Hasankeyf fast vollständig im Stausee versunken – das ist kultureller Genozid!

Der Kampf gegen zerstörerische Großprojekte geht weiter!

Ercan Ayboga, Ökologiebewegung Mesopotamiens


Nach über 20 Jahren Widerstand und Rückschlägen hat es der türkische Staat geschafft, den Ilısu-Staudamm inklusive Wasserkraftwerk fertigzustellen und ein Großteil des Tigristales einschließlich Hasankeyf (kurdisch: Heskîf) zu fluten und in einen Stausee zu verwandeln. Doch der Kampf gegen dieses Herrschaftsprojekt der Zerstörung und Ausbeutung geht sowohl am Tigris als auch in ganz Kurdistan und darüber hinaus weiter. Denn die ökologische Bewegung erstarkt wieder, und kein Bauwerk ist für die Ewigkeit.

Die Zerstörung des physischen Kulturerbes geht weiter. Anfang Juni 2020 zeigten Bilder, wie der Kleine Palast an der nordöstlichen Ecke der Burg im Wasser stand, was bedeutet, dass die zu ihrem Schutz gebaute Stützmauer inzwischen wasserdurchlässig ist. Das heißt die riesige und bis zu 80 Meter hohe »Schandmauer« aus Schutt und Beton wird den Einsturz der Burg nur hinauszögern aber nicht verhindern können. Am 19. Mai 2020 verkündete die autoritäre und zutiefst antidemokratische Regierung der Republik Türkei in einer online übertragenen Pressekonferenz die Inbetriebnahme der ersten Turbine des Ilısu-Wasserkraftwerkes. Präsident Erdoğan verbreitete dort gezielt Falschinformationen und Lügen über die angeblichen Vorteile des Ilısu-Projektes. Dabei betonte er besonders, dass vom Ilısu-Projekt der Wind der Geschwisterlichkeit und des Friedens ausgehe. Das Gegenteil ist jedoch der Fall. Denn jetzt kann der türkische Staat dem Irak in erheblichem Umfang das Wasser abgraben. Rojava (Nordsyrien) kann in einem kleineren Gebiet ebenfalls schwer getroffen werden. Denn nun hat die Türkei die Möglichkeit, über Wochen oder gar Monate den Tigris aufzustauen. Der ohnehin in seiner Außenpolitik aggressiv auftretende und von der NATO wie auch durch Russland darin ermutigte türkische Staat, der die UN-Konventionen über eine einvernehmliche Nutzung grenzüberschreitender Gewässer nicht ratifiziert hat, kann den Wasserdurchfluss einfach durchbrechen. Und sehr wahrscheinlich wird kein Staat – nicht einmal der von der Wasserzufuhr abhängige Irak – offiziell dagegen protestieren. So sieht es momentan leider aus. Aber die Menschen in Mittel- und Unter-Mesopotamien, die extrem unter der Situation leiden, werden auf die Straße gehen. Die Völker des Irak könnten ihren Staat wie im letzten Winter durch einen Aufstand zum offenen Protest zwingen. Könnten!

Versenkte Kultur

Hasankeyf liegt mittlerweile weitestgehend unter dem künstlichen Ilısu-Stausee. Der Blick auf diesen seit 12.000 Jahre durchgehend besiedelten Ort ist zweifellos für die meisten von uns erschütternd. Nur wenige Gebäude des bis vor kurzem bewohnten Ortes sind noch zu sehen, darunter der obere Bereich der Burg. Alles andere liegt unter dem Wasser des 136 Kilometer langen Stausees, der inzwischen vollgelaufen ist. Oft wurde die Zerstörung des kulturellen Erbes durch dieses Projekt kritisiert. Das jedoch greift viel zu kurz. Denn es handelt sich hierbei um einen kulturellen Genozid! Ein großer Landstrich entlang des oberen Tigris wurde geflutet ohne umfassend erforscht zu haben, was die Menschen in den vergangenen etlichen Tausend Jahren hier geschaffen haben. Hunderte Orte eines global gesehen einzigartigen kulturellen (und auch Natur-) Erbes sind nun nicht mehr erreichbar. Die Zerstörung in Ober-Mesopotamien ist aus kultureller und historischer Sicht noch dramatischer als die Zerstörung von Palmyra in Syrien durch den sogenannten Islamischen Staat (IS) oder der Buddha Tempel in Afghanistan durch die Taliban. Hasankeyf ist ebenso bedeutend wie die 12.000 Jahre alte Tempelanlage Göbekli Tepe, die nur 230 Kilometer westlich gelegen ist.

Widerstand

Von 1998 bis heute engagierten und engagieren sich Hunderte Menschen und Dutzende Organisationen in Nordkurdistan, der Türkei, im Mittleren Osten und vielen weiteren Staaten gegen das Ilısu-Projekt, das weltweit eine der umstrittensten Talsperren ist. Mehre Male gab es in der Vergangenheit auch Erfolgsmomente wie 2002 und 2009, als die europäische Finanzierung gestoppt wurde. 2013 stoppte ein Verwaltungsgericht das Projekt, 2014 mussten nach Intervention der Volksverteidigungseinheiten (HPG) die Arbeiten ruhen, und 2015 streikten die Arbeiter*innen wegen schlechter Arbeitsbedingungen.

Bei keinem anderen Investitionsprojekt legte der Staat sich so ins Zeug, um es fertigzustellen. Gegen kein anderes zerstörerisches Projekt in Nordkurdistan und in der Türkei wurde so lange Widerstand geleistet. 2019 wurde die Kampagne zur Rettung von Hasankeyf verstärkt vorangetrieben, aber es hat nicht ausgereicht, dass Projekt zu verhindern.

Soziale Folgen

Für die Menschen, die lange gekämpft haben, ist es besonders schwer zuzusehen, wie alles im Wasser verschwindet. Noch dramatischer ist es für die mehr als 20.000 Vertriebenen aus dem Tigristal, die nun unter sehr schwierigen ökonomischen Verhältnissen leben müssen. Weitere 60.000 Menschen, deren Häuser zwar nicht überflutet, aber deren Lebensgrundlage zerstört wurde, sind in die Armut getrieben worden. In wenigen Jahren wird das die Landflucht verstärken.

Ist nun alles vorbei? Die vollständige oder teilweise Flutung von 199 Dörfern einschließlich Hasankeyf ist eine Tatsache, die wir über Wochen begleitet haben. Dennoch ist die Antwort NEIN! Es gibt bedeutendere Gründe, weshalb der Kampf weitergehen muss. Die Gerichtsverfahren der enteigneten Menschen werden fortgeführt, und einige haben immer noch keine Entschädigung oder nur einen Teil des ihnen zustehenden Geldes erhalten. Je mehr Druck es gibt, desto früher und desto mehr werden sie bekommen.

Die vielen Vertriebenen sind in ihren neuen Wohnorten (zumeist großen Städten) mit vielschichtigen sozialen und psychischen Problemen konfrontiert. Ein besonderes Augenmerk sollte auch auf den Anwohner*innen liegen, deren Häuser nicht überflutet wurden, denn für sie besteht die Gefahr, auch noch vertrieben zu werden.

Die Zerstörung des physischen Kulturerbes geht weiter. Anfang Juni 2020 zeigten Bilder, wie der Kleine Palast an der nordöstlichen Ecke der Burg im Wasser stand, was bedeutet, dass die zu ihrem Schutz gebaute Stützmauer inzwischen wasserdurchlässig ist. Das heißt die riesige und bis zu 80 Meter hohe »Schandmauer« aus Schutt und Beton wird den Einsturz der Burg nur hinauszögern aber nicht verhindern können. Damit entbehrt die offizielle Propaganda, der zufolge Hasankeyf mit dem Ilısu-Projekt gerettet werde, noch offensichtlicher jeglicher Grundlage. Währenddessen geht der Bau des »Kulturparks« in Neu-Hasankeyf weiter; noch ist nicht ersichtlich, was bei der Versetzung von sieben Monumenten alles verloren gegangen ist.

Ungeheure Kosten

Das Ilısu-Projekt hat viel mehr Geld verschlungen, als offiziell angegeben wurde. Es wird aber zukünftig noch viel mehr kosten. Am 19. Mai wurde publik, dass das Projekt insgesamt 18 Mrd. TL gekostet habe, also etwa 3 Mrd. Euro. Jahrelang wurde immer nur von 2 Mrd. Euro an Gesamtkosten (einschl. der »Umsiedlungskosten«) gesprochen. Das Projekt ist also offiziellen Angaben zufolge 50 % teurer als geplant. Das ist typisch für solche Megaprojekte, sie kosten der Gesellschaft viel mehr als angekündigt, und Konzerne können die erwarteten großen Profite einfahren. Wir gehen davon aus, dass es noch weit teurer wird. Denn eine Reihe sozialer Kosten werden in anderer Form von Privathaushalten und Kommunen getragen. Und sollte in den nächsten Jahren eine große Dürre kommen, dann wird Ilısu deutlich weniger Strom produzieren als errechnet. Auch dies bedeutet höhere Kosten für die öffentliche Hand, da das Ilısu-Konsortium vertraglich festgelegte Zahlungen erhält.

Möglichkeit der Renaturierung

Es gibt noch einen weiteren Aspekt, der die Fortführung der Kampagne notwendig macht: Das Ilısu-Projekt ist für Natur und Mensch eine Katastrophe, und es ist nicht für die Ewigkeit gebaut, denn es besteht aus Beton, Mauerwerk, Stahl und weiterem industriell gefertigtem Material. Die Gesetze der Natur jedoch bestehen weiter, sie würden auch eine Renaturierung ermöglichen. So könnte das Tigristal nach einem Stopp des Projektbetriebes und dem Ablauf des aufgestauten Wassers sich innerhalb nur weniger Jahre in einen naturnahen Zustand zurückentwickeln. Ein Rückbau des Ilısu-Staudammes ist nicht illusorisch, da der Entwicklungsstand der Technik und internationale Erfahrung sehr konkrete Möglichkeiten bieten. Für die Renaturierung des Tigristales ist der Rückbau des Absperrbauwerks nicht zwingend erforderlich aber im Lauf der Jahre möglich. Die wichtigere Herausforderung ist ein sinnvolles und ökologisches Management des angeschwemmten Sediments im Staubecken. Natürlich müsste für einen Rückbau der politische Rahmen geschaffen werden. Notwendig ist die Demokratisierung des Staates und die Autonomie Nordkurdistans, was zum Überleben grundlegend erforderlich ist.

Die Fortführung des Kampfes gegen das Ilısu-Projekt ist auch deshalb wichtig, um gegenüber anderen natur- und umweltzerstörerischen Großprojekten des Staates nicht in die Defensive zu geraten und um Perspektiven aufzuzeigen, dass verloren gegangene Gebiete, zerstörte Lebensgrundlagen und zerstörtes Kulturerbe zurückgewonnen werden können. Gerade ein Erfolg gegen das Ilısu-Projekt könnte Aktivist*innen anderer sozial-ökologischer Kämpfe im Mittleren Osten und darüber hinaus motivieren, trotz der Fertigstellung eines Projektes weiterzumachen. Bei Kohle- und Atomkraftwerken haben solche Kämpfe in einigen Staaten dieser Welt in den letzten Jahren Erfolg gezeigt.

Virtuelle Versammlung des Wasserforum Mesopotamien

Nach dem 1. Wasserforum Mesopotamien im April 2019 in Silêmanî (Südkurdistan) gingen in den letzten Monaten die Diskussionen der beteiligten Organisationen weiter, ein zweites Wasserforum Mesopotamien in 2021 zu organisieren. Die zivilgesellschaftlichen Organisationen aus Nordkurdistan hatten sich letztes Jahr dazu bereit erklärt. Als die Covid-19 Pandemie sich ab März 2020 auch auf die Staaten Mesopotamiens auswirkte, entstand die Idee, eine virtuelle Versammlung zur Bewertung des letzten Jahres und der aktuellen Pandemiezeit sowie zur Diskussion von Vorschlägen für das 2. Wasserforum Mesopotamien durchzuführen. Erst wurden für Irak, Südkurdistan, Iran, Syrien, Türkei und Nordkurdistan »lokale« digitale Diskussionen und am 16. und 17. Mai 2020 schließlich die virtuelle Versammlung des Wasserforum Mesopotamien veranstaltet. Während in den lokalen Versammlungen insgesamt 150 Aktivist*innen und Interessierte teilnahmen, waren es am 16. und 17. Mai immerhin 80 Personen aus ganz Mesopotamien und darüber hinaus, die Vorträge hielten und gemeinsam diskutierten.

Hervorgehoben wurde bei der virtuellen Versammlung, dass vor allem die Türkei im Schatten der Pandemiebekämpfung repressive Maßnahmen vornimmt, um umstrittene Investitionen und Projekte, die zuvor ruhten oder nur langsam vorankamen, durchzusetzen. So z. B. ein seit Jahren von der Bevölkerung heftig kritisiertes Wasserkraftwerk im Zîlan-Tal in der Provinz Wan. Auch geplante Proteste gegen die weitere Stauung durch den Ilısu-Staudamm waren nicht möglich.

Die Pandemie zeigte außerdem die Schwächen der ökologischen Bewegungen in ganz Mesopotamien, dabei insbesondere den fehlenden engen Bezug zur breiten Bevölkerung. Andererseits bietet die Pandemie auch Möglichkeiten, mehr Menschen als sonst zu erreichen. Denn die Mehrheit der Bevölkerung sucht nach Antworten und Zukunftsperspektiven angesichts der zunehmenden ökonomischen Krise. Dafür sollten die sozialen Medien effektiver als bisher genutzt werden. Kurze Erklärungen mit visueller Unterstützung könnten sehr dabei helfen, da immer seltener längere Texte gelesen werden.

Bezüglich des geplanten 2. Wasserforum ­Mesopotamien wurde betont, dass aus allen Teilen Mesopotamiens eine aktive Beteiligung notwendig ist, da sonst ein, zwei geografische Gebiete dominieren. Insbesondere Iran und Rojava/Syrien sind noch unterrepräsentiert. Aufgefallen ist, dass die Aktivist*innen wegen der mangelnden gemeinsamen Sprachkenntnisse nur bedingt miteinander kommunizieren können. Grund dafür sind die Kolonialisierung durch westliche Staaten sowie die Politik der nachfolgenden Nationalstaaten. Dieses Problem muss auch durch mehr gemeinsames Engagement und regelmäßige Kampagnen überwunden werden.

Die virtuelle Versammlung hat dazu beigetragen, dass sich Aktivist*innen aus vier Staaten und mindestens sechs Ländern Mesopotamiens besser kennengelernt haben. Die demokratische Zivilgesellschaft Mesopotamiens hat begonnen, die Gesellschaften auf der anderen Seite der Grenzen zu verstehen. Und zwar durch eigenes Engagement und nicht durch die Bevormundung von Staaten, internationalen NGOs oder anderen Organisationen. Dies fördert tatsächlich nicht nur die sogenannte »Völkerverständigung«, sondern Solidarität und demokratisches Bewusstsein. Die virtuelle Versammlung wurde unter der Parole »Frieden durch Wasser« beendet.