Der Blick zurück

Eine Internationalistin in Rojava schildert ihre Sicht auf linke Bewegung und Gesellschaft in Deutschland


Für Forschungszwecke haben internationalistische Aktivist*innen in Rojava über ihre Arbeit in der Selbstverwaltung, über ihr Engagement in der kurdischen Bewegung und über ihren Lebensweg und ihre politischen Überzeugungen berichtet, die sie nach Rojava geführt haben. Aus diesen Gesprächen veröffentlichen wir hier Schilderungen und Analysen der deutschen Aktivistin Dilpak. Sie spricht über den Zustand und die Probleme der Linken in Deutschland und Europa und über neue Perspektiven gesellschaftlicher Veränderung, die sich für sie aus der Bewegungsarbeit in Rojava erschlossen haben. Das Interview mit ihr führte Çekdar, die redaktionelle Überarbeitung Sasil.

Nach ihrem Lebensweg und ihrer politischen Sozialisierung gefragt, beschreibt Dilpak ihre Sicht auf linke Praxis in Deutschland:

Solidarität»Zuerst hatte ich nur sporadischen Kontakt mit der deutschen Linken, weil mich deren Praxis nicht wirklich überzeugte. Diese Praxis besteht oft darin, auf die Bevölkerung herabzusehen, sich abzugrenzen, Sachen nicht nachzuvollziehen, sich als Avantgarde zu verstehen und keine zu sein. Total realitätsfern zu agieren und überhaupt nicht zu verstehen, was bei den Leuten los ist. Und immer eine Reaktionspraxis zu haben, auf irgendetwas zu reagieren, und das auch eher hysterisch anstatt analysierend, um sich dann dadurch letztlich zu verausgaben. Es hat sicher unterschiedliche Auswirkungen, von hässlich bis einfach nur sich leerlaufen lassen. Das sind schon damals Gründe gewesen, warum ich von der Praxis der deutschen Linken nicht sehr überzeugt war. Aber trotzdem hat man immer gemeinsam Aktionen gemacht, wie Aktionen gegen Nazi-Demos. Aber es war immer so, dass die Linken irgendwie ein Völkchen für sich sind, die auch zwischendurch immer wieder gute Ansätze haben, aber schon eher fern sind, von der eigenen Lebensrealität.«

Durch Aktionen der kurdischen Bewegung wird die Aktivistin auf diese aufmerksam und ist beeindruckt von der breiten Mobilisierung über alle Milieus und Altersstufen hinweg, wobei die Gesellschaft angesprochen und sich nicht von ihr abgegrenzt wird. In ihrer politischen Arbeit und Lebensrealität vor der Reise nach Rojava, beklagt sie das Fehlen einer umfassenden Perspektive.

»Da fehlte ein ganzheitlicher Blick auf das, was ich gemacht habe. Damals war ich eher in kleinen Bereichen aktiv, hatte schon immer in unterschiedlichen Strukturen gearbeitet. Aber jetzt ist es anders, da man jetzt ein gemeinsames, größeres Ziel verfolgt. Und das hat sich natürlich hier nochmal erweitert, mit der Revolution selbst und mit der Sichtweise auf gesellschaftliche Veränderung. Das ist eine größere Verantwortung zu einer breiteren Herangehensweise, als sich nur kleine Oasen zu schaffen. Die sind einerseits gut und andererseits auch ein Grund dafür, warum Leute sich nicht weiterentwickeln. Weil sie sich ein kleines Häuschen – eine Blase – aufbauen, sich abgrenzen, sich nicht mehr mit der Gesellschaft befassen wollen. Dieses Sich-nicht-mehr-damit-befassen-wollen resultiert auch aus dem Nichtvorhandensein einer Analyse und fehlenden Lösungsperspektiven. Und wenn dein ganzer Lebensstil darauf aufgebaut ist, dir eine Identität zusammenzubauen und irgendwo anzukommen, in einem netten Leben mit deinen Freunden, dann wird es nicht die Gesellschaft verändern. Und wenn du aus dieser Blase rausgehst, bist du immer konfrontiert mit dem, was du ablehnst oder nicht verstehst oder was dich ablehnt. Aber du bist kein Teil einer umfassenden, weitreichenden Lösung. Du kannst dann ein Ort sein, wo wiederum andere hinkommen können, um dann von der Gesellschaft eine kurze Verschnaufpause zu nehmen, andere Luft zu atmen. Aber es ist keine langfristige Perspektive. Es ist ein bisschen so, wie sich anzusiedeln und sich eine Oase aufzubauen.«

Sie benennt die Ideen Abdullah Öcalans als eine solche ganzheitliche Perspektive, die die Reproduktion des herrschenden Systems im Alltagshandeln und der gesellschaftlichen Mentalität reflektiert und die Praxis für einen gesellschaftsverändernden Mentalitätswandel bietet. Über ihre Unzufriedenheit in der deutschen Herkunftsgesellschaft befragt, antwortet sie folgendes:

»In der Herkunftsgesellschaft, also eher in einer politischen Gesellschaft, ist es so, dass die Perspektiven voneinander getrennt sind und dass es viel Unzufriedenheit gibt und sich alle in einem unterschiedlichen Maß entscheiden, gegen das zu kämpfen, was sie als Ungerechtigkeit empfinden. Die eigene Herangehensweise an die Gesellschaft, also die Mittel und die Analysen dafür, sind aber eher ein Teil davon, weshalb die Gesellschaft noch mehr zerstört wird. Auf einer sehr simplen Ebene: Du gehst irgendwo hin und hast eine abweichende Meinung. Allein dann können Leute mit anderen nicht wirklich lösungsorientiert diskutieren, sondern es geht darum, eine Meinung zu vertreten, also eine Meinung zu haben und diese dann zu verteidigen. Da steht nicht das Gemeinschaftliche im Vordergrund. In Deutschland, mit dieser Geschichte des Zweiten Weltkriegs, des Hitlerfaschismus etc., ist bei Begrifflichkeiten wie Gemeinschaft oder Volk sowieso der Ofen gleich aus. Aber es ist wichtig, sich mit unterschiedlichen Werten wieder auseinanderzusetzen. Ich glaube, dies trägt einen großen Teil dazu bei, dass viele die Wahrnehmung haben: Die deutsche Linke steht nicht für Werte, die deutsche Rechte steht für Werte. Egal wie viel davon jetzt real ist. Die einen stehen für Werte, die anderen stehen für Dekonstruktion – und das im negativen Sinne, nicht in einem aufbauenden Sinne. Eine Linke, die total gefangen ist in einer Identitätskrise und einem ›Dann-aber-auch-nichts-falsch-machen-wollen‹. Und die dann letztendlich nur etwas verteidigt. Wo es aber kein Weiterdenken gibt, keine Analyse. Weil eine Identität daran hängt. Es darf niemand getriggert werden oder es darf niemand verletzt werden.

Aber wir sollten für Werte stehen. Solange die deutsche Linke für niemanden für Werte steht, wird sie eine Bevölkerung nicht organisieren können. Worum geht es letztendlich? Es geht darum, wie du dein Leben lebst. Was bedeutet Gleichberechtigung? Nach welchem Maßstab bewertest du Gleichheit? Dass tatsächlich Hierarchien nicht reproduziert werden. Wenn du nicht für Werte stehst, dann wird dir keiner die Zukunft seiner Kinder anvertrauen. Ohne Werte und Prinzipien wirst du irgendwann aussteigen, weil du rausgewachsen bist. Und es sind sehr viele Kämpfe, die sich genau an diesem Punkt verlieren: Dass es einfach keine tiefer gehende, ganzheitliche Analyse gibt von Gesellschaft oder von hierarchischen Dynamiken. Du hast zum Beispiel beim Thema Feminismus oder LGBTI einen totalen Backlash, auch auf der Linken: Junge Männer, die in ihrem Hooliganismus irgendwie ihre Männlichkeit wieder finden wollen und dann sich gegen so etwas sträuben, weil es keine positive Praxis gibt, in der sich alle entwickeln können. Du kannst ja nicht sagen, alle Männer sind schlecht oder alle Frauen sind gut. Du musst wirklich analysieren, was aus dem Gleichgewicht geraten ist und was es überhaupt bedeutet, ein Gleichgewicht zu haben. Auf welchen Prinzipien, auf welchen Werten baust du das auf? Und das ist eben eine sehr weite und sehr tiefe Auseinandersetzung, die dann eben auch dein Leben betrifft. Da geht es nicht um Identität heute, was du präsentierst, sondern dann musst du dich auch mit den Leuten auseinandersetzen, die eine andere Meinung haben. Das ist aber auch das, was verloren gegangen ist: Keinen Respekt zu haben, nicht mit anderen Meinungen umgehen zu können. Es geht eher um die Verteidigung der eigenen Identität oder der eigenen Meinung, anstatt etwas größeres, gemeinsames zu finden, weil Gemeinsam- und Gemeinschaftlichkeit zu Nazi-Deutschland geführt hat, jetzt ganz plump gesagt. An sehr vielen unterschiedlichen Punkten fehlt es einfach an einer guten Analyse. Und zu dieser Analyse eben auch eine klare Entscheidung. Und diese Entscheidung triffst du eben auch nur, indem du einen Rahmen schaffst, wo es eine Gemeinsamkeit gibt. Und die gibt es eben durch Organisierung. Wenn alle ihre kleinen Brötchen backen und alle ihr Ding machen, dann landen sie in irgendwelchen Partyoasen und ballern sich weg letztendlich.«

Die Aktivistin berichtet von Kooperativen in Rojava, die von einzelnen Mitgliedern als Kapitalanlage angesehen werden, ohne dass sie sich aktiv in die gemeinschaftliche Arbeit einbringen, jedoch erwarten, dass sich ihr Geld von allein vermehrt.

»Das ist nicht der Gedanke einer Kooperative. Aber dieses Verhalten ist angelernt. Kinder imitieren, was drumherum ist. Es ist halt die Mentalität, die Sachen laufen lässt oder nicht. Das ist eine Mentalität, die eine Gesellschaft zusammenbringt oder eben auseinanderbringt. Wenn du grundlegend Gemeinschaftlichkeit verstehst und dich auch dafür verpflichtet fühlst, dann kannst du eben viele gute Sachen aufbauen. Aber wenn du dir denkst: mein Haus, mein Block, meine Familie, dann isolierst du dich und du denkst nur an deinen eigenen Vorteil und ziehst alle anderen ab. Das ist der ideologische Krieg. Du gehst irgendwo hin, du baust dein eigenes Haus. Was ist das für eine Ideologie? Ideologien sind nichts irgendwie abstraktes wie ›Der Faschismus‹, ›Der Kommunismus‹, ›Der Sozialismus‹, sondern wie du im Alltag agierst. Das ist die Ideologie, die du vertrittst, das ist das, wofür du stehst. Entweder du stehst dafür gemeinsam etwas aufzubauen oder du stehst dafür, alle anderen abzuziehen für das Wohl deiner Familie. Und das ist diese Mentalität, die sich total verbreitet hat. Und in Europa ist das nochmal sehr viel tiefgehender. Das ist ja kein Gedanke, das ist ja ein Gefühl. Was gibt dir das Gefühl für Sicherheit, was nimmst du ernst? Worin siehst du deine Zukunft und die deiner Kinder, deiner Familie, deiner Freunde? Das ist diese schwere Arbeit in der Arbeit mit der Gesellschaft: Menschen, die so etwas denken davon zu überzeugen, es anders zu machen. Sie davon zu überzeugen, dass es einfach gut ist, es anders zu machen und dass sich eben alle helfen und sie nicht denken müssen: ›Alle ziehen sich gegenseitig ab, ich muss jetzt hier nur für mein eigenes Überleben kämpfen‹. Das ist der schwierigste Kampf.

An der Front hast du einen klaren Krieg, du hast einen klaren Feind. Du hast natürlich die Realität des Todes und der Verletzung, aber es ist auf eine bestimmte Art und Weise klar. In der Gesellschaft ist es das schwierigste bei Freunden oder Freundinnen, die jetzt in Europa arbeiten. Du bist einfach im Herz von der Individualisierung, du bist im Herz der Vereinsamung, du bist im Herz dessen, was nicht ein klarer Feind ist, sondern dich mit deinen Bedürfnissen, mit deinen Sehnsüchten, mit deiner Liebe und mit deinen Träumen die ganze Zeit konfrontiert. Es ist überall alles voll davon. Und da geht es nicht darum, dass du gleich erschossen wirst, sondern dass du deine Prinzipien über Bord wirfst. Nach dem Motto ›Das ist doch gar nicht so wichtig‹ gehst du dann aus der Verantwortung, um andere Sachen zu verfolgen, andere Sehnsüchte zu entwickeln. Es ist sehr schwierig, Zihnîyet [Kurdisch, Türkisch, Arabisch für Mentalität] umzukrempeln. Im Sinne von zurückzukommen zu der Erkenntnis, dass man bestimmte Verhaltensweisen ablehnt, aber trotzdem selbst reproduziert, weil man denkt, dass es alle so machen. Und dann zu sagen: Nein, mache es nicht so – sei anders! Das macht den Unterschied und das ist Revolution. Ein Mensch, der das macht, das ist Revolution. Jeder Schritt davon ist wirklich. Da verändert sich etwas langfristig, weil dieser Mensch mit seinem Handeln alle beeinflusst. Weil er Sachen anders macht. Weil du sie nicht machst mit dieser Verteidigungslogik, mit dieser Überlebenslogik, mit dieser Abgrenzungslogik, sondern weil du dich annäherst mit einer offenen Logik, mit dem offenen Herzen, mit Teilen. Auch wenn die anderen nicht so sind. Weil du eben nach Prinzipien handelst und nicht danach, wie deine Umgebung reagiert. Das ist der harte Kampf, überall. Das macht eben den Unterschied: Das zu analysieren, was tatsächlich die Ursache ist für Vereinzelung. Was die Ursache dafür ist, dass du deine Träume verlierst, dass du den Blick dafür verlierst, was du mal für ungerecht hieltest oder dieses Gefühl, etwas dagegen machen zu müssen. Ohne ein klares Verständnis davon, verlierst du dich halt in diesem System und in den kleinen Nischen, die es dir anbietet. Auch Teil einer politischen Gruppe zu sein, die ab und zu mal etwas radikal auf Demos auftritt, ist ja auch irgendwie eine Nische im System.«

Auf die Frage, welche Normen und Werte in der Gesamtgesellschaft etabliert werden sollen, gibt Dilpak zum Ende des Gesprächs folgende Antwort:

»Diversity – also fähig zu sein, Unterschiede zu sehen und zu respektieren und als etwas Positives zu begreifen. Anstatt deine Realität, deine Identität gefährdet zu sehen, weil es etwas ist, was du nicht machst. Und Liebe und Verbundenheit. Daran geknüpft natürlich eine ganz klare Auseinandersetzung mit Sexualität. Wie kannst du Sexualität die Rolle geben, die eben nicht unterdrückend ist, ausbeutend oder negativ? Ohne dabei Sexualität abzulehnen, sondern sie aufbauend, offen und positiv zu leben. Eine Gesellschaft, die sehr bewusst ist, die sehr sensibel ist, die zart miteinander ist, die sich wirklich traut, den Mut hat.«

Ankündigung: In der nächsten Ausgabe werden wir aus Rojava den »Blick zurück« der Aktivistin »Roserin« veröffentlichen.


 Kurdistan Report 212 | November/Dezember 2020