Unsere Geschichte zu kennen bedeutet, die Kämpfe fortführen zu können
Die Initiative »Geschichte und Widerstand« stellt sich vor
Wer sind die demokratischen Kräfte in der Geschichte des deutschsprachigen Raumes? Welche Spuren haben sie uns hinterlassen? Wie lebten und organisierten sich die Menschen vor der Nationalstaatwerdung, die hier vergleichsweise spät stattfand?
Dies und noch viel mehr sind Fragen, mit denen wir uns als Initiative »Geschichte und Widerstand« seit geraumer Zeit beschäftigen. Immer wieder fällt auf, wie wenig wir und unsere Freund_innen die Geschichte und Geschichten dieser Gegend kennen. Dabei dürften viele schon einmal von der Zeit der Hexenverfolgung, von den sogenannten Germanen oder von den Bauernkriegen gehört haben. Doch wie stehen diese Entwicklungen, Menschen und Veränderungen in der Gesellschaft miteinander in Verbindung? Und wo sind Auswirkungen auf unser heutiges (Zusammen-)Leben womöglich noch spürbar?
Wenn wir uns einmal von der klassischen Geschichtsschreibung lösen, die sich an sogenannter Ereignisgeschichte orientiert und von einem stetigen Fortschritt ausgeht, können wir Zusammenhänge erkennen, die wichtig sind, um die Gesellschaft, in der wir leben, zu verstehen. Die Ideen und Analysen Abdullah Öcalans sind für uns dabei wegweisend. Wie sieht der Fluss der demokratischen Kräfte im heutigen Deutschland aus? Wo gab es Brüche? Was ist die Geschichte des Patriarchats, des Kapitalismus, des Kolonialismus? In welchen Zeiten wurde die Gesellschaft in ihrer eigenen Ethik, in ihrer Kraft sich selbst zu organisieren, geschwächt? Wenn wir begreifen, dass einer jeden Gesellschaft ein ureigener Drang innewohnt nach Gemeinschaft, nach (Selbst-)Organisierung – nennen wir es Gesellschaftlichkeit basierend auf Ethik und Selbstbestimmung – dann können wir in der Geschichte erkennen, dass es immer ein Ringen um diese Gesellschaftlichkeit gab. Auch wenn der Staat im heutigen Deutschland sehr tief in die Gesellschaft eingedrungen ist, so hat er es doch nie gänzlich geschafft, sie zu zerstören.
Öcalans Analysen folgend ist es wichtig, dorthin zurückzugehen, wo wir unsere Freiheit verloren haben. Und wenn wir uns Geschichte nicht bloß als einzelne Ereignisse, die sogenannte Ein-Personen-Geschichte, vorstellen, sondern mehr als ein stetiges Ringen zwischen der demokratischen Gesellschaft und ihren ethischen Werten einerseits und staatlicher, zentralistischer Macht andererseits, so können wir Muster und Kontinuitäten erkennen. Dies ermöglicht uns aus der Geschichte zu lernen, unsere Analysen zu vertiefen und Ansatzpunkte für unsere gegenwärtigen und zukünftigen Kämpfe zu finden und auf dieser Grundlage eine freie Gesellschaft aufzubauen.
Die Geschichte des Patriarchats
Der erste große Bruch in den Gesellschaften stellt der Übergang von der natürlichen Gesellschaft zum Patriarchat dar. Wir sprechen hier von einer Übergangsepoche vor 6.000 Jahren. Wie sah dieser Übergang aus? Wie konnte sich das Patriarchat nach so langer Zeit gemeinschaftlichen Zusammenlebens durchsetzen? Wo finden wir Spuren matriarchaler Gesellschaften?
Wenn wir uns die Geschichte von heute bis zu diesem ersten Bruch anschauen, so schauen wir uns eigentlich die Geschichte des Patriarchats – und später des kapitalistischen Patriarchats – an.
Öcalan und die Jineolojî sprechen in dem Zusammenhang auch von Wahrheitsregimen. Die Geschichte wird nicht länger in Ereignisse eingeteilt, sondern in Epochen, in denen jeweils ein bestimmtes Werte- und Denksystem vorherrschte, welches das Patriarchat aufrecht erhielt: Mythologie, Philosophie, Religion und Wissenschaft. Natürlich existierten immer auch verschiedene Systeme neben- und ineinander, jedoch hatte immer eins die Vorherrschaft. Und auch wenn es zu einem scheinbaren Bruch kam, weil ein System das andere ablöste, so dienten sie doch immer der Aufrechterhaltung des Patriarchats. So ist klar ersichtlich, dass die kapitalistische Moderne, welche in der Phase der Frühen Neuzeit eingeläutet wurde, durch den Wandel von dem Wahrheitsregime »Religion« zu »Wissenschaft« ermöglicht wurde. Die positivistische Wissenschaft baute ihr Fundament aus Sexismus und Rassismus. Sie lieferte den herrschenden Klassen die Legitimierung für Kolonisierung und Hexenverfolgung. Wir können hier eine Veränderung im System der Macht erkennen: Sie musste nicht mehr zwangsläufig von oben und außen hergestellt werden; vielmehr wurden mit Sexismus und Rassismus Systeme von Macht erschaffen, die sich in die Köpfe eingebrannt haben, wodurch sie sich immer wieder selbst reproduzieren – Patriarchat blieb aber auch hier weiterhin die Grundlage dieser Systeme und wurde durch den Wechsel des Wahrheitsregimes noch weiter institutionalisiert.
Dies war eine Phase, deren Auswirkungen bis heute weltweit spürbar sind; in kolonialen Kontinuitäten, im gesellschaftlichen Sexismus und Rassismus und im Angriff auf die ethischen Grundlagen der Gesellschaften, nicht zuletzt der Gesellschaft des heutigen Deutschlands.
Weiterhin lässt sich beobachten, wenn wir uns die »long durée«1, also nicht einzelne Ereignisse, sondern eine große, lange Zeitspanne – Geschichte aus Vogelperspektive sozusagen – anschauen, dass es bestimmte Faktoren gibt, welche Herrschaft als solche ausmachen. Diese sind es, von denen Öcalan als Zivilisation spricht: die Monopolisierung und Zentralisierung der Macht in politischen, ideologischen, militärischen Bereichen und die Aneignung der Reichtümer einer Gesellschaft.
Es wird ersichtlich, dass diese Zentralisierung von Macht immer einhergeht mit Angriffen auf die gesellschaftliche Rolle der Frau. Na klar, wir sprechen auch vom Patriarchat, aber wie genau sahen diese Angriffe aus? Und wie haben sich die Menschen dagegen gewehrt? Was waren die Auswirkungen auf die Gesellschaft als Ganzes?
Wir wissen mittlerweile, dass in der Frühen Neuzeit, also zur Zeit der Hexenverfolgung, der Kolonisierung und der Bauernaufstände, über einen Zeitraum von mehreren Jahrhunderten Aufstände organisiert wurden, bei denen das Tragen von Kleidung, die dem jeweils anderem Geschlecht zugeordnet wurde, eine wesentliche Rolle spielte. Wir wissen z. B. von den »Mères et ses enfants« (die Mütter und ihre Töchter) aus Frankreich oder der Rebecca und ihren Töchtern aus England. Immer gab es eine anführende »Mutter«, deren »Töchter« ihr symbolisch, aber auch tatkräftig und ganz real den Weg freikämpften, da »der Großen Mutter nichts im Wege stehen darf«. Könnten diese Aufstände Ausdruck einer Rebellion gegen das hierarchische Zwei-Geschlechterverhältnis gewesen sein? Gegen den gesellschaftlichen Sexismus, der durch die Hexenverfolgung zu jener Zeit brutal durchgesetzt werden sollte? Sind sie vielleicht Ausdruck von nicht-binären Geschlechtsentwürfen vor der Hexenverfolgung? Oder knüpfen sie sogar an Göttinnen-Kulte der »Großen Mutter« an?
Wir wissen darüber hinaus auch, dass Bewegungen aus England wie die Levellers und Diggers durchaus einen Zusammenhang zwischen Enteignung, Kolonisierung und Sklaverei analysierten. Und dementsprechend wurde auch die Praxis ausgerichtet: Das System der Kolonisierung wurde zu Beginn an allen erdenklichen Stellen angegriffen. So gab es eine beständige Kommunikation und Austausch über Kämpfe und Aufstände, welcher hauptsächlich durch die Seeleute hergestellt wurde.
Ein weiteres erkennbares Muster der gleichbleibenden Macht mit wechselnden Masken ist der Zusammenhang von der Festschreibung der Rolle der Frau und der Verdrängung von nicht-binären Geschlechtsidentitäten. Im gleichen Maße wie Sexualität und Liebe Gegenstand von Gesetzen wurden, kam es zu Angriffen auf Geschlechtsentwürfe, die sich einer Einteilung in Mann und Frau widersetzten. Wir können dies sowohl in der Antike zur Zeit der ersten Stadtstaaten als auch im Übergang zur Frühen Neuzeit beobachten. Was bedeutet dies für unser Verständnis von Geschlecht? Welche Rolle hatten Frauen und nicht-binäre Menschen innerhalb der Gesellschaft vor dem Patriarchat? Und zu welchen Zeitpunkten wiederhol(t)en sich Muster?
Zur Zeit der Antike war es beispielsweise die Aufgabe von intergeschlechtlichen Personen, also Personen deren Geschlechtsmerkmale weder ausschließlich dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zugeordnet werden können, und nicht-binären Personen, den Kult der Großen Mutter-Göttin zu pflegen. Priesterinnenschaften bestanden zum Teil ausschließlich aus Personen, die eine Kastration durchlaufen und damit aus heutiger Sicht eine uneindeutige Geschlechtsidentität angenommen hatten, zum Teil arbeiteten sie gemeinsam mit Frauen als Priesterinnen. Zudem ist auffällig, dass viele der ältesten Darstellungen von Mutter-Gottheiten diese als intergeschlechtlich darstellen.
Die freie Gesellschaft aufbauen
Um eine Gesellschaft zu verändern nach Werten wie Ökologie, Basisdemokratie und Geschlechterbefreiung müssen wir verstehen, was die spezifischen Probleme dieser Gesellschaft sind, woher sie kommen und wie sie entstanden sind. Wie wurde gesellschaftliche Ethik durch staatliche Gesetzgebung ersetzt? Wir müssen dies insbesondere in Deutschland gut und ausführlich analysieren, um zu verstehen, wie sich der Staat und die staatliche Mentalität in der Gesellschaft entwickeln konnte. Denn hier liegt auch der Ausgangspunkt des deutschen Faschismus. Dieser war kein einzelnes Ereignis in der Geschichte, sondern vielmehr Ausdruck der Durchsetzung eines Systems, das versucht, die gesamte Gesellschaft zu durchdringen, ins Geflecht der Macht zu integrieren und alles Gesellschaftliche, alle Unterschiedlichkeit der Gesellschaften zu vernichten. Es ist unabdingbar, dass wir diese Mechanismen tiefgehend begreifen. Und wenn wir die Gesellschaft heute in Deutschland sehen, was müssen wir dann daraus ableiten? Wie muss unsere Praxis aussehen?
In den Schriften der kurdischen Bewegung, gerade in den Verteidigungsschriften von Abdullah Öcalan, werden bereits einige grundlegenden Analysen und Entwicklungen der Gesellschaften in Mitteleuropa gegeben. Sie betten sich ein in ein ganzheitliches Verständnis der Welt, sind Teil eines Denksystems die Welt und den Menschen darin zu begreifen. Das Gedankengerüst der kurdischen Bewegung begreifen auch wir als Grundlage unserer Arbeiten. An vielen Stellen ist es unsere Aufgabe, diese theoretischen Überlegungen zu ergänzen und zu konkretisieren, wenn wir die Realität der kapitalistischen Moderne und ihrer historischen Entwicklung in Mitteleuropa verstehen wollen. Dafür ist es wichtig, den Widerstand der demokratischen, ethischen Gesellschaft mit ihren Ideen, Aufständen, Rebellionen, Revolutionen, Hoffnungen und organisatorischen Strukturen und Lebensweisen zu verstehen.
Jineolojî – eine Wissenschaft aus Perspektive der Frau
Die kurdische Frauenbewegung hat mit der Jineolojî konkrete Methoden für eine Wissenschaft entwickelt, die dem Aufbau des freien Lebens dient. Wenn wir die Entwicklung des Patriarchats als ersten Bruch begreifen, so ist es von großer Wichtigkeit eine Analyse aus der Perspektive der Frau, welche seitdem versucht wird zu unterwerfen und permanenten Angriffen ausgesetzt ist, zu entwickeln. Die Jineolojî möchte eine Soziologie der Freiheit entwickeln. Sie fügt dabei zusammen, was durch die patriarchale Erzählart und insbesondere durch die positivistische Wissenschaft zerstückelt wurde: Geschichte, Ökologie, Politik, Gesundheit, Ethik und Ästhetik sowie Selbstverteidigung.
Für uns stellt die Jineolojî und insbesondere ihre Methoden die Grundlage für unsere Geschichtsarbeiten dar. Wie nähern wir uns Geschichte an? Welche Quellen nutzen wir? Wessen Perspektive nehmen wir ein? Eine fundamentale Kritik an der positivistischen Wissenschaft und ihren Methoden ist dabei essentiell. Wir möchten denjenigen Spuren folgen, die innerhalb der Gesellschaft überdauert haben: den Liedern, Tänzen, Bräuchen und Geschichten. Den Märchen und Legenden, ja selbst der Natur und den Landschaften. Was können sie uns erzählen über Widerstand und Verlust? Über Göttinnenkulte oder vielleicht die Industrialisierung? Auch wenn durch die Angriffe der Hexenverfolgung ganze Wissensarchive zerstört wurden, so hat dennoch einiges überdauert, was es gilt aufzuspüren und der Gesellschaft zurückzugeben.
Jineolojî ist eine Wissenschaft, die der Gesellschaft dient und nicht bloß Wissen in einer Liga von Experten anhäuft – auch das ist ein zentraler Aspekt, welcher für uns eine wichtige Rolle spielt. Wie können wir die Geschichten in Erinnerung behalten? Wie kann Geschichte Teil unseres alltäglichen Lebens und unseres Kampfes werden? Und wie kann das Wissen um die Geschichte der Widerständigen, ihrer Hoffnungen und der fortdauernden Kämpfe – die demokratische Linie – der Gesellschaft zurückgegeben und lebendig gehalten werden?
Darüber hinaus bilden auch dekoloniale und indigene Methoden eine wichtige Grundlage unserer Arbeitsweise: Wie setzen wir uns in Bezug zu dem Erforschtem? Zu den Menschen, die darin eine Rolle spielen? Welche Verantwortung bringt das erlangte Wissen mit sich? Wie können wir gewährleisten, dass dieses Wissen dem Aufbau eines freien und guten Lebens dient? Wie können wir das Wissen auch mit Humor vermitteln? Und dabei gilt auch für uns: Wir haben nicht das Recht, alles zu wissen.
Viele offene Fragen
All dies sind Fragen zu denen wir uns zusammen und gemeinsam auseinandersetzen. Recherchieren, Reisen und Wandern, Geschichten lauschen, Nachspüren und in uns hinein horchen, uns erinnern – all dies begreifen wir als Teil dessen. Uns den Rücken stärken, mit all dem, was vor uns war. Und dann: Verantwortung übernehmen. Oder um es mit dem Zitat einer Freundin während der letzten Geschichtsbildung zu sagen: »Ich gehe mit vielen offenen Fragen heraus, die ich aber auch als eine Handlungsanweisung für mich verstehe.« All dies und noch viel mehr bedeutet für uns Geschichtsarbeit.
1 - Longue durée (deutsch lange Dauer) bezeichnet einen geschichtswissenschaftlichen Fachbegriff, der die Geschichtswissenschaft auf eine neue, strukturalistische Grundlage stellt. Dieser Begriff ist von Fernand Braudel aus der Annales-Schule geprägt worden.
Kurdistan Report 211 | September/Oktober 2020