Soziozid – Die Zerstörung des moralisch-politischen Gefüges der Gesellschaft

Es geht um Sein oder Nichtsein

Ein Beitrag aus dem Lesekreis »Soziologie der Freiheit«

Am 20. Mai 2020 gründete sich ein Online-Lesekreis, der wöchentlich zusammenkommt und sich mit dem dritten Band »Soziologie der Freiheit« aus Abdullah Öcalans fünfbändigem Opus Magnum »Manifest der demokratischen Zivilisation« auseinandersetzt.1 Nachdem Öcalan in den ersten beiden Bänden die Geschichte der Zivilisation von ihren Anfängen bis zur kapitalistischen Moderne neu interpretiert hat, legt er hier mit dem dritten Band eine Methode für die Lösung der drängendsten Probleme des 21. Jahrhunderts vor.

Das gemeinsame Diskutieren und Lesen in einer bunten Runde mit etwa zehn regelmäßig Teilnehmenden förderte sowohl das Verstehen dieser Lektüre als auch die Selbstreflexion. Trotz der Komplexität des Themas ließ sich die Philosophie Öcalans in einem Diskurs gemeinsam nachvollziehen und einordnen.

Am 15. August desselben Jahres veröffentlichten wir als Lesekreis einen Aufruf bzw. eine Einladung zum Lesekreis bei ANF mit großen und sehr wichtigen Fragen unserer Zeit, die wir mit Hilfe des Buches zu beantworten versuchten.2 Zu diesen Fragestellungen konnte Öcalans Schrift wesentliche Antworten bieten und aufzeigen, dass seine niedergeschriebenen Gedanken tiefgehende Analysen darstellen, um auch über die kurdische Gesellschaft hinaus universelle Lösungsansätze für dringende Probleme unserer Zeit zu finden.

Öcalan beschäftigt sich in »Soziologie der Freiheit» ausgiebig mit der Geschichte und zeigt auf, dass diese nicht lediglich eine der Herrschenden ist. Vielmehr bietet die Geschichte viele Beispiele für immer fortbestehende demokratische Einheiten (von einzelnen Individuen bis hin zu ganzen Gemeinschaften und Gesellschaften) und deren Kämpfe und Widerstände für die Moral. Demokratische Einheiten gab es und wird es immer geben. Wären sie uns bekannt, würden wir daraus Perspektiven und Kraft schöpfen und ein lebenswertes Leben praktizieren. Wir hätten kein Patriarchat, keinen Sexismus, Egoismus, Individualismus, Faschismus, keinen Kapitalismus und keine Umwelt- und Naturzerstörungen. Kurzum: Wir würden die uns aufgetischte Geschichte der Macht- und Kapitalmonopole nicht als absolute Wahrheit hinnehmen und erkennen, dass es sich um Konstrukte handelt, die mit einem Schleier des Szientismus zu vermeintlichen Wahrheiten deklariert werden.

Je mehr gelesen wurde, desto tiefer tauchten wir in eine neue und schöne Perspektive/Alternative ein. In dieser Alternative präsentiert Öcalan eine Gesellschaft, die auf moralisch-politischen Werten basiert. Da eine moralisch-politische Gesellschaft bei Öcalan die Grundlage einer gesunden und im Einklang mit der Natur existierenden Menschheit ist, werden wir das Thema der moralisch-politischen Gesellschaft nachfolgend behandeln, um auch neue Interessierte an die Philosophie Abdullah Öcalans heranzuführen. Im Folgenden werden wir uns inhaltlich mit der moralisch-politischen Gesellschaft und der Abwesenheit dieser, dem Soziozid, auseinandersetzen.

Moralisch-politische Gesellschaft

Nach Öcalan sind Lösungen für die weltweiten gewaltigen, gesellschaftlichen und ökologischen Probleme weder durch Methoden des universalen, linearen Fortschrittdenkens zu finden, noch mithilfe des Relativismus oder mit einer Vermischung der beiden Ansätze. Man kann nur auf Grundlage der gegebenen örtlichen und zeitlichen Bedingungen und mit den Menschen und Gruppen vor Ort neue Ideen und Realitäten schaffen. Dies muss unbedingt auf der moralischen und politischen Gesellschaft beruhen.

Die moralische-politische Gesellschaft ist das Fundament des demokratischen Konföderalismus und ein Schlüssel zum Verständnis von Öcalans zentralen Gedanken in seinem in deutscher Sprache 2020 erschienenen Buch »Soziologie der Freiheit«. Was versteht Öcalan unter der moralischen und politischen Gesellschaft?

Moral ist das kollektive Gewissen der Gesellschaft, die Tradition des kollektiven Denkens, der wertvollste Schatz und Erfahrungsreichtum der Gesellschaft und überlebenswichtig. Freiheit ist die Grundvoraussetzung und Quelle der Moral. Freiheit ist nur möglich auf der Grundlage der Moral, dem kollektiven Gewissen der Gesellschaft, und der Politik, der gemeinsamen Vernunft. Die moralische und politische Gesellschaft ist die freieste Gesellschaft.

Die Politik stützt sich auf die Moral, kümmert sich um das Gemeinwohl, um kollektive Angelegenheiten. Dies geschieht auf der Grundlage von gemeinsamen Diskussionen und Entscheidungen. Die unverzichtbare Stimme des Gewissens, der gesellschaftliche Common Sense, wird in der demokratischen Politik praktisch umgesetzt. Die gesellschaftliche Vernunft muss hierbei deutlich unterschieden werden von der »Vernunft der tausend Hinterlisten, Lügen, des Ungeheuers des Krieges, der ideologischen Verzerrungen – kurz: eine[r] Vernunft, die Gesellschaft und Umwelt zerstört, eine[r] analytischen Vernunft, die nur hohle Reden schwingt.«3

Der natürliche Zustand von Gesellschaften ist ein moralischer und politischer; Glück und das Gute sind die Essenz der Moral. Die Begriffe moralische und politische Gesellschaft, demokratische Kommunalität und demokratische Gesellschaft sind für Öcalan synonym.

Die moralische und politische Gesellschaft ist keine Neuheit, die erst erfunden oder entwickelt werden muss, sondern es ist ein grundlegendes Wesensmerkmal von Gesellschaften moralisch und politisch zu sein. Zu allen Zeiten, auch in der Geschichte, waren Gesellschaften moralisch und politisch und bilden damit gewissermaßen das Rückgrat der Gesellschaften und den Gegenpol zu den hegemonialen Zivilisationssystemen. Der natürliche Zustand von Gesellschaften ist ein moralischer und politischer; jedoch wurden die Gesellschaften in der gesamten Geschichte von den Machtmonopolen bedrängt, ausgebeutet und kolonialisiert und konnten sich nicht frei entfalten. »Die Geschichte ereignet sich in Form von Zivilisationssystemen, die weder gänzlich Ausdruck der moralischen und politischen Gesellschaft noch gänzlich Ausdruck der Klassengesellschaft mit staatlicher Herrschaft sind.«4 Eine Analyse der Geschichte, die den Fokus auf die moralischen und politischen Gesellschaften richtet und nicht hauptsächlich auf die Herrscherpersönlichkeiten und die herrschende Schicht, ermöglicht ein viel besseres Geschichtsverständnis. Da diese Schicht niemals mehr als 10 Prozent der Bevölkerung ausmacht, wäre eine Geschichtsschreibung, die sich vorwiegend mit den übrigen 90 Prozent der Menschen befasst, auch eine wissenschaftlichere Herangehensweise.

Wirtschaft gehört zu den grundlegenden demokratischen Aktivitäten der moralischen und politischen Gesellschaft. Spekulative Gewinnmethoden werden abgelehnt. Nicht das Individuum oder der Staat haben mit Wirtschaft zu tun; die Wirtschaft in Gemeinschaft ist die grundsätzlichste demokratische Aktivität der Gesellschaft. Das Wirken von Bossen und Arbeitern bezeichnet Öcalan als monopolistische Diebesstruktur. Statt die menschlichen Grundbedürfnisse zu befriedigen, stellt die Wirtschaft heute Profitakkumulation sicher. »Wenn die Produktion, die zum Stillen des gesellschaftlichen Hungers dienen soll, keinen Profit einbringt, juckt es das Kapital gar nicht, dass die Gesellschaft an Hunger und Armut zugrunde geht.«5

Die Krisen im Laufe der Geschichte und die gegenwärtige globale Krise sind größtenteils Folgen fehlender Moral. Der Weg der Verteidigung und Aufrechterhaltung der Gesellschaft führt über die moralische Haltung. Die globale Krise kann nicht durch die Kraft rechtlicher Gewalt überwunden werden.

Analysen zum Thema Ethik von Platon, Aristoteles, Kant und anderen Philosophen dienen eher dazu, das Individuum in einen für den Staat möglichst nützlichen Zustand zu versetzen und von seiner Gesellschaftsangehörigkeit zu entfernen.

»Wir sollen von einem einzigartigen Zeitalter der Wissenschaft reden, aber wir sollen nicht einmal in der Lage sein, etwas gegen eine Barbarei wie den Krieg zu tun!«6

Soziozid

Die oben beschriebene moralisch-politische Gesellschaft ist im Zeitalter der kapitalistischen Moderne einem historisch beispiellosen Zerfall ausgesetzt. Das Moralische und Politische der Gesellschaft ist zerstört worden. Diese Zerstörung wird von Öcalan als Soziozid bezeichnet und als schwerwiegenderes gesellschaftliches Phänomen bewertet als ein Genozid.

»Die Bilanz der Soziozide fällt schlimmer aus als die der Genozide, denn sie zeigt sich im Verlust der moralisch-politischen Qualität der gesamten Gesellschaft. Menschenmassen, die nicht einmal für die schwersten gesellschaftlichen und ökologischen Katastrophen eine Verantwortung empfinden, belegen dies.«7

Sowohl die virtuelle Gesellschaft als auch der Nationalstaat gehören nach Öcalan zu den Formen des Soziozids. Beide Ausprägungen des Soziozids führen dazu, dass die Gesellschaft ihrer Gesellschaftlichkeit beraubt und in ein Werkzeug sie lenkender Monopole verwandelt wird. Der Raub der Gesellschaftlichkeit setzt die gesellschaftliche Natur unendlichen Gefahren aus und führt zur Ohnmacht. Der Soziozid wird auf unterschiedlichen Wegen betrieben. Die Hegemonialmächte verfügen nicht nur über die effektivsten Waffen, sondern auch über virtuelles Kapital und damit über die Waffe der Medien. Mehrfach betont Öcalan in »Soziologie der Freiheit«, dass nicht nur die grenzenlos vermehrten Macht- und Staatsapparate und -verhältnisse die Gesellschaft ihrer Gesellschaftlichkeit berauben, sondern dass Medien, die ebenfalls eine Hauptquelle der Hegemonie darstellen, gleichzeitig die ideologische Eroberung der Gesellschaft vollziehen. Nationalismus, Religionismus, Sexismus, Szientismus und Artismus gehören zu dieser ideologischen Eroberung der Gesellschaft und werden mithilfe der Medien der Gesellschaft 24/7 aufgezwungen. Die Medien an sich sind zwar ein neutrales Mittel, dessen Rolle aber wie bei jeder anderen Waffe auch von den Einsetzenden definiert wird. Jedoch verfügen die Hegemonialmächte auch über diese Art einer analytischen Intelligenz. Mit deren Hilfe wird eine Neutralisierung der gesellschaftlichen Widerstandsfähigkeit realisiert.

Wenn die Probleme unserer Gesellschaft trotz der ganzen Wirkmächtigkeit der scheinbar so vernünftigen Wissenschaft sich vergrößern und intensivieren, dann stellt der Soziozid laut Öcalan nicht nur eine Hypothese, sondern eine reelle Gefahr dar. Die Wissenschaft spielt eine wesentliche Rolle bei der Rationalisierung eines Soziozids. Entsprechend richtet Öcalan seine Kritik auch an die Wissenschaft und macht Vorschläge zur Verbesserung. Eine Wissenschaft, die darauf basiert, alles, was nicht empirisch erfassbar und kalkulierbar ist, als Unwahrheiten abzustempeln, ist oberflächlich und gibt keinen Raum für den subjektiven Bezug zu den Dingen an sich. Öcalan schreibt, dass die Soziologie – eine eurozentrische Wissensstruktur – nicht weiter reicht als die Behauptung von Anhänger*innen der positiven Wissenschaften, die Gesellschaft sei als Phänomen ähnlich denen der Physik, Chemie und Biologie zu erklären.

»Die Kühnheit, die menschliche Gesellschaft mit ihrer ganzen Natur zu einem Objekt zu machen, führte keineswegs zur angenommenen Aufklärung, sondern zu einer noch oberflächlicheren Götzenanbetung. Dass die zur Lieferung von Wissensstrukturen für die Nationalstaaten herangezogenen philosophischen Ausführungen der deutschen Ideologen, die politische Ökonomie der englischen Ideologen und die Soziologie der französischen Philosophen Instrumente zur Legitimierung der Apparate zur Akkumulation von Macht und Kapital waren, ist in den heutigen Diskussionen über die Wissenschaft hinreichend geklärt worden.«8

Nach Öcalan liegt die Lösung für die Sozialwissenschaften darin, die gesellschaftliche Natur insgesamt und an allen Orten und zu allen Zeiten zu einem Forschungsgegenstand zu machen und sich nicht damit zu begnügen, nur Krisen und Probleme zu lösen. Einerseits sollte sie den Naturwissenschaften (wie Physik, Chemie, Biologie etc.) und andererseits Humanwissenschaften (Philosophie, Philologie, Kunst etc.) vorausgehen und die Rolle der Königin der Wissenschaften spielen.

»Eine Sozialwissenschaft, welche das Gewahrsein des Lebens als Freiheit, und die Wahrheit als Erforschung der Freiheit interpretiert, ist die unverzichtbare Anleitung der moralischen und politischen Gesellschaft für Aufklärung und Entwicklung.«9

Zur Verhinderung des oben beschriebenen Soziozids müssen wir uns darüber hinaus dafür einsetzen, den kollektiven Verstand und die Arbeitsfähigkeit der gesellschaftlichen Praxis zu stärken, uns zu organisieren und demokratische Institutionen zu schaffen. Hoffnungslosigkeit ist völlig sinnlos, denn die gesellschaftliche Vernunft ist nach Öcalan eine Tatsache. Die demokratische Politik ist die praktische Umsetzung dessen. Die Aufgabe, die Moral wieder aufzubauen, ist nicht nur ein Problem des Jahrhunderts oder der Moderne, sondern die Aufrechterhaltung der Gesellschaft überhaupt. Es geht also um Sein oder Nichtsein. In jedem Moment und an jedem Ort müssen wir moralisch und politisch leben. Wenn uns dies nicht gelingt, können wir leicht scheitern.

»Den Ausgang werden zweifellos diejenigen bestimmen, die in der gegenwärtigen systemischen, strukturellen Krise im intellektuellen, politischen und ethischen Bereich den Aufbruch hin zum Guten, Wahren und Schönen unternehmen.«10

Fußnoten:

1 - https://navdemhannover.blackblogs.org/2020/05/17/online-lesekreis-soziologie-der-freiheit-jeden-2ten-mittwoch-ab-20-05-2020/

2 - https://anfdeutsch.com/aktuelles/soziologie-der-freiheit-von-abdullah-Oecalan-online-diskutieren-21008

3 - Öcalan, Abdullah: Manifest der demokratischen Zivilisation. Soziologie der Freiheit. Bd. III. Münster 2020, S. 75.

4 - Ebd., S. 196

5 - Ebd., S. 140

6 - Ebd., S. 346

7 - Ebd., S. 352

8 - Ebd., S. 28

9 - Ebd., S. 461

10 - Ebd., S. 289


Kurdistan Report 215 | Mai/Juni 2021