujeres que han resistido, resisten y resistiran al patriarcado. Arrels creixen, les nostres ancestres. La història és viva però ells l›amaguen. BALLEM! FEM CERCLES DE BRUIXES. Wir gehen fragend, denn der Weg ist der Weg wenn wir sehn Und ja wir sind viele, und wir sind überall CELLO Naciendo, deshaciendo recuerdos que nos refugian y protegen, Llancem espurnes d›autodefensa, Bi rewaya mafê jiyanê Jin piştgira jinê be |
Deutsche Übersetzung des Liedtextes BALLEM – LASST UNS TANZEN Dieses Lied ist allen Frauen gewidmet, Wurzeln wachsen, unsere Vorfahren Die Geschichte ist lebendig, aber sie wird verschwiegen. Wir gehen fragend, denn der Weg ist der Weg, wenn wir sehen Und ja, wir sind viele und wir sind überall CELLO Gebären und vergehen, Erinnerungen, die uns beherbergen und schützen, Gefährtinnen des Schmerzes, der Hoffnung, des Herzens CHORUS Wir werfen Funken der Selbstverteidigung, Mit der Legitimität des Rechts auf Leben Frauen unterstützt euch gegenseitig |
1 - Hunergeha Welat sind Musiker_innen, Künstler_innen und Tontechniker_innen, die in Nord- und Ostsyrien Studioaufnahmen machen und Musik produzieren. Sie sind als Teil von Tev-Çand organisiert, der Bewegung Demokratischer Kultur und Kunst Mesopotamiens.
Kurdistan Report 215 | Mai/Juni 2021