Der Aufbau des demokratischen Systems in Nord- und Ostsyrien
Der Demokratische Rat Syriens: Ein Vorschlag für ein demokratisches Syrien
Der Kurdistan Report stellt eine Broschüre des Rojava Information Center vor
Das Rojava Information Center (RIC) hat einen ausführlichen Bericht über das System der Demokratischen Selbstverwaltung in Nord- und Ostsyrien veröffentlicht. Durch eine Förderung der Rosa-Luxemburg-Stiftung konnte der Bericht jetzt als gedruckte Broschüre erscheinen und bietet damit einen anschaulichen Überblick für alle Rojava-Interessierten. Die Broschüre »Jenseits der Frontlinien« ist bei der ISKU gegen Versandkosten und gerne eine Spende zu bestellen unter
Das Rojava Information Center erklärt zu Inhalt und Ziel des Berichtes: »Dieser Bericht beschreibt die politischen und sozialen Strukturen der Region Nord- und Ostsyrien sowie den sozialen und historischen Kontext, der diese Strukturen prägt. Wir erläutern die Entwicklung der Institutionen seit der Entwicklung der Selbstverwaltung im Jahr 2012 sowie den Ausbau und die Anpassung dieser Institutionen nach der Befreiung der ehemals unter IS-Kontrolle stehenden Regionen von 2016 bis 2019. Obwohl wir Lücken zwischen Theorie und Praxis aufzeigen, ist es nicht das Ziel dieses Berichts, zu bewerten, ob das politische Projekt in Nord- und Ostsyrien ein ›Erfolg‹ war, sondern die Situation zu beschreiben, wie sie ist und was sie sein soll.«
Im Folgenden veröffentlichen wir, redaktionell leicht überarbeitet, einen Abschnitt der Broschüre, in dem der Demokratische Rat Syriens vorgestellt wird:
Vision und Zweck
Der Syrische Demokratische Rat (SDC) ist eine politische Versammlung, die politische Parteien und Organisationen in Nord- und Ostsyrien vertritt. Der SDC schafft einen politischen Rahmen für die Regierungsführung in Syrien nach einem dezentralisierten, föderalen Modell. Er ist das politische Gremium, an das die SDF [die Demokratischen Kräfte Syriens (ku. QSD); militärische Verbände der Demokratischen Selbstverwaltung] berichten. Er ist auch das politische Gegenstück zur Selbstverwaltung, die mehr administrative und exekutive Funktionen übernimmt. Die Verhandlungen mit der syrischen Regierung sowie die diplomatischen Beziehungen mit den internationalen Mächten werden in der Regel über den SDC geführt. Der SDC wurde 2015 gegründet. 103 hochrangige Einzelmitglieder und Vertreter*innen syrischer politischer Parteien und Organisationen waren auf dem Kongress, der den SDC gegründet hat, anwesend. In seiner Gründungserklärung hat sich der Rat die Aufgabe gestellt, »die revolutionär-demokratische Bewegung Syriens auf den richtigen Weg zu führen und die gegenwärtige Zersplitterung, das Blutvergießen und die Dunkelheit, durch die das Land gezogen wird, zu beenden«. Die Teilnehmer*innen des Gründungskongresses des SDC kamen aus verschiedenen politischen Bereichen und verhandelten über Schlüsselfragen und Prinzipien, die der Gründung dieses neuen politischen Organs zugrunde liegen. Ein Diskussionspunkt, der interne Kontroversen auslöste, war die fortgesetzte Verwendung des Begriffs »Syrische Arabische Republik«, der von vielen als Teil des Erbes des unterdrückerischen Baath-Regimes angesehen wurde. Der Kongress erzielte schließlich einen Konsens über den Begriff »Demokratische Syrische Republik« und einigte sich auf eine Strategie, die auf ein föderales Modell für Syrien hinarbeitet, statt auf das zentralistische Top-Down-Modell des Assad-Regimes. Der SDC unterstützte die Entwicklung der demokratischen Verwaltung von Minbic, Tabqa, Raqqa und Deir ez-Zor, nachdem sie durch die SDF vom IS befreit worden waren. Auf einem Kongress des SDC im Juli 2018 wurde der Beschluss gefasst, eine Selbstverwaltung zu schaffen, die die Arbeit zur Gründung von Kommunen, Räten und Konföderalismus in jeder Region übernehmen soll. Dies ermöglichte es dem SDC, sich auf seine Rolle als politisches und nicht als administratives Organ zu konzentrieren.
Wie der SDC organisiert ist
Der SDC besteht aus drei Hauptorganen: dem Exekutivrat, dem Politischen Rat und der Generalkonferenz. Der Exekutivrat hat in vielerlei Hinsicht eine Leitungsfunktion, weil er am kleinsten ist und am häufigsten zusammentritt. So leitete beispielsweise die Ko-Vorsitzende des Exekutivrats, Ilham Ahmed, eine Delegation zum Kongress der Vereinigten Staaten, um die türkische Invasion im Oktober 2019 zu diskutieren. Sowohl der Politische Rat als auch die Generalkonferenz sind jedoch größer und repräsentativer und werden daher als höhere Organe betrachtet. Die Generalkonferenz tritt nur einmal im Jahr zusammen und fungiert als direktere Form der demokratischen Mitwirkung, jedoch ohne viel Exekutivgewalt. Der Politische Rat tritt monatlich zusammen. Der SDC organisiert seine Arbeit durch mehrere Büros: Organisationsbüro, Frauenbüro, Büro für Außenbeziehungen, Medienbüro, Jugendbüro, Finanzbüro und Archivbüro.
Der SDC besteht aus einer Mischung von politischen Parteien, zivilgesellschaftlichen Organisationen und Einzelpersonen. Die Mitglieder des SDC repräsentieren alle Komponenten der Gesellschaft in Nord- und Ostsyrien: Araber*innen, Kurd*innen, Syrisch-Assyrer*innen, Armenier*innen, Tscherkess*innen, Tschetschen*innen und Turkmen*innen. Personen, die dem SDC als Einzelpersonen beitreten wollen, müssen eine schriftliche Erklärung abgeben, in der sie ihr Ziel für den Beitritt zur Versammlung darlegen, und die zuständige Gruppe innerhalb des SDC recherchiert, ob sie für eine Mitgliedschaft geeignet sind. Um für eine Mitgliedschaft in Frage zu kommen, muss die Person die Grundsätze des SDC, wie z. B. das Ko-Vorsitzenden-System, akzeptieren, sich ernsthaft um eine Lösung der syrischen Krise bemühen und die syrische Staatsbürgerschaft besitzen. Die Person muss keinen Wohnsitz in Syrien haben, da sie über eine digitale Plattform an den Sitzungen teilnehmen kann.
Die Generalkonferenz (Konferansa Giştî)
Die Generalkonferenz (auch als »Generalrat« bezeichnet) ist das höchste Organ des SDC. Sie wird einmal jährlich einberufen und wird aus Repräsentant*innen der beteiligten politischen Parteien, zivilgesellschaftlichen Organisationen und Institutionen sowie von einzelnen SDC-Mitgliedern gebildet. Die Generalkonferenz beschließt die breiteren politischen Linien des politischen Systems, spielt aber in Bezug auf die legislative oder exekutive Gewalt eine geringere Rolle. Riad Dirar (Araber) und Amina Omar (Kurdin) sind derzeit die Ko-Vorsitzenden der Generalkonferenz.
Der Politische Rat (Meclîsa Siyasî)
Der Politische Rat (auch als »Politisches Organ« bezeichnet) besteht aus Vertreter*innen aller in der Generalkonferenz vertretenen Komponenten des SDC. Die Ko-Vorsitzenden der Generalkonferenz, Amina Omar und Riad Dirar, sind auch Ko-Vorsitzende des Politischen Rates, und der gesamte Rat besteht aus 80–90 Personen. Er wird sowohl in der Legislative als auch in der Exekutive tätig und tritt monatlich zusammen. Zu den Mitgliedern gehören je ein*e Vertreter*in jeder politischen Partei, die Ko-Vorsitzenden des Exekutivrates, Vertreter*innen der Zivilgesellschaft und einzelne Mitglieder. Um die 40-prozentige Frauenquote zu erreichen, kann eine Partei eine zweite Vertreterin entsenden, wenn sie zunächst nur durch einen Mann vertreten ist.
Der Exekutivrat (Meclîsa Cîbicîkar)
Der Exekutivrat (auch als Präsidialrat oder Präsidialorgan bezeichnet) besteht aus 13–15 Mitgliedern: den Ko-Vorsitzenden jedes Büros, den beiden Ko-Vorsitzenden des Politischen Rates und der Ko-Vorsitzenden, derzeit Ilham Ahmed. Er tagt alle 15 Tage oder bei Bedarf auch öfter und dient als exekutives Führungsgremium des SDC. Er verfolgt die Umsetzung der Beschlüsse der Generalkonferenz und des Politischen Rates und überwacht die Arbeit der Büros und Komitees des SDC. Die Mitglieder des Exekutivrats werden vom Politischen Rat für ein Jahr gewählt und sind dem Politischen Rat und der Generalkonferenz des SDC gegenüber rechenschaftspflichtig.
Der SDC hatte seinen Sitz zunächst in Dirbêsiyê, wurde dann aber nach der Befreiung der Stadt vom IS nach Ain Issa verlegt. Dieser Umzug wurde vorgenommen, um den Sitz des SDC an einem zentraleren und leichter zugänglichen Ort zu errichten und um den Sitz des demokratisch-konföderalistischen Projekts klar außerhalb der traditionell kurdischen Gebiete zu platzieren. Seit Oktober 2019 ist Ain Issa jedoch zu einer der Frontlinien der türkischen Invasion geworden. Daher wurden die meisten Büros des SDC und der Selbstverwaltung nach Raqqa verlegt. Der SDC verfügt zudem über weitere Zentren in verschiedenen Städten Nord- und Ostsyriens, die jeweils von zwei Ko-Vorsitzenden, einem/einer vom Büro für Organisationsfragen und vom Frauenbüro, geleitet werden. Die Zentren befinden sich in Qamişlo, Dirbêsiyê, Hesekê, Ain Issa, Aleppo, Şehba und Tirbespiyê. Es gibt internationale Büros in Washington, Wien, Silêmanî (Südkurdistan) und Ägypten, und die Arbeit wird auch von Mitgliedern mit Sitz in Damaskus sowie in ganz Europa und im Nahen Osten geleistet. Riad Dirar, Ko-Vorsitzender des SDC, ist ein Araber aus Deir ez-Zor und wohnt in Wien, und die stellvertretende Ko-Vorsitzende Majdolin Hassan arbeitet ebenfalls von Europa aus.
Rollen und Verantwortlichkeiten
Ziel des SDC ist es, durch Gespräche, Konsensbildung und Diplomatie auf ein demokratisches, konföderales Syrien hinzuarbeiten. Der SDC stellt sich als Alternative zum Syrischen Nationalrat dar, der kritisiert wurde, weil er unter dem Einfluss von Islamisten wie der Muslimbruderschaft sowie der Regierung der Türkei, wo er seinen Sitz hat, steht. Wie der Syrische Nationalrat steht der SDC in Opposition zum Assad-Regime. Der SDC erklärt als sein Ziel, eine Koalition demokratischer Kräfte innerhalb Syriens zusammenzubringen, um die Bewegung für eine demokratische politische Lösung des Landes aufzubauen. Der Rat setzt den Schwerpunkt auf den »syrisch-syrischen Dialog«, um sich eine Zukunft für Syrien vorzustellen, wobei er den dominierenden Rahmen internationaler Mächte wie Russland, der Türkei oder den USA, die das Schicksal der Region bestimmen, ablehnt. Im Rahmen dieses Prozesses wurden bereits drei Konferenzen abgehalten.
Dieser »syrisch-syrische Dialog« umfasst auch Treffen mit Oppositionsparteien und Persönlichkeiten, die sich nicht im SDC-System engagieren, sowohl innerhalb Syriens als auch in der Diaspora. Durch diese Treffen, so die Ratsmitglieder, wollen sie die Kritik und Vorbehalte derjenigen verstehen, die sich nicht am System beteiligen, und Verständnis und Einheit schaffen. Es wurden auch Treffen innerhalb Syriens mit Vertreter*innen aus verschiedenen Bereichen der Gesellschaft organisiert. So wurde beispielsweise im Mai 2019 in Ain Issa ein Treffen organisiert, an dem Mitglieder des SDC und 5.000 arabische Stammesführer teilnahmen. Der Rat plant eine Massenkonferenz mit dem Ziel, 2.000 Intellektuelle zusammenzubringen, um Ideen und Lösungen für die Herausforderungen zu entwickeln, denen Syrien gegenübersteht. Der SDC will auch Organisationen in einer »Nationalkonferenz von Syrien« zusammenbringen, um eine einheitliche politische Vision für Syrien zu entwickeln, die Bewegung für ein demokratisches, föderales Syrien zu stärken und die Teilnahme an den Genfer Gesprächen zur Ausarbeitung einer neuen Verfassung für Syrien zu fördern. Der offizielle Prozess zur Ausarbeitung einer neuen syrischen Verfassung hat jedoch vor kurzem begonnen, ohne dass die konföderalen Strukturen Nord- und Ostsyriens vertreten sind und die kurdische Minderheit durch den ENKS [Kurdischer Nationalrat in Syrien] nur nominell einbezogen wird. Es gibt auch keine Einbeziehung von Frauenorganisationen aus Nord- und Ostsyrien.
Die diplomatische Rolle des SDC
Der Rat spielt sowohl innerhalb Syriens als auch international eine diplomatische Rolle. Im Oktober 2019 reiste nach der türkischen Invasion eine Delegation unter der Leitung von Ilham Ahmed, der Ko-Vorsitzenden des Exekutivrates, in die USA. Die Delegation traf am 22. Oktober mit Mitgliedern des US-Kongresses zusammen, um die Zukunft Nord- und Ostsyriens zu erörtern. Die Delegation des SDC traf auch mit Regierungsvertreter*innen aus ganz Europa zusammen, und die Mitglieder des Rates nahmen an Treffen in Ländern in der ganzen Welt teil, darunter Australien, Libanon und Tunesien. Der SDC ist die politische Instanz, die mit dem syrischen Regime über die Zukunft der Beziehungen Nord- und Ostsyriens zur syrischen Regierung verhandelt. Der Rat hat bisher den Standpunkt vertreten, dass sie in den syrischen Staat integriert werden wollen, jedoch in ein föderales System mit einer gewissen Autonomie und mit Garantien für die Achtung aller in Syrien lebenden ethnischen und religiösen Gruppen. Die Eingliederung der SDF in die syrische Armee war in der Diskussion über eine mögliche Integration der politischen Systeme ein umstrittenes Thema zwischen dem SDC und der syrischen Regierung. Lange Zeit wurde die Beibehaltung der SDF als eigenständige militärische Kraft vom SDC als nicht verhandelbar dargestellt, denn »wie sollen wir ohne Verteidigungskräfte unsere Bevölkerung und unsere politische Vision schützen können?« (Dschihad Omar, Ko-Präsident des Büros für Auswärtige Beziehungen des SDC). Obwohl der SDC durch die türkische Invasion einen beträchtlichen Teil seiner Verhandlungsmacht verloren hat, bekräftigt er weiterhin, dass »die Autonomie der SDF in der von ihnen geschützten Region« (Generalkommandantur der SDF, 30. Oktober 2019) gewahrt werden müsse, auch wenn er die Möglichkeit eines gewissen Maßes an Integration einräumt.
Kurdistan Report 215 | Mai/Juni 2021