Besprechung einer Einführung in die politische Philosophie Abdullah Öcalans von Peter Schaber

Ein kleiner Einstieg in eine große Erzählung

Thomas Marburger

Die Überwindung der kapitalistischen ModerneWer sich mit der Freiheitsbewegung Kurdistans auseinandersetzt, wird sich auch mit Abdullah Öcalan befassen, schließlich sind beide untrennbar miteinander verbunden. In den letzten 22 Jahren, seit Öcalan aus der Isolationshaft auf İmralı heraus Einfluss auf die Bewegung und den Konflikt um die kurdische Frage nimmt, sind seine schriftlichen Äußerungen noch wichtiger geworden. Die Übersetzungen der Gefängnisschriften werden nicht nur von vielen Kurd*innen in der Diaspora gelesen und diskutiert, sondern ermöglichen Menschen auf der ganzen Welt einen Zugang zu den Ideen des Autors Öcalan.

Seine Gedanken erreichen auf diese Weise Aktivist*innen und Intellektuelle innerhalb und außerhalb der kurdischen Bewegung und fließen in ihre Diskussionen ein, auch zwischen den verschiedenen sozialen Bewegungen. Die als Bücher herausgegebenen Beiträge zu den drei Konferenzen »Die kapitalistische Moderne herausfordern« des Network for an Alternative Quest1 oder die »Dialoge mit Öcalan«2 sind erste schriftliche Ergebnisse dieser Diskussion.

Im Oktober ist im Unrast Verlag, der in letzter Zeit bereits einige Werke Öcalans und Teile der genannten Sekundärliteratur sowie andere Bücher mit Kurdistan-Bezug veröffentlicht hat, ein weiteres Buch erschienen, das in den Kontext der Diskussion um Öcalans Denken einzuordnen ist. Peter Schaber, Mitglied des Medienkollektivs Lower Class Magazine (LCM), hat mit »Die Überwindung der kapitalistischen Moderne. Eine Einführung in die politische Philosophie Abdullah Öcalans« das erste deutschsprachige Buch geschrieben, das in aller Kürze versucht, Öcalans zentrale Ideen zusammenfassend darzustellen und damit einen Einstieg in sein Denken zu bieten. »Endlich hat sich jemand daran gewagt«, stellt Kerem Schamberger in der Besprechung des Buchs auf seinem Blog fest.3

Nach eigener Aussage verfolgt Peter mit dem Buch zwei Ziele: zum einen will er die grundlegenden Gedanken Öcalans möglichst knapp und leicht verständlich darstellen. Zum anderen möchte er zu einer weiterführenden, eigenständigen Auseinandersetzung mit Öcalans Theorie anregen (S. 10 f.).4

Er gliedert seine Darstellung auf knapp 120 Seiten in sechs Kapiteln, wobei er sich weitestgehend am Aufbau der Schriften Öcalans orientiert. So beschäftigen sich die ersten vier Kapitel mit Öcalans Verständnis von Erkenntnis und den Wahrheitsregimen, mit seiner Betrachtungsweise von Geschichte und seiner Sicht der Welt sowie mit den beiden Strängen menschlicher Zivilisation, der hierarchischen Gesellschaft und der demokratischen Gesellschaft. Das fünfte Kapitel befasst sich mit dem für die PKK elementaren Ansatz der Kaderpartei, was eine eigene Schwerpunktsetzung Peters erkennen lässt, bevor er mit dem sechsten Kapitel zum Mittleren Osten und der Bedeutung der Revolution in Kurdistan für den Dritten Weltkrieg abschließt.

In der Einleitung und dem Schlusswort bringt er seine ganz persönliche Verbundenheit mit dem Thema und der Bewegung zum Ausdruck. So hat er nicht nur verschiedene Teile Kurdistans bereist und ist im Umfeld der Bewegung in Europa aktiv, sondern war selbst Teil der politischen und militärischen Strukturen in Rojava und Şengal. Dies erwähnt er ohne selbstdarstellerisch zu wirken und gibt den Leser*innen damit die Möglichkeit, ihn als Autor in ein Verhältnis zu dem Stoff seines Buches zu setzen. Wer Peters Texte vom LCM-Blog her kennt, hat beim Lesen über die Berge Kurdistans oder den Şengal vielleicht eher Rihannas »We Found Love« im Ohr, dem er in seinem Bericht über die Befreiung Raqqas 2017 eine popkulturelle Referenz widmete.5 Und obwohl er sich selbst ausdrücklich nicht als Apoisten bezeichnet (S. 9 f.), begegnet er Öcalan und der Bewegung solidarisch und mit dem Respekt eines Genossen. Der autobiografische und von Reimar Heider von der Internationalen Initiative »Freiheit für Öcalan – Frieden in Kurdistan« aktualisierend ergänzte Text »Wenn du leben willst, dann lebe in Freiheit« über das Leben Öcalans rundet die Einführung in dessen Denken in diesem Sinne ab.

Gelegentlich wird festgestellt, Öcalans Schreibstil wäre für Leser*innen außerhalb des akademischen Betriebs nicht leicht verständlich oder eigentümlich.6 Diesbezüglich gelingt es Peter, die Gedankenwelt Öcalans nicht nur sprachlich (be-)greifbar zu machen. Er beschreibt anhand der Auseinandersetzung mit Öcalans Schriften auch die Notwendigkeit politischer Theoriearbeit für eine linke Praxis. Dass Öcalan tatsächlich für eine breite Öffentlichkeit und nicht lediglich einen akademischen Zirkel schreibt, kommt ihm dabei entgegen. In einem Interview mit Perwer Yaş für ANFdeutsch sagte er dazu: »Gerade eine politische Philosophie, die Massen erreichen will, muss klar und deutlich formuliert sein. Aber natürlich, wenn jemand über alle möglichen Themen von der menschlichen Frühgeschichte über Ökonomie bis zu Quantenphysik und Dialektik schreibt, ist das nicht voraussetzungslos.«7 Nach Öcalan sei die theoretisch-philosophische Beschäftigung mit der Welt schließlich kein Selbstzweck. Stattdessen teile er »die Einsicht, dass die Art und Weise, wie wir die Welt verstehen, eng damit zusammenhängt, wie die Gesellschaft verfasst ist, in der wir leben. Und die Überzeugung, dass wir, wenn wir die Welt verändern wollen, ihre Dynamik, ihre Widersprüche und die Möglichkeitsräume, die sich in ihr öffnen, begreifen müssen (S. 18)«.

Im Verlauf des Buchs werden zentrale Gedankengänge und Begriffe aus dem Ideen- und Wortschatz Öcalans aufgegriffen, erklärt und in einen größeren Kontext eingeordnet. Dass Peter dies auf so wenigen Seiten derart gut gelingt, ist angesichts der bereits heute mehrere tausend Seiten umfassenden Übersetzungen der Schriften Öcalans beachtlich. Dabei müssen manche Aspekte beinahe zwangsläufig zu kurz kommen. Je nach Perspektive der*des Betrachters*in sind dies bestimmt unterschiedliche Punkte. Ein Beispiel hierfür mag der Begriff der »demokratischen Nation« sein, der essentiell für Öcalans Entwurf der demokratischen Zivilisation ist. Eine Beschreibung reißt Peter nur an als »eine Kollektivwerdung, die Individualität nicht beschränkt, wohl aber den gesellschaftsfeindlichen Egoismus und Individualismus, in dem der Einzelne glaubt, größtmögliche Freiheit nur in Abgrenzung zum oder gar gegen das Kollektiv zu erlangen. (S. 88 f.)« Wo darin Öcalans Gegenentwurf zum bestehenden Verständnis von Nation liegt, führt er nicht weiter aus (vgl. S. 92, 103). Angesichts der historischen und aktuellen Belastung des Begriffs im deutschsprachigen Kontext wäre eine Ausführung anzeigt gewesen, dass diese Neudefinition sowohl auf mentaler Ebene als auch im sozialen Zusammenleben stattfinden muss,8 um eine »gemeinsame Gesellschaft, die freie Individuen und Gemeinschaften aus eigenem Willen bilden« , über die Grenzen von Sprachen, Religionen, Kulturen sowie bereits bestehenden Nationen und Nationalstaaten hinweg zu schaffen.

Aber wie gesagt, können notwendige Schwerpunktsetzungen und subjektive Erläuterungen bei der bestehenden Herausforderung nicht ausbleiben. So macht Peter zu anderen Aspekten hilfreiche Ausführungen und ordnet Öcalans Gedanken in einen größeren Kontext linker Ideengeschichte ein, ohne sich dabei jedoch weit von dem eigentlichen Gegenstand zu entfernen. Im Großen und Ganzen zeichnet er mit seiner Einführung ein ausgewogenes und umfassendes Bild von Öcalans Ideen, das den Leser*innen nicht nur einen ersten Eindruck vermittelt, sondern zum Weiterdenken und -lesen und -diskutieren herausfordert. Von daher erfüllt er seine beiden selbstgesteckten Ziele mit diesem Versuch gekonnt und die Nachfrage nach dem Buch scheint seinen Erfolg zu bestätigen; Ende November, als dieser Text geschrieben wird, ist die 1. Auflage des Buch laut LCM auf Twitter bereits fast vollständig vergriffen.

Mit »Die Überwindung der kapitalistischen Moderne. Eine Einführung in die Philosophie Abdullah Öcalans« gelingt es Peter Schaber, einen wichtigen Diskussionsbeitrag zur Erneuerung sozialistischen Denkens vorzulegen. Zur Bezugnahme auf Öcalan in dieser Diskussion schreibt er: »Das ist ein Anfang, auch wenn diese Renaissance einer Großen Erzählung, wie die Theorie Öcalans eine ist, noch ein zartes Pflänzchen in der verdorrten Einöde der kapitalistischen Moderne ist. Aber die eigentliche Arbeit steht erst bevor. Denn die Abkürzung, den Weg der kurdischen Bewegung einfach zu kopieren, steht nicht zur Verfügung. Öcalan selbst betont, Anregungen und Ideen liefern zu wollen, keine fertigen Rezepte für die Garküche anderer sozialistischer Bewegungen.« (S. 120)

Fußnoten:

1 - Network for an Alternative Quest (Hrsg.) (o.J.): Die kapitalistische Moderne herausfordern. Alternative Konzepte und der kurdische Aufbruch.; Network for an Alternative Quest (Hrsg.) (o.J.): Die kapitalistische Moderne herausfordern II. Kapitalistische Moderne sezieren – Demokratischen Konföderalismus aufbauen.; Network for an Alternative Quest (Hrsg.) (2020): Die kapitalistische Moderne herausfordern III. Demokratische Moderne entfalten – Widerstand, Rebellion, Aufbau des Neuen.

2 - Internationale Initiative »Freiheit für Öcalan – Frieden in Kurdistan« (Hrsg.) (2019): Das freie Leben aufbauen. Dialoge mit Abdullah Öcalan.

3 - Kerem Schamberger (28.10.2020): Ein Überblick über Öcalans Denken – Buchrezension. https://kerem-schamberger.de/2020/10/28/ein-ueberblick-ueber-oecalans-denken-buchrezension/ (letzter Zugriff am: 27.11.2020)

4 - Im Folgenden sind Seitenabgaben stets solche aus dem besprochenen Buch.

5 - Peter Schaber (03.10.2017): love in a hopeless place. https://lowerclassmag.com/2017/10/03/love-in-a-hopeless-place/ (Letzter Zugriff am 27.11.2020)

6 - Nick Brauns, in: junge Welt vom 21.11.2020 (S. 10): Die Erstarrung aufbrechen.

7 - Perwer Yaş (14.11.2020): »Einer der einflussreichsten Denker unserer Zeit« - Interview mit Peter Schaber. https://anfdeutsch.com/hintergrund/die-einzige-chance-fur-Ocalans-freilassung-ware-eine-revolution-22745 (letzter Zugriff am 27.11.2020)

8 - Abdullah Öcalan (2019): Demokratische Nation, S. 32 ff.


 Kurdistan Report 213 | Januar/Februar 2021