Demokratische Architektur oder Stadtplanung in der demokratischen Moderne

Entwicklung der Gesellschaften und die Gestaltung neuen Lebensraums

Dîrok Hêvî


Das Frauendorf Jinwar in Rojava.Foto: jinwar»Die Stadt des Kolonialherren ist eine stabile Stadt, ganz aus Stein und Eisen, eine erleuchtete, asphaltierte Stadt, in der die Mülleimer von unbekannten, nie gesehenen, erträumten Resten überquellen, eine gemästete, faule Stadt. Ihr Bauch ist voll von guten Dingen. Die Stadt des Kolonisierten, das Negerdorf, die Medina, das Reservat ist ein Ort von schlechtem Ruf, bevölkert von Menschen mit schlechtem Ruf. Es ist eine niedergekauerte, hingelümmelte Stadt. Der Blick des Kolonisierten ist der Blick geilen Neides, der Besitzerträume. Aller Arten von Besitz: Sich an den Tisch des Kolonialherren setzen, in seinem Bett schlafen, wenn möglich mit seiner Frau. Der Kolonisierte ist ein Neider. Der Kolonialherr weiß das genau. Wenn er jenen Blick überrascht, stellt er mit Bitterkeit fest: Sie wollen unseren Platz einnehmen.« (aus: Frantz Fanon, Die Verdammten dieser Erde).

Wie hunderte kleine Spinnennetze wirken die Kabelansammlungen, die sich über mir zwischen den Häuserwänden der engen Gassen auftun. Mein Blick fällt auf die unverputzten Häuserwände, die halbfertigen Bauten, die man weder Haus noch Ruine nennen kann. Sie sind für mich der Inbegriff des Lebens in Rojava. Dieses Lebens im Übergang zwischen Altem und Neuem. Geprägt von Krieg, Embargo und Vertreibung. Teils in Eile zusammengezimmert, um ein Dach über dem Kopf zu schaffen, stehen in vielen Straßen diese Halbbauten, oft errichtet ohne Plan, einfach dort wo gerade Platz war. Während eine Etage noch immer nur aus Decke und Boden besteht, geht in einer fertig gestellten Wohnung im Stockwerk darüber das Leben seinen Gang.

Oft habe ich in den letzten Wochen über das oben erwähnte Zitat nachgedacht, während ich durch die Straßen von Qamişlo geschlendert bin. Darüber, welche Aktualität diese Worte Fanons auch heute noch besitzen. Während ich auf den Müll blicke, der sich in manchen Ecken sammelt, flimmert auf dem Bildschirm eines Fernsehers in einem Eckladen die blank polierte Glasfassade eines dubaischen Hochhauses über die Mattscheibe. Die glatten, frisch asphaltierten Straßen im TV betrachte ich eindringlich, während ich mich frage, wie viele Schlaglöcher allein die kleine Gasse hinter mir in ihrem Straßenbelag birgt.

Ich habe mich bei dem Gedanken und dem Wunsch ertappt, dass doch Rojava auch so sauber und blitzblank wäre. Mit den Glasfassaden einer modernen Stadt. So wie diese Städte im Fernsehen, halt nur demokratisch und frei. Je länger ich jedoch darüber nachdenke, umso mehr wird mir die Einfältigkeit dieses Gedankens bewusst, einfach nur eine Kopie des Westens aufzubauen, statt etwas auf der Basis der lokalen, historischen Gegebenheit zu erschaffen. Umso mehr begreife ich, wie allumfassend doch die Hegemonie dieses Systems ist und welche Bedeutung es hat, eine Alternative für alle Lebensbereiche zu entwickeln und voranzutreiben.

Die Rolle von Stadtplanung und Architektur im hegemonialen System

Während wir uns dessen oft gar nicht bewusst sind, übt das System mit seiner Art und Weise die Stadt zu gestalten einen immensen Einfluss auf uns aus (besonders in den Ländern des globalen Nordens – dem Raum, in dem die Mehrheit der Bevölkerung in Städten lebt, Tendenz noch immer steigend). Sehen wir uns zum Beispiel den Aufbau einiger Städte an, können wir ganz deutlich erkennen, dass Stadtplanung und Architektur einen starken ideologischen Unterbau enthalten. Betrachten wir etwa Paris oder Karlsruhe, wo die gesamte Stadt bzw. alle wichtigen Straßen wie Sonnenstrahlen auf den Palast ausgerichtet sind. Oder die oftmals breiten Straßen in deutschen Städten, die aus der Erfahrung der Barrikadenkämpfe der 1848er Revolution auf diese Weise gebaut wurden. Städte, in denen die Viertel der Reichen auf der anderen Flussseite gebaut wurden und so, dass sie in günstigerer Windrichtung als die Elendsviertel um die neu errichteten Fabriken standen. Schon vor etwa 5.000 Jahren gab es oftmals riesige Bauten, die den Menschen Demut und Respekt einflößen sollten und wie etwa die Pyramiden die Größe des jeweiligen Herrschers symbolisierten. Ähnliches finden wir auch später in der Architektur faschistischer Diktaturen. In der heutigen Zeit ist die »Sicherheitsarchitektur« ein wichtiger Begriff geworden. Wie kann »Sicherheit« in die Architektur eingearbeitet werden, ohne dass es auffällt? Wie kann mit Hilfe der Architektur ein Ziel auf verdeckte Weise erreicht werden? Zum Beispiel durch riesige Betonblumenkübel vor zentralen Gebäuden, die dieses vor Autobomben schützen sollen. Oder durch die »Sicherheit«, die sich gegen Arme und Obdachlose richtet, um sie mit »unauffälligem Zwang« zu vertreiben: von Sprinkleranlagen, die für ein paar Minuten mitten in der Nacht angehen, damit niemand an diesen Orten schläft, über wellenförmige Sitzbänke oder solche ohne Lehne, um ein längeres Verweilen oder Schlafen ungemütlich zu machen. Durch Straßen, die neu gezogen werden, um eine »Grenze« zwischen dem Viertel der Reichen und dem der Armen zu ziehen.

Wenn wir nun also davon sprechen, dass der Architektur und der Stadtplanung eine Ideologie zu Grunde liegt, wie kann dann auf der Grundlage des Paradigmas der demokratischen Moderne – also auf der Basis von Demokratie, Ökologie und Frauenbefreiung – Stadtplanung und Architektur aussehen?

Sicherlich können wir mit Jinwar ein konkretes Beispiel nennen, in dem auf der Grundlage dieser Ideen ein Dorf von Frauen für Frauen errichtet wurde. Was kann dies jedoch konkret für die Stadt bedeuten? Grundsätzlich müssen wir natürlich sagen, dass Stadt nicht gleich Stadt ist; und nicht umsonst spricht Rêber Apo1 bei Städten mit mehr als einer Million EinwohnerInnen von einer Abweichung. Wir müssen verstehen, dass unter gewissen architektonischen Bedingungen z. B. Demokratie unmöglich gemacht bzw. negiert wird. Wie sollen die BewohnerInnen eines Tausend Meter hohen Wolkenkratzers gemeinsam, demokratisch eine Entscheidung treffen? Wie soll sich zwischen ihnen überhaupt eine nachbarschaftliche Beziehung entwickeln? Etwas, das in einem ein- oder zweistöckigen Haus gar keine Schwierigkeit darstellt. Gleichzeitig wissen wir, dass das Dorf ohne die Stadt, nicht aber die Stadt ohne das Dorf überleben kann. Trotzdem nimmt der Bevölkerungsanteil in den Städten weltweit Tag für Tag zu – eine Entwicklung die wir beobachten können, seit Enkidu2 seine Wälder verließ und sich in Richtung Stadt aufmachte. Die Stadt als Sinnbild der Moderne. Deswegen wäre im Grunde genommen der wichtigste oder grundlegendste Beitrag zu demokratischer Architektur für Städte, eine Welle der Abwanderung in die Dörfer zu stärken.

Demokratische Architektur muss gleichzeitig ökologisch sein

Das Parlament in Dêrik im Nordosten Syriens. Foto: anfNun aber zu unserer eigentlichen Frage. Es gibt hinsichtlich demokratischer Architektur unterschiedlichste Punkte zu bedenken, deren folgende Aufzählung nur einen unvollständigen Einblick geben wird und daher für Ergänzungen viel Platz bietet. Ein oben schon anklingender Aspekt ist die Höhe der Häuser, die z. B. hier in Rojava bzw. in der Demokratischen Föderation Nord- und Ostsyrien auf meist vier Stockwerke begrenzt wurde. Denn auf diese Weise können NachbarInnen immer noch miteinander Kontakt haben und Nachbarschaftstreffen organisiert werden, um etwa die Probleme in einem Haus zu besprechen. Ein weiterer Punkt – und hier denke ich, ist es wichtig den Zusammenhang von Demokratie, Ökologie und Frauenbefreiung zu begreifen – ist die ökologische Bauweise der Häuser, die ebenfalls ihren Beitrag zu einer demokratischen Architektur leistet. Eine Architektur, die demokratisch aber nicht ökologisch ist, kann es nicht geben. Denn politisch-moralisch verstehen wir die Gesellschaft als eine, die sich selbst als Teil der Natur begreift. Die Betrachtungsweise, wie sie etwa in den Arbeiten von Roger und Francis Bacon mit der Trennung von Subjekt und Objekt entwickelt wurde, mit der der Mensch sich selbst als Subjekt und die Natur als Objekt begreift, teilen wir nicht; sie ist heute eine Grundlage der kapitalistischen Moderne. Besonders hier in Rojava haben wir gute Voraussetzungen für eine ökologische Architektur, gibt es doch in dieser Hinsicht reichhaltige Erfahrung mit der Lehmbauweise. Noch immer findet man besonders außerhalb der etwas größeren Städte in vielen Teilen der Region Lehmhäuser. Nicht nur, dass sie in der Herstellung erheblich günstiger sind, sie besitzen auch aus ihrem Einklang mit der Umgebung und ihren natürlichen Eigenschaften heraus den Vorteil, im Winter warm und im Sommer kühl zu sein. Desweiteren können wir sagen, dass es wichtig ist, wie wir etwa am Beispiel Cubas sehen können, innerhalb der Stadt Gärten anzulegen und auch die Dächer zu bepflanzen. Dies trägt nicht nur dazu bei die Temperatur in der Stadt zu senken und die Sauerstoffanreicherung der Luft zu verbessern, sondern auch dazu, die Gemüse- und Obstversorgung innerhalb der Stadt lokaler und kommunaler zu organisieren. Die Gärten können in jedem Viertel von dessen BewohnerInnen angebaut und gepflegt werden, und dann kann die Verteilung der Ernte nach Bedürfnissen erfolgen. Hierbei sollte versucht werden, besonders in Regionen wie z. B. in Rojava, die unter Wassermangel bzw. einer Wasserblockade durch den faschistischen türkischen Staat leiden, von Anfang an die Wasserversorgung so sparsam wie möglich zu gestalten (z. B. Tröpfchenbewässerung); und jedeR sollte ihre und seine Rolle in der kommunalen Wassersparsamkeit begreifen.

Ein anderer zentraler Punkt für die demokratische Architektur und Stadtplanung muss die Schaffung von Orten des Zusammenkommens sein. Etwa Orte wie ein Amphitheater, wo diskutiert werden kann (z. B. wie in Dêrik), Volkshäuser, Kommunen, aber vor allem auch Orte für Kinder, Jugendliche und Frauen. Hier können wir z. B. an Parks, Spielplätze, Jugendzentren, Frauenhäuser und so weiter denken. Orte, die dem Austausch dienen. Orte, in denen die Gesellschaft zusammenkommt und gemeinsam etwas unternimmt. Ebenso Orte der Bildung, die geschaffen werden müssen, um die Moral der Gesellschaft noch mehr zu entwickeln, wie etwa Bibliotheken, Zentren für Kunst und Kultur, Theater etc.

Demokratische Architektur im Angesicht eines Vernichtungskrieges

Wir diskutieren dieses Thema freilich nicht in einem luftleeren Raum. Es ist für uns nicht nur eine theoretische Abhandlung, sondern eine Auseinandersetzung mit der Entwicklung der Gesellschaft und ihrem Lebensraum hier in Rojava. Denn nach dem Umsturz folgt der Aufbau. Doch es ist kein Aufbau, der völlig ungestört vonstatten geht. Er ist immer der Gefahr unterlegen, dass alles Geschaffene im nächsten Augenblick dem Erdboden gleichgemacht werden könnte, teilweise sogar wird. Was für uns hier in Rojava jedoch nicht bedeutet, diese Arbeiten nicht zu machen oder nicht mit vollem Elan und voller Kraft anzugehen. Doch ein Aspekt, der in diesem Rahmen genannt werden muss, der uns vielleicht im ersten Moment nicht unbedingt in den Sinn kommen würde, ist die Selbstverteidigung. Rêber Apo nennt als eine der acht Dimensionen der demokratischen Autonomie die Selbstverteidigung als wichtige Säule. Die Demokratie, die demokratische Gesellschaft ist eine sich verteidigende Gesellschaft. Wie also kommt dieser Aspekt bezogen auf unser hier diskutiertes Thema zum Ausdruck? Für uns bedeutet dies in der Realität Rojavas, dessen Landschaft großteils aus Ebenen besteht, z. B. den Bau von Tunneln, unterirdischen bunkerähnlichen Räumen, aber generell auch bei der Stadtplanung viel mehr den Aspekt der Verteidigung gegen Luftangriffe, Drohnen etc. in Betracht zu ziehen. In seinen Analysen hat Rêber Apo deutlich aufgezeigt, dass der Krieg in dieser Region noch lange dauern wird. Dies kann für uns je nach Vorbereitung und Intervention in der jeweiligen Phase große Verluste oder Erfolge mit sich bringen. Die Erfolge jedoch müssen unbedingt gesichert werden. Weil wir wissen, dass Kurdistan auch in Zukunft immer ein Ziel von Angriffen hegemonialer Mächte sein wird, auf der anderen Seite jedoch besonders mit der Revolution in Rojava auch ein Symbol, ein Ort der Hoffnung für die Unterdrückten dieser Erde wurde, müssen wir seinen beispielhaften Charakter mit all seinen Seiten aufzeigen. Diesbezüglich können besonders die von Rêber Apo in der dritten Verteidigungsschrift3 gemachten Analysen uns noch einmal Klarheit verschaffen. Wir müssen erkennen, dass die Selbstverteidigung in all ihren Facetten untrennbar mit der Demokratie zusammenhängt, noch mehr als mit allem anderen. Sonst werden wir es nicht schaffen, eine wirklich politisch-moralische Lösung für die Gesellschaft zu schaffen.


Fußnoten:

1 - Rêber Apo ist ein allgemein gebräuchlicher Name für Abdullah Öcalan. Rêber – Kurmancî für rê – der Weg und ber – in Richtung/vor. Rêber bedeutet Wegweiser oder wörtlich »jemand, der den Weg findet und aufzeigt«.

2 - Figur aus dem Gilgamesch-Epos, Begleiter des Gilgamesch. Enkidu verkörpert die Entfremdung von der Natur durch das Annehmen der Zivilisation.

3 - Abdullah Öcalan, Gefängnisschriften, Soziologie der Freiheit, Manifest der demokratischen Zivilisation, Band III


 Kurdistan Report 211 | September/Oktober 2020