Die fortgesetzte Isolation ist eine Schande
Clare Baker, Sprecherin der Gewerkschaftsbewegung »Unite the Union« in Großbritannien, im Gespräch mit der Frauenzeitschrift Newaya Jin
Die Kampagne »Freedom for Öcalan« (Freiheit für Öcalan), welche Sie im Namen der »Unite the Union« im Jahr 2016 ins Leben gerufen haben, hat mittlerweile ein breites Publikum erreicht. Können Sie uns ein paar Details zu der Kampagne geben? Wie schätzen Sie selbst die Bemühungen und Initiativen rund um die Kampagne ein?
Die Kampagne wurde 2016 offiziell im britischen Parlament von den beiden Gewerkschaften »Unite the Union« (kurz Unite) und »General, Municipal, Boilermakers and Allied Trade Union« (GMB) ausgerufen. Seitdem haben sich ihr fünfzehn nationale Gewerkschaften, der »Trades Union Congress« (TUC) und die Gewerkschaftskanzlei Thompsons angeschlossen. Die Ko-Vorsitzenden sind Simon Dubbins, Direktor innerhalb der Unite, und die Labour Politikerin Christine Blower.
Im Fokus der Kampagne steht in erster Linie die Freiheit Abdullah Öcalans, aber natürlich setzen wir uns auch für den Frieden in der Region und die Freilassung aller politischen Gefangenen in der Türkei ein. Unsere Arbeit richtet sich auch gegen die Invasion in den freien Kantonen Rojavas und Nord-und Ostsyriens und macht sich für den Abzug der türkisch-dschihadistischen Besatzungstruppen aus den kurdischen Gebieten stark.
Im Rahmen der Kampagne haben mehrere Veranstaltungen mit großer Wirkung stattgefunden. Dabei lassen sich insbesondere die folgenden vier nennen:
- Unsere Kampagne war das internationale Thema der »Durham Miners Gala« 2018 und ist seitdem dort verankert. Es ist eine der ältesten und größten Veranstaltungen der Arbeiterklasse innerhalb Großbritanniens. Im Rahmen dessen findet traditionell auch immer eine große Demonstration durch die Stadt statt, wobei die Teilnehmenden die Fahnen ihrer Organisationen hochhalten und Musik aus jedem Zweig spielen. Der Marsch führt zu einem großen Platz, wo eine riesige Kundgebung mit Reden geprägt von politischer Solidarität abgehalten wird. In der Regel nehmen 150.000 bis 200.000 Menschen daran teil, die sich somit auch mit unserer Kampagne befasst haben. Ibrahim Dogus1 sprach zuletzt auf der Demonstration im Namen der Kampagne und viele der prominenten RednerInnen sprachen ebenfalls von der Notwendigkeit der Freilassung Herrn Öcalans und der Solidarität mit der kurdischen Gesellschaft.
- Im Jahr 2018 haben wir außerdem eine Veranstaltung im Rathaus von London organisiert. Damals versuchte die türkische Botschaft dies zu verhindern, indem sie Druck auf den Londoner Bürgermeister Sadiq Khan und die GeneralsekretärInnen der Gewerkschaften, die an der Kampagne beteiligt sind, auszuüben. Alle GeneralsekretärInnen verfassten daraufhin eine klare Absage an die Botschaft, boten aber im gleichen Zuge an, ein Treffen zu ermöglichen, bei dem in Ruhe erklärt werden könne, warum die Gewerkschaftsbewegung die Freilassung von Herrn Öcalan fordert. Leider ist die Botschaft bis heute nicht auf das Angebot eingegangen.
- Bei der zweitgrößten Veranstaltung der Arbeiterklasse in Großbritannien, dem »Tolpuddle Martyrs Festival«, gelang es uns 2019 ebenfalls, unsere Kampagne zu dem internationalen Programmpunkt zu machen. Auch hier nahmen etwa 100.000 Menschen teil. Genau wie in Durham zuvor gelang es uns auch hier, die Kampagne vorzustellen, zu erweitern und die kurdische Kultur bekannt zu machen.
- 2019 führten wir dann eine Aktion bei der TUC Konferenz durch, bei der alle anwesenden Delegierten ein Bild Abdullah Öcalans in die Höhe hielten um Solidarität und Unterstützung auszudrücken. Auch wenn es sich hierbei um eine einfache Aktion handeln mag, sollte ihre Bedeutung nicht unterschätzt werden und vor allem nicht der Effekt, den dies auf die globale Gewerkschaftsbewegung hat.
Die Pandemie hat uns offensichtlich genau so wie viele andere Kampagnen auch getroffen, sodass wir nicht so konstant weiter wachsen konnten wie zuvor. Trotzdem haben wir es letztes Jahr geschafft eine Onlineveranstaltung zu organisieren, an der Gewerkschaften aus Südafrika, Frankreich, Spanien und Island teilgenommen haben.
Wir sind in einer verhältnismäßig kurzen Zeit sehr weit gekommen und sind stolz auf das, was wir bisher mit unserer Arbeit erreicht haben. Die Aufmerksamkeit, die wir auf die Situation der kurdischen Gesellschaft lenken konnten, in Verbindung zu der sozialen und politischen Struktur, die sie aufgebaut hat, und das im Zusammenhang mit Herrn Öcalan, ist sehr wichtig. Trotzdem liegt selbstverständlich noch ein weiter Weg vor uns.
Die zentrale Forderung der Kampagne ist die Freiheit Abdullah Öcalans, der sich seit mittlerweile 22 Jahren in Haft befindet. Das Regime in Ankara hat die Bedingungen der Isolation weiter verschärft, es gibt keinen Kontakt zu Herrn Öcalan, er ist von der Welt komplett abgeschnitten. Wie schätzen Sie diese Politik des türkischen Staates ein?
Die Politik des türkischen Ministerpräsidenten Erdoğan, die zur Isolation Herrn Öcalans führt, ist nicht nur als ein Versuch zu werten ihn als Person zu isolieren, sondern stellt vielmehr den Versuch dar, seine Ideen und die durch sie inspirierten Menschen zu isolieren. KurdInnen, Frauen, GewerkschafterInnen, LehrerInnen, JournalistInnen, oppositionelle Parteien und der Frieden selbst sind ständigen Angriffen Ankaras ausgesetzt. Die Situation der Unterdrückung, mit der sich jede dieser genannten Gruppen in der Türkei und in den Einflussgebieten des türkischen Staates konfrontiert sieht, ist unmittelbar mit der Haftsituation und Isolierung von Herrn Öcalan verbunden.
Die Isolation und die illegalen Bedingungen Herrn Öcalans stellen eine Form der Folter dar und verletzen die Menschenrechte. Trotzdem schweigen Institutionen wie das Europäische Komitee zur Prävention von Folter (CPT) konstant seit 22 Jahren. Wie bewerten Sie dies? Ist das Schweigen nicht eine politische Aussage?
Es gibt zahlreiche geopolitische Interessen, die die internationale Staatengemeinschaft davon abhält, den türkischen Staat für seine Menschen-, Zivil- und Arbeitsrechtsverletzungen zur Verantwortung zu ziehen.
Zu diesem Komplex gehört, dass der türkische Staat die EU mit der tragischen Situation der großen Zahl an Geflüchteten, die vor dem Krieg in Syrien geflohen sind, erpresst. Die Angst der EU-Mitgliedsstaaten vor der so genannten Flüchtlingskrise lähmt sie; wenn das Land für sie nicht so eine geopolitisch wichtige Funktion inne hätte, würden sie anders mit dem türkischen Staat umgehen. So hat die EU beispielsweise nicht lange gezögert, die Lage in Myanmar und Weißrussland zu verurteilen.
Dadurch, dass die internationale Staatengemeinschaft die kurdische Freiheitsbewegung als terroristische Vereinigung abgestempelt hat, hat sie es Erdoğan ermöglicht, im Prinzip ohne jegliche Einschränkung den Krieg gegen KurdInnen sowohl innerhalb als auch außerhalb der eigenen Staatsgrenzen fortzuführen.
Dies hat den türkischen Staat in die Lage versetzt, sich weiterhin in einer Weise zu verhalten, die der internationalen Gemeinschaft selbst Probleme bereitet. Als Beispiel können wir ihre Aggression in Libyen, im Aserbaidschan-Armenien Krieg, in Nord- und Ostsyrien, im Irak, gegen Griechenland und gegen internationale Konventionen und Verträge, sowie ihr Einsatz von ehemaligen IS-Kämpfern nennen. Das alles sind Probleme für die EU, für die NATO, für die USA und für die internationale Gemeinschaft als Ganzes. Es ist eine Spirale, die nur dann enden kann, wenn der türkische Staat zur Rechenschaft gezogen wird und es eine ernsthafte Bemühung um Frieden gibt, einschließlich der Freilassung von Herrn Öcalan.
Seine Isolation ist laut der von der UN festgesetzten Maßstäbe eine Form der Folter. Die Inaktivität der internationalen Gemeinschaft macht sie somit zum Komplizen dieser Folter.
Könnte Abdullah Öcalans neues Paradigma der »demokratischen Moderne«, die auf der Befreiung der Frau basierende Alternative zur kapitalistischen Moderne, welche auf der Ausbeutung der Frauen, der Individuen und der Arbeit fußt, ein Grund dafür sein? Ich meine damit das Zusammenrücken von Staaten im Rahmen der Fortführung von Isolation und Gefangenschaft.
Die Schriften Herrn Öcalans über die Befreiung der Frau, die die Inspiration für das neue Gesellschaftsmodell in Rojava darstellen, stehen in absolutem Gegensatz zu dem Kurs, den die Regierung des türkischen Staates eingeschlagen hat. In der Türkei werden religiöse und konservative Werte immer weiter in den Vordergrund gestellt. Insbesondere die Rechte der Frauen werden mit Füßen getreten. Das von Öcalan vorgeschlagene Gesellschaftsmodell der Frauenbefreiung und der demokratischen Moderne ist deshalb eine direkte Provokation für Erdoğan.
Allein die Existenz Rojavas jenseits der türkischen Staatsgrenzen und das System des Ko-Vorsitzes im Südosten der Türkei stellen für Ankara eine Bedrohung dar, auf die Erdoğan aggressiv reagiert. So wird die demokratische Partei der Völker (HDP) attackiert und unterdrückt, die gewählten Ko-Vorsitzenden werden verhaftet, oder ins Exil geschickt, um durch von der Regierung bestimmte Zwangsverwalter ersetzt zu werden. Nord- und Ostsyrien wird überfallen, besetzt und »ethnische Säuberungen« finden statt.
Doch vernehmen wir allmählich immer häufiger kritische Stimmen dem türkischen Staat gegenüber. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) verlangt, den ehemaligen Ko-Vorsitzenden der HDP Selahattin Demirtaş aus der Haft zu entlassen. Das Revisionsgericht in Belgien hat offiziell festgestellt, dass die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) keine »terroristische Organisation«, sondern eine bewaffnete Partei in einem bürgerkriegsähnlichen Konflikt ist, was automatisch ihre Anerkennung gemäß der Genfer Konvention bedeutet. Das Europaparlament hat den türkischen Staat vor wenigen Tagen dazu aufgefordert, Nord-und Ostsyrien zu verlassen. Erdoğan hat auf all das mit Aggression und der Fortsetzung der Kriminalisierung der KurdInnen sowie des Kriegs gegen sie reagiert. Den jüngsten Artikel im Bloomberg nutzte er erneut, um mit Flüchtlingsströmen zu drohen. Dadurch wollte er die EU zwingen, die KurdInnen in Syrien mit der PKK gleichzusetzen und damit als TerroristInnen zu bezeichnen und sie gleichzeitig dazu zu bewegen, die Annexion der besetzten Gebiete durch den türkischen Staat zu finanzieren.
Kommen wir zur Inhaftierung Herrn Öcalans zurück – die internationale Gemeinschaft lässt zu, dass der türkische Staat durch die Isolation Abdullah Öcalans gegen international geltendes Recht verstößt und gleichzeitig diejenigen kriminalisiert, die sich mit Öcalans Vorschlägen auseinandersetzen, um dann ebenfalls all diejenigen zu kriminalisieren, die sich der autoritären Neigung der türkischen Regierung widersetzen. Und so weiter, und so weiter, ohne internationale Reaktionen. Solange die Inhaftierung Öcalans besteht und solange keine friedensorientierte demokratische Lösung der kurdischen Frage in Angriff genommen wird, kann die Türkei so weitermachen.
Sie haben sowohl in mehreren nationalen, als auch internationalen Zeitungen in Form von Anzeigen darauf hingewiesen, dass die Freiheit Herrn Abdullah Öcalans die Grundlage dafür ist, dass sich »die Türen des Friedens öffnen«. Hier rufen Sie auch »diejenigen, die die Macht und das Privileg haben, von der Wahrheit zu berichten«, dazu auf, Verantwortung zu übernehmen. An wen genau richtete sich dieser spezielle Aufruf?
Wir fordern damit alle Regierungen auf, zu handeln. Viel zu lange wurde kein internationaler Druck auf die türkische Regierung ausgeübt und das, obwohl Ankara konstant repressiv gegen die Gesellschaft vorgeht und geltendes Völkerrecht bricht. Die Berichte des CPT und des EGMR zeigen dies sehr deutlich. Wir verlangen, dass die EU den Berichten der eigenen Institutionen Folge leistet und konkrete Konsequenzen daraus zieht. Eine davon ist, die Isolation von Herrn Öcalan zu beenden.
Es hat uns gefreut zu sehen, dass das Europaparlament den türkischen Staat endlich dazu aufgerufen hat, Nord- und Ostsyrien zu verlassen. Doch ist es wichtig, dass es hier nicht bei leeren Forderungen bleibt, sondern Konsequenzen folgen, wenn Ankara dies nicht tut.
Auch die Wahl des neuen US-Präsidenten Joe Biden kann ein Schritt in die richtige Richtung sein. Denn auch wenn uns bewusst ist, dass die US Politik stets nur anhand der eigenen Interessen gestaltet wird, ist es eine Erleichterung zu hören, dass diese Politik nicht mehr durch die Launen eines Mannes via Twitter bestimmt wird.
Wir möchten auch noch einmal darauf eingehen, warum es im Interesse von Frauen sei, sich an der Kampagne zu beteiligen. Herr Öcalan betont, dass »der grundlegende Widerspruch innerhalb der Zivilisationsgeschichte der Konflikt zwischen den Geschlechtern« ist; damit stellt er sich als guter Freund der Frauen dar. In welcher Form beteiligen sich in Anbetracht dessen insbesondere Frauen an der Kampagne?
Im Moment arbeiten wir daran, die Kampagne explizit auch in den Frauenstrukturen der Gewerkschaftsbewegung aufzubauen. Wir haben mittlerweile sehr viele verschiedene Gewerkschaften mit an Bord und müssen uns nun damit befassen, dass die Mitglieder die Forderung nach der Freiheit Abdullah Öcalans verstehen und unterstützen. Sie müssen begreifen, warum es für sie, die in Großbritannien leben und arbeiten, wichtig ist. Öcalans Schriften über die Befreiung der Frauen und die Frauenrevolution in Rojava sind ein guter Weg, um insbesondere auch den Frauen in unserer Bewegung zu ermöglichen, dies zu verstehen. Wir schauen auf das kurdische System der Gleichberechtigung und wissen, dass wir von diesem System lernen können, es ist eines, das wir uns als Vorbild nehmen. Speziell für Frauen – die dem Patriarchat ja vor allem ausgesetzt sind – ist es immer eine große Inspiration.
Was für kurz-, mittel- bzw. langfristige Ziele haben Sie sich für ihre Kampagne gesteckt? Welche Art von Strategie verfolgen Sie aktuell mit der Kampagne? Welche Kraft haben diese und ähnliche Kampagnen, um die aktuell bestehende Situation zu verändern?
Selbstverständlich ist es unser zentrales Ziel, die Freiheit Herrn Öcalans zu erlangen, damit er seine Rolle bei den Friedensverhandlungen einnehmen kann. Wir werden uns weiterhin für die Rechte der kurdischen Gesellschaft und all derer einsetzen, die sich die Werte von Gleichheit, Frieden, sozialer Gerechtigkeit, Demokratie und Ökologie in der Region auf die Fahne geschrieben haben. Kurz- und mittelfristig gesehen, werden wir – wenn wir die Pandemie hinter uns lassen – die Kampagne in der britischen, globalen und europäischen Gewerkschaftsbewegung weiter bekannt machen. Wir wissen auch, dass es wichtig ist, die kurdische Frage im allgemeinen zur Sprache zu bringen, wir werden weiterhin Herrn Öcalan, die Realität der kurdischen Existenz und Rojava bei den Abgeordneten zur Sprache bringen und wir werden eine Kampagne gegen das Handelsabkommen zwischen der Türkei und Großbritannien führen, wenn weiterhin keine Maßnahmen gegen Menschen-, Bürger- und Arbeitnehmerrechtsverletzungen eingeleitet werden.
Gibt es sonst noch etwas, dass sie am Ende unseres Interviews mitteilen möchten?
Wir sind sehr besorgt über die Gerüchte über den Gesundheitszustand von Herrn Öcalan, die in letzter Zeit die Runde gemacht haben. Wir schließen uns vielen anderen in der ganzen Welt an und fordern, dass sein Anwaltsteam Zugang zur Gefängnisinsel Imralı erhält. Wir rufen insbesondere das CPT und den Europarat dazu auf, darauf zu bestehen, dass den AnwältInnen und seiner Familie sofort Zugang gewährt wird. Die fortgesetzte Isolation ist eine Schande für die Türkei und alle Länder, die dies zulassen, sind daran mitschuldig.
1 - Ibrahim Dogus ist Initiator des Centre for Turkey Studies und des Centre for Kurdish Progress in Großbritannien; er ist demokratischer Aktivist in der türkischen und kurdischen community in London und ganz Großbritannien. Er engagiert sich ebenfalls für die Labour Party als Stadtrat von Lambeth.
2 - Das Tolpuddle Martyrs’ Festival in Südengland wird alljährlich zu Ehren von sechs Landarbeitern veranstaltet, die 1834 wegen der Gründung einer Gewerkschaft in die Verbannung geschickt wurden.
Kurdistan Report 215 | Mai/Juni 2021