Editorial


Liebe Leserinnen und Leser,

Kurdistan Report 211 | September/Oktober 2020die bisherigen Entwicklungen in Kurdistan im Jahr 2020 bringen deutlich zum Ausdruck, dass die türkische Staatsführung sich für eine absolute Vernichtungsstrategie auf allen Ebenen durch eine totale Eskalation entschieden hat. Der türkische Staat führt insbesondere eine umfassende Operation gegen die Guerilla der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), wodurch der Krieg in drei Teilen Kurdistans – Süden, Norden und Westen – einen vorläufigen Höhepunkt erreicht.

Das umfangreiche Liquidationskonzept, welches gegen die PKK und die Freiheitsbewegung umgesetzt wird, ist nicht erst seit Kurzem in die Wege geleitet worden. Die kurdische Gesellschaft vergleicht die gegenwärtige Situation in Kurdistan mit der Zeit des »internationalen Komplotts«. Damit wird die Zeitspanne vom 9. Oktober 1998 bis zum 15. Februar 1999 zusammengefasst, in dessen Verlauf Abdullah Öcalan, Vordenker und wichtigster politischer Repräsentant der Kurdinnen und Kurden, zunächst in Syrien zur persona non grata erklärt wurde und anschließend eine Odyssee durch verschiedene Länder Europas durchlebte, um schließlich aus der griechischen Botschaft der kenianischen Hauptstadt Nairobi verschleppt und völkerrechtswidrig an die Türkei übergeben zu werden. Ziel des gegen Herrn Öcalan organisierten internationalen Komplotts war es, einen kurdisch-türkischen Krieg zu provozieren – ohne Ausweg und ohne Hoffnung auf eine Lösung – und die beiden dadurch geschwächten Parteien in eine abhängige Position unter Kontrolle der internationalen Mächte zu drängen.

Sowohl die Besatzungsangriffe auf Nordsyrien (Besatzung des Kantons Efrîn im Frühjahr 2018 und die Besatzung der Regionen Serêkaniyê (Ras al-Ain) und Girê Spî (Tall Abyad) infolge der Operation vom 9. Oktober 2019), als auch die andauernde türkische Invasion in Südkurdistan (Nordirak) sind als Fortsetzung dieses internationalen Komplotts zu bewerten. Es geht darum, der kurdischen Gesellschaft ein weiteres Mal die bisherigen Errungenschaften des seit Jahrzehnten andauernden Kampfes für politische Anerkennung zu entziehen und das politische Zentrum des Widerstands, die PKK, mit militärischem Zwang und der langwierigen Isolations- und Kriminalisierungsstrategie entweder komplett auszuschalten oder wenigstens in die Unbedeutsamkeit zu schicken, und das, was überbleibt, den eigenen Interessen gemäß zu assimilieren zu assimilieren.

Die Auseinandersetzung zwischen der kurdischen Freiheitsbewegung und der türkischen Armee kulminieren zurzeit im südkurdischen Gebiet Heftanîn. Die Angriffe haben im Kern das Ziel, die Architekten des demokratischen Konföderalismus zu vernichten und so die Perspektive einer alternativen Gesellschaftsordnung im Mittleren Osten auszulöschen. Aus diesem Grund kann die einzige Antwort darauf lauten, eine internationale Solidarität gegen den Krieg der Türkei in Kurdistan und ihrer weltweiten staatlichen Unterstützer aufzubauen. Denn der Widerstand in Heftanîn und überall in Kurdistan steht symbolisch für den globalen Kampf für eine andere Welt ohne Krieg und Unterdrückung.

Eure Redaktion


 Kurdistan Report 211 | September/Oktober 2020