Kein Vertrauen in die Großmächte

Die Mär von der kurdischen Einheit durch die USA, Russland und Frankreich

Ferda Cetin, Journalist und Kolumnist bei der Tageszeitung Yeni Özgür Politika


Delegationsmitglieder von PYNK und ENKS | Foto: anhaAnfang Mai erschien auf dem Nachrichtenportal »Independent Türkçe« eine interessante Meldung mit dem Titel: »Bemühungen der drei Staaten, die syrischen Kurden zu vereinen, von Erfolg gekrönt – Einigung zwischen PYD und ENKS«. Bei den drei Staaten handele es sich um Russland, die USA und Frankreich.

Dass es vonseiten Russlands Bemühungen dieser Art gibt, war mir bislang nicht bekannt. Von den USA wissen wir, dass sie bei allen acht Genfer Friedensverhandlungen, die am 30. Juni 2012 ihren Anfang nahmen, die Partei der Demokratischen Einheit (PYD) gezielt ausgeschlossen hat. Gegenüber den Politiker*innen der PYD begründeten die US-Diplomaten dieses Vorgehen mit der konsequenten Verweigerungshaltung der Türkei. Nur über eine Einigung zwischen PYD und ENKS (Kurdischer Nationalrat in Syrien) ließe sich diese Krise überwinden. So wurden die kurdischen Vertreter*innen aus den offiziellen Treffen herausgehalten. Sie wurden mit »konstruktiven« Gesprächen in den Hotellobbys und Hinterzimmern abgespeist. Die Bemühungen der USA, die PYD zu einer Einheit mit dem ENKS zu bewegen, wurden von europäischen Vertreter*innen und bei der Einladung der kurdischen Vertretung im Élysée-Palast unterstützt.

Doch woher kommt dieser unbedingte Wille, die kurdischen Akteure in Syrien zu einer Einigung zu bewegen? Was steckt dahinter? Dafür müssen wir kurz die Ereignisse in Nordsyrien/Rojava seit Beginn der Revolution rekapitulieren: Ab April 2011 – also von Anfang des syrischen Bürgerkriegs an – haben die Kurd*innen aus Rojava den Aufbau eigener Selbstverteidigungseinheiten und Selbstverwaltungsstrukturen begonnen. Anfang 2014 haben sie die autonomen Kantone Efrîn, Kobanê und Cezirê ausgerufen. Im selben Jahr hat der »Islamische Staat« (IS) sich über den Irak hinaus auch im Norden Syriens ausgebreitet und den Krieg gegen Kobanê gerichtet. Die Kurd*innen haben einen großen Verteidigungskrieg geführt. Bereits zuvor hatten sie Serêkaniyê gegen den Al-Qaida-Ableger al-Nusra erfolgreich verteidigt. Nun fügten sie in Kobanê auch dem IS seine erste Niederlage zu.

Im Kampf gegen den IS waren die Kurd*innen aus Rojava der zentrale Akteur innerhalb der internationalen Anti-IS-Koalition, die einschließlich der USA, Russland und Frankreich aus rund 40 Staaten bestand. Während dieses Kampfes stimmten eben auch die drei besagten Staaten Lobeshymnen auf das System der Kurd*innen an, auf die PYD, die Verteidigungseinheit YPG und die Frauenverteidigungseinheiten YPJ. Sie drückten ihre Zufriedenheit darüber aus, mit diesen Kämpfer*innen Teil derselben Koalition sein zu können und forderten öffentlich die Rechte und Freiheiten der Kurd*innen ein.

In derselben Zeit unterstützte der türkische Staat im syrischen Bürgerkrieg dschihadistische Akteure wie Haiat Tahrir asch-Scham (HTS) (so der neue Name des Al-Qaida-Ablegers al-Nusra), den IS und andere islamistische Gruppierungen, die sich als Teil der Freien Syrischen Armee ausgaben. Mit diesen Gruppen führte die Türkei für alle offensichtlich einen Stellvertreterkrieg in Syrien.

Der Ministerrat der Türkei hat bei einer Sitzung am 16. Juni 2014 die Al-Nusra-Front aus ihrer Terrorliste gestrichen. Im Amtsblatt vom 18. Juni 2014 wurde dieser Beschluss veröffentlicht. Das russische Verteidigungsministerium hat am 2. Dezember 2015 auf einer Pressekonferenz Satellitenbilder veröffentlicht, welche die Beziehungen der Türkei zum IS unter Beweis stellen. Gegenüber den Medien wurde erklärt, dass Erdoğan und seine Familie Geschäfte mit dem IS machen und illegal Erdöl aus dem Irak und Syrien von ihm beziehen.

Trotzdem drohte die Türkei weiterhin unverblümt damit, Efrîn zu besetzen und auch im Osten des Euphrat zu intervenieren. Die Kurd*innen unterhielten zu jenem Zeitpunkt in Efrîn gute Beziehungen zu Russland und östlich des Euphrats gute Beziehungen zu den USA.

Wollen sie wirklich die nationale Einheit der Kurd*innen?

Was machte der ENKS in dieser Zeit? Ihre Vertreter hielten zahlreiche Treffen mit dem türkischen Geheimdienst in Istanbul oder Riha (Urfa) ab. Sie gaben Presseerklärungen heraus und veranstalteten Proteste in Berlin oder Stockholm, in denen sie die Auflistung der PYD als Terrororganisation forderten. Mitglieder des ENKS unterstützten also die Forderungen der Türkei.

Kritisiert wurde der ENKS hierfür weder von den USA, Russland oder den europäischen Staaten. Niemand von ihnen verlangte vom ENKS, sie sollten aufhören, gemeinsame Sache mit der Türkei zu machen und die PYD zu diffamieren. Die Akteure, die von PYD verlangen mit dem ENKS eine Einigung zu erzielen, zeigten dem Nationalrat gegenüber nicht dieselbe Haltung.

Russland zog am 18. Januar 2018 seine Soldaten von der türkischen Grenze in Efrîn ab und gab damit grünes Licht für eine türkische Invasion. Selbst der syrische Luftraum wurde für die türkische Armee geöffnet. Während türkische Soldaten und ihre dschihadistischen Partner Efrîn besetzten, erklärten die USA, ein solches Szenario würde sich im Osten des Euphrats nicht wiederholen.

Doch es wiederholte sich. In den Monaten Juli und August des Jahres 2019 führte der US-Sondergesandte für Syrien James Jeffrey zahlreiche intensive Gespräche mit der Leitung der Demokratischen Föderation Nordsyriens. Er rief die kurdischen Selbstverteidigungseinheiten Anfang Oktober 2019 öffentlich dazu auf, ihre Grenzschutzvorkehrungen aufzugeben und sich samt ihrer schweren Waffen 15 Kilometer von der Grenze zurückzuziehen – nur so könne der politische Druck durch die Türkei entkräftet werden. Als Lösung werde die USA gemeinsame Patrouillen mit den kurdischen Einheiten an der Grenze aufnehmen.

Am 7. Oktober wurde erklärt, die USA werde ihre Soldaten aus Rojava abziehen. Trump sagte lapidar, man könne die Grenze zur Türkei nicht mehr sichern, Kurden und Türken würden seit 200 Jahren Krieg führen und das Ganze interessiere die USA nicht sonderlich.

Am 9. Oktober 2019 wurde dann der Osten des Euphrats für die türkischen Boden- und Lufteinheiten geöffnet. Serêkaniyê und Girê Spî wurden durch die türkische Armee und ehemaligen IS-Mitgliedern in neuen Uniformen besetzt. James Jeffrey beteuerte im Nachhinein noch reumütig, er habe nicht gewusst, dass es so kommen würde.

Dass es sich beim Rückzug der USA aus Rojava um nichts weiter als einen miesen Trick gehandelt hat, sollte sich binnen kurzer Zeit zeigen. Die US-Soldaten wurden zunächst in die US-Stützpunkte im Irak beordert. Doch kurz darauf überquerten sie in kleineren Gruppen erneut die Grenze in Richtung Syrien, um die Erdölfelder von Deir ez-Zor zu kontrollieren.

Nun könnten wir uns folgende Fragen stellen, um die Situation besser zu begreifen:

Was hat plötzlich dazu geführt, dass die Staaten, denen eine türkisch-dschihadistische Besatzung lieber war als der Zusammenschluss der Kantone Rojavas, nun eine »nationale Einheit« unter den Kurd*innen promoten? Wie kommt es, dass diese Staaten, die bedenkenlos die Gebiete, für deren Befreiung die Kurd*innen tausende Gefallene in Kauf genommen haben, der Türkei übergaben, sich nun plötzlich für eine Einigung unter den Kurd*innen aussprechen?

Warum gibt es keine Gespräche mit dem Kurdischen Nationalkongress KNK?

In Sachen kurdischer Einheit sei daran erinnert, dass im Dezember 2019 zehn kurdische Parteien aus Nordkurdistan zusammengekommen sind, um einem solchen Ziel den Weg zu ebnen. Nach ihrem Treffen in Amed hat eine Abordnung der Teilnehmer*innen Gespräche mit südkurdischen Parlamentariern der PDK, der YNK, der Gorran-Bewegung und anderer Parteien geführt. Es stellt sich nun natürlich die Frage, weshalb die Staaten, die in Rojava plötzlich an einer kurdischen Einheit interessiert sind, eine völlige Ignoranz gegenüber der nordkurdischen Initiative zeigen? Wäre das denn nicht auch ein konsequenter Schritt, wenn schon das Ziel der kurdischen Einheit proklamiert wird?

Und wenn die USA eine Delegation zur Vermittlung zwischen PYD und ENKS schicken, warum tut sie nicht das gleiche, um Gespräche zwischen PKK, PDK, YNK und der Gorran-Bewegung zu ermöglichen? Warum zeigen Russland und Frankreich ein großes Interesse für die innerkurdischen Gespräche in Rojava, aber keinerlei Neigung für ähnliche Gespräche im gesamtkurdischen Kontext?

Können die USA und Russland, die weite Teile des Bodens und des Luftraums von Syrien und dem Irak kontrollieren, und das Areal gewissenlos für die Kriege der Türkei freigeben, ein tatsächliches Interesse an der kurdischen Einheit haben?

Die nationale Einheit ist ein Instrument von Völkern, die eine gemeinsame Verwaltung über ihr befreites Land oder eine gemeinsame Front gegen die Besatzer ihres Landes errichten wollen. Es liegt im Wesen einer solchen Einheit, dass sie eine Stärkung der inneren Dynamik und eine Abwehr gegen äußere Akteure darstellt. Ist es vorstellbar, dass die USA, Russland und Frankreich durch eine kurdische Einheit das Interesse verfolgen, die Befreiung der von der Türkei besetzten Gebiete in Syrien zu ermöglichen?

Der Ko-Vorsitzende des Kurdistan Nationalkongresses (KNK) Ahmet Karamus reiste mit einer Delegation am 8. Dezember 2019 nach Südkurdistan, um dort Gespräche mit Mesûd Barzanî und anderen PDK-Vertretern zu führen. Der KNK ist eine Institution, die von 38 Parteien und Organisationen gegründet wurde, um eine nationale Einheit unter den Kurd*innen voranzubringen. Die Delegation des KNK konnte in Südkurdistan mit allen politischen Parteien und Bewegungen fruchtbare Gespräche führen. Lediglich von der PDK erhielt sie keinerlei Antwort auf ihre Gesprächsanfragen.

Öffentlich unterstützt die PDK eine Annäherung zwischen der PYD und dem ENKS. Doch wenn ihr die kurdische Einheit so wichtig ist, warum beantwortet sie nicht die Gesprächsanfragen des KNK? Warum öffnet sich die PDK nicht für eine nationale Annäherung mit anderen kurdischen Parteien, während sie zugleich die Gespräche in Rojava begrüßt? Kann es sein, dass sie die Hoffnung hegt, durch die Annäherung zwischen PYD und ENKS einen Teil der Macht in Rojava zu erlangen?

Ziel ist die Zerschlagung der demokratischen Selbstverwaltung von Rojava

Während Russland, die USA und Frankreich die PYD dazu auffordern, sich gegenüber dem ENKS zu öffnen, fordern sie vom ENKS keineswegs den Abbruch ihrer Beziehungen zur Türkei, die Schließung ihrer Büros in Istanbul und Riha und ihre Rückkehr nach Rojava. Die USA wollen den ENKS nicht von der Türkei lösen. Das Ziel der USA ist es, über den ENKS die PYD so weit umzuformen, dass die Türkei und die PDK sie akzeptieren kann. Das ist die spezielle Aufgabe, die dem syrischen Sondergesandten der USA James Jeffrey aufgetragen wurde. Es muss also klar sein, dass weder die USA noch Russland oder Frankreich tatsächlich ein Interesse an einer kurdischen Einheit haben. Ihr gemeinsames Ziel ist es, die demokratische Selbstverwaltung in Rojava zu zerschlagen und so die Forderungen der Türkei umzusetzen.

Hätten die drei Staaten ein echtes Interesse an der kurdischen Einheit, müssten sie sich zunächst für die Normalisierung der Beziehungen zwischen der PDK und der PKK interessieren. Es ist doch kaum vorstellbar, dass die USA, Russland und Frankreich nichts von den gemeinsamen Bestrebungen der Türkei und der PDK wissen, die Qendîl-Region zu besetzen. Die Krise um Zînê Wertê dürfte doch wohl längst auch bei diesen Staaten angekommen sein.

Kaum vorstellbar ist auch, dass die PDK an einer tatsächlichen kurdischen Einheit interessiert ist. Denn dieselbe PDK kollaboriert mit dem türkischen Staat bei dessen Bemühungen die PKK zu zerschlagen, unterstützt also die Besatzung Südkurdistans durch die Türkei und errichtet mit ihr gemeinsam auf immer mehr Hügeln und Bergen Militärstationen. ­Dieselbe PDK fordert die PKK dazu auf, »irakischen Boden« zu verlassen und wird nicht müde, zu erklären, dass die Türkei kein Problem mit den Kurd*innen in Syrien, sondern lediglich eines mit der PKK habe.

Die Bestrebungen für »eine kurdische Einheit« in Rojava sind vor diesem Hintergrund als Teil der Bemühungen zu betrachten, die auf die Vernichtung der PKK abzielen, an denen auch die Türkei und die PDK beteiligt sind.

Statt sich ernsthaft für eine kurdische Einheit in Rojava zu interessieren, wollen die USA, Russland und Frankreich das demokratisch-selbstverwaltete Projekt in der Region zerschlagen und an dessen Stelle ein vom dem ENKS mitgetragenes System platzieren. Die Umsetzung eines solchen Vorhabens ließe sich schlecht gegen den Willen der kurdischen Bevölkerung bewerkstelligen. Deshalb wollen sie einen Teil der Kurd*innen in diesen Plan einspannen.

Und so sind auch ihre vermeintlichen Bemühungen um eine kurdische Einheit nichts weiter als eine Mär!