Die Situation in der Demokratischen Föderation Nord- und Ostsyrien
Corona-Virus könnte zum Ausnahmezustand führen
Sozdar Koçer
Es ist nun fünf Monate her, seit der völkerrechtswidrige Angriff des türkischen Staates und seiner dschihadistischen Verbündeten auf die Demokratische Föderation Nord- und Ostsyrien begonnen hat, und bis heute sind die Städte Serê Kaniyê (Ras al-Ayn) bis Girê Spî (Tel Abyad) besetzt. Auch wenn die Besatzung aus dem Bewusstsein der internationalen Öffentlichkeit verschwunden ist, bedeutet das nicht, dass der menschenverachtende Krieg dort aufgehört hat. Jeden Tag erreichen uns Meldungen aus den Dörfern entlang der Grenze, von wo aus die türkische Armee kontinuierlich Dörfer mit Mörsern beschießt. Zivilist*innen werden festgenommen und nur gegen Lösegeld freigelassen sowie gefoltert und umgebracht. Wir sehen zu, wie unter der Besatzungsmacht Gewalttaten inklusive Vergewaltigungen stetig zunehmen.
Überall in den Medien wird aus der militärischen Perspektive auf die Selbstverwaltung geschaut. Es wird darüber berichtet, wo sich die Russen, US-Amerikaner, das Assad-Regime, die Türkei und ihre dschihadistischen Verbündeten geographisch positionieren. In den Medien kursieren Videos und Fotos von Konvois der Soldat*innen, die entweder die russische, US-amerikanische oder syrische Flagge tragen und somit ihre Macht in den von den QSD1 erkämpften Straßen und Städten demonstrieren. Für die Verhandlungen während der Invasion haben die internationalen Mächte sich nicht an die bestehenden Strukturen gewandt, sondern ein einzelnes Gesicht gebraucht – und fanden es in der Person des »General«-Kommandanten der QSD, Mazlum Abdi. Die Westmächte haben versucht, ihn allein als den wichtigsten Mann in der Föderation Nord- und Ostsyrien hochzupuschen. So als würden in der Region die sozialen und politischen Strukturen den militärischen unterliegen, wie es in ihren Nationalstaaten der Fall ist. Die Kraft der Rätestrukturen der Föderation – der MSD2 – wird dabei komplett ignoriert und nicht anerkannt. Daher müssen wir das tun und von den Menschen sprechen, die die Rätestrukturen mit Leben und Überzeugung füllen. Es ist enorm wichtig, auch von der Perspektive der Menschen dort zu sprechen, die von der Invasion der Türkei und ihrer dschihadistischen Verbündeten direkt betroffen sind. Was passiert mit diesen Menschen? Wie sieht die Situation der Geflüchteten in dieser Region aus? Mit welchen Problemen ist die Selbstverwaltung konfrontiert?
Die Situation der Binnenflüchtlinge
Während des Angriffs der Türkei und durch die verstärkte Präsenz des Assad-Regimes in der Demokratischen Föderation Nord- und Ostsyrien beschlossen sehr viele NGOs, die Region zu verlassen. Diese NGOs waren offiziell über Sêmalka eingereist, um in den Camps Projekte anzubieten und Unterstützung zu leisten. Da das syrische Regime die Verwaltung dort nicht anerkennt, bedeutet das Eintreffen der syrischen Soldaten für die NGOs, dass ihnen vom syrischen Regime vorgeworfen werden kann, sich illegal ohne das erforderliche Visum in Syrien aufzuhalten. So zogen fast alle NGOs ihre Mitarbeiter*innen aus der Region ab und schlossen ihre Standorte.
Die Föderation Nord- und Ostsyrien beherbergt seit der Revolution – seit acht Jahren – aus den benachbarten Regionen und Ländern geflüchtete Menschen. Sie flohen aus dem Inland und dem Irak vor dem »Islamischen Staat« (IS), wie etwa die Menschen aus Şengal (Sindschar). Viele sunnitische Iraker*innen flohen vor der Al-Haschd-asch-Schaabi-Miliz in die von den QSD befreiten Gebiete. Und aufgrund der jüngsten Besetzung durch die Türkei und ihre dschihadistischen Gruppierungen wurden erneut viele Menschen zur Flucht gezwungen. Die Autonomieverwaltung hat in verschiedenen Regionen und an sicheren Orten Camps errichtet, um die Geflüchteten in Empfang zu nehmen. Momentan befinden sich in den von der Föderation Nord- und Ostsyrien kontrollierten Gebieten 14 Camps. Im Zuge der letzten Invasion entlang der Grenze zur Türkei mussten ca. 300.000 Menschen ihre Dörfer und Städte verlassen und in Richtung Hesîçe (al-Hasaka) fliehen. Sie haben sich in leerstehenden Häusern sowie bei Familien und Bekannten in und um Hesîçe niedergelassen. Alle großen öffentlichen Plätze, Moscheen und Schulen wurden freigeräumt, um den Menschen Unterkunft zu bieten. Insgesamt wurden ihnen 55 Schulen zur Verfügung gestellt. In jedem Klassenzimmer kommen zwei bis drei Familien unter. Parallel zur Verteidigung der Regionen hat die Selbstverwaltung gemeinsam mit Heyva Sor a Kurd – dem Kurdischen Roten Halbmond – das Camp Waşokanî für die Menschen aus Serê Kaniyê errichtet. In Hesîçe selbst wird momentan ein weiteres Camp für ca. 40.000–50.000 Menschen aufgebaut, um die Schulen wieder betriebsbereit zu machen für die Schüler*innen.
Das Camp Newroz, Ende 2014 für die Geflüchteten aus Şengal errichtet, wird von ca. 10.000–15.000 Geflüchteten aus der letzten Invasion bewohnt. Aktuell laufen die Vorbereitungen für den Aufbau eigener Strukturen in dem Camp. Aufgrund der Situation in Idlib flüchteten Ende Februar 2020 hunderte Menschen nach Minbic. Dort wird nun auch ein neues Camp für die Schutzsuchenden errichtet.
Das Camp al-Hol – Reorganisierung des IS
Im Camp al-Hol östlich von Hesîçe befinden sich momentan ca. 63.000 Geflüchtete aus Mûsil (Mosul), dem Irak und aus Baghuz in Syrien sowie den umliegenden Dörfern. Unter den 63.000 Geflüchteten gibt es einen abgetrennten Teil mit ca. 12.000 Familienangehörigen des IS, worunter auch die Familien ausländischer IS-Anhänger*innen sind. Das Al-Hol-Camp ist das größte Camp in Gesamt-Syrien und wird von den Sicherheitskräften der Autonomieverwaltung – den Asayîş – strengstens bewacht. Es geschieht immer wieder, dass ausländische IS-Frauen mit dem Geld, das sie noch bei sich tragen, Schmuggler bezahlen, um sie aus den Camps rauszuholen. Während viele versuchen, das Camp zu verlassen, reorganisieren andere ihr altes Scharia-System im Camp. Auch wenn der IS durch die QSD besiegt wurde, so unterliegen doch zigtausende Menschen in den Camps, den Gefängnissen oder in den Besatzungsgebieten der Türkei und ihrer dschihadistischen Verbündeten weiter der Ideologie des IS. Sie bauen still und unsichtbar ihr System im Camp aus, haben einen heimlichen Gerichtshof gegründet, ihre internen Gefängnisse errichtet und ihre eigene Hisbas – die Religionspolizei – ernannt. Uns erreichen regelmäßig Nachrichten von Gewalttaten und Morden im Camp. Nach Angaben von Heyva Sor a Kurd gab es allein im letzten Jahr ca. 500 Tote im Camp. Darunter waren viele Ermordete, weil sie gegen die Regeln der Scharia verstoßen hatten – weil sie Frauen waren.
Für die Asayîş ist es enorm schwer, die Ideologie und die unsichtbare Struktur im Camp niederzuschlagen. Das Camp besteht mehrheitlich aus Frauen und Kindern und sie alle tragen den Niqab, so dass es bei Aktionen, Tätlichkeiten und Angriffen unglaublich schwer ist, den/die Täter*in/Täter*innen festzustellen oder die internen Gefängnisse unter den tausenden Zelten zu lokalisieren.
Die humanitäre Hilfe und auch die Gesundheitsversorgung werden von den IS-Anhänger*innen mit Skepsis angenommen. Für medizinische Fachkräfte und die Asayîş ist es nicht sicher, sich allein im Camp zu bewegen und zu arbeiten. Häufig werden Gesundheitszelte in Brand gesteckt oder bewusst über Nacht geschädigt, geplündert und mit Steinen beworfen. Gegen die Medikamentenausgabe, Hygienemaßnahmen und Aufklärungsarbeit breitet sich eine starke Antipropaganda aus, alles zu boykottieren. Die Schulen im Camp werden wenig bis gar nicht besucht, mit der Begründung, ihre Kinder sollten »keine Gehirnwäsche von Gottlosen« bekommen.
Wir können offen von einer Reorganisierung und erneuten Radikalisierung der IS-Ideologie sprechen und davon, dass sich eine bedrohliche Situation und Atmosphäre im Camp ausbreiten. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, wann von innen heraus eine radikale Auflehnung entsteht und alles außer Kontrolle gerät. Auch wenn es die jetzige Generation nicht schafft, so wird es die nächste Generation mit noch mehr Hass und Radikalität versuchen.
Trotz der kontinuierlichen Angriffe auf die befreiten Gebiete stellen der Kurdische Rote Halbmond und die autonome Selbstverwaltung die Infrastruktur bereit. Sie sind aber langfristig mit den Zuständen und der Sicherheit des Camps überfordert.
Die Lage in den Gefängnissen
Eine weitere Situation, von der wenig die Rede ist, sind die überfüllten Gefängnisse, mit denen die autonome Selbstverwaltung alleingelassen wird und überfordert ist. In der Föderation Nord- und Ostsyrien sind nach Vor-Ort-Angaben ca. 12.000 Menschen in den Gefängnissen. Es handelt sich dabei um 12.000 radikale und ausgebildete Dschihadisten. Allein bei der letzten Operation in Baghuz wurden 10.000 von ihnen festgenommenen. Aufgrund ihrer hohen Zahl wurden um Hesîçe herum drei große Schulen in Gefängnisse umgewandelt.
Die Situation in den Gefängnissen ist sehr schlecht. Aufgrund der mangelnden gesundheitlichen Versorgung und Kapazitäten vor Ort kann den Insass*innen keine ausreichende Hilfe geleistet werden. Hinzu kommt, dass seit der Invasion der Türkei das Wasser aus der Pumpstation Alok in der Region abgedreht wird, so dass es in den Gefängnissen kein Wasser gibt und die Selbstverwaltung Häftlinge damit aus den umliegenden Gegenden per Tankwagen versorgt. Die komplette Infrastruktur und Logistik werden von der Autonomieverwaltung gedeckt. Für die ca. 12.000 Insass*innen muss die Logistik dreimal am Tag etwa für Mahlzeiten bereitgestellt werden. Es wird sogar davon gesprochen, dass sich die militärischen Strukturen einige Schritte zurückziehen müssen, damit die Gefängnisse versorgt werden können.
Ein weiteres Problem ist, dass die Insass*innen samt Angehörigen im Camp al-Hol durch die türkische Besatzung in Nordsyrien ermutigt sind. Sie organisieren sich innerhalb der Gefängnisse, lehnen sich gegen die Sicherheitskräfte auf und sorgen für Unruhe und Protest. Die Gefängnisse sind keine sicheren Orte, denn auch hier besteht die Sorge, dass sie ausbrechen könnten und die Situation außer Kontrolle gerät. Wenn die Gefahr nicht rechtzeitig erkannt wird, kann dies eine erneute Bedrohung für die Region und die gesamte Menschheit bedeuten.
Unter den radikalen Dschihadisten befinden sich schätzungsweise 3500 bis 4000 ausländische, die von ihren Herkunftsländern nicht zurückgenommen werden. Ihre Familienangehörigen sind im Camp al-Hol untergebracht. Die internationale Gemeinschaft lässt die Selbstverwaltung mit diesem Problem allein. Es muss ein IS-Tribunal geben und alle Länder müssen bereit sein, ihre Bürger*innen zurückzunehmen und sie in ihrem Land vor Gericht zu stellen. Die IS-Ideologie stellt eine Gefahr für die gesamte internationale Gemeinschaft dar und nicht nur für die Region.
Die Situation der medizinischen Versorgung
Auch die medizinische Versorgung wird in der Region von Heyva Sor a Kurd und dem Gesundheitsministerium getragen. Mit der Besatzung durch die Türkei und deren dschihadistische Gruppen wurden Gesundheitszentren und Krankenhäuser von Girê Spî bis Serê Kaniyê bombardiert und/oder in Brand gesetzt. Es fand eine gezielte Zerstörung der Gesundheits- und Wasserversorgung statt.
Die gesundheitliche Versorgung in der Region Şehba, die Geflüchtete aus Efrîn beherbergt, wird über Aleppo gewährleistet. Kobanê wird über Raqqa, Minbic und Tişrîn versorgt, weil der direkte Weg entlang der Grenze von der Türkei mit ihren Verbündeten kolonisiert wird. Mit dem Embargo, das sich auf die humanitäre Situation auswirkt, versuchen die Westmächte und die Türkei, die verschiedenen Kantone voneinander zu isolieren. Hinzu kommt eine im Dezember von den UN verabschiedete Entscheidung, die der Region langfristig eine humanitäre Katastrophe bescheren wird.
Kurz vor Ablauf der Frist der UN-Resolution von 2014, die erlaubt, dass humanitäre Hilfsgüter über vier Grenzen nach Syrien gelangen, gab es Ende Dezember 2019 eine erneute Verhandlung, ob die humanitäre Hilfe weiterhin gewährleistet werden soll. Bei diesem Treffen des UN-Sicherheitsrates haben Russland und China ein Veto eingelegt. Die im Weltsicherheitsrat vertretenen Mächte einigten sich darüber, die Gültigkeit der Resolution nur noch um sechs Monate zu verlängern und zwei der vier Grenzübergänge zu schließen, und zwar al-Yurbiah in Irak und al-Ramtha in Jordanien. Nur die Grenzübergänge Bab al-Hawa und Bab al-Salama – die an die Türkei grenzen – können weiterhin genutzt werden. So sollen künftig humanitäre Hilfsgüter der UN nur noch über die Türkei nach Damaskus gelangen. Das bedeutet, dass in naher Zukunft die ca. 1,5 Millionen geflüchteten Menschen in der Föderation Nord- und Ostsyrien keine gesundheitliche Versorgung mehr bekommen können. Nach Einschätzung der Mitarbeiter*innen von Heyva Sor a Kurd werden die Güter, die über Damaskus nach Syrien gelangen, kaum bis gar nicht die Autonomieverwaltung erreichen. Die Westmächte puschen mit dieser Entscheidung das Assad-Regime und geben ihm die Möglichkeit, die alleinige Kontrolle über die Gebiete an sich zu reißen und durch die Zentralisierung der Hilfsgüter seine Macht spürbar zu machen.
Diese Entscheidung wird in naher Zukunft eine enorme Auswirkung auf die Region haben. Denn die aktuell noch in der Föderation Nord- und Ostsyrien vorhandenen Hilfsgüter werden schnell aufgebraucht sein und es wird enorm schwierig werden, unter den Bedingungen der Isolation und den Folgen der neuen Corona-Pandemie für Nachschub zu sorgen.
Die gesellschaftliche Atmosphäre
Es ist mittlerweile Alltag der Menschen vor Ort geworden, dass auf den Straßen Militärkonvois der Russen und der US-Amerikaner von Dêrik bis nach Hesîçe patrouillieren. Beiden Mächten wird kein Vertrauen geschenkt, denn die Bevölkerung weiß, dass sie aus Machtinteresse und wegen der Erdöl- und -gasfelder dort sind.
Trotz des Krieges, der Invasion und der Patrouillen setzen alle Menschen ihre Arbeit kontinuierlich fort – die Autonomieverwaltung, die Organe der inneren und äußeren Sicherheit, die Kommunen und Kommissionen, die Kooperativen, die Gesundheits- und Bildungsstrukturen. Die Unis haben wieder geöffnet und das Frauendorf Jinwar ist bewohnt. Ende Februar wurde dort ein Gesundheitszentrum offiziell eröffnet. Die bestehenden Camps organisieren sich und entwickeln weiterhin ihre Strukturen und ihren Alltag nach den eigenen Bedürfnissen und Wünschen.
Während im Westen Sympathisant*innen sowie solidarische Gruppen und Einzelpersonen eher düstere Szenarien der Zukunft der Autonomieverwaltung ausmalten und sich in Pessimismus und Projektionen ergingen, schickten Menschen aus der Föderation der Welt aufbauende Grußbotschaften. Sie ermutigten die Menschen, das Nötige gegen den menschenverachtenden Angriff in ihren Orten zu unternehmen, so wie sie das Nötige tun, um die Menschheit und die Würde zu verteidigen. Sie haben seit der Revolution unter prekären Bedingungen, unter Krieg, Flucht und Embargo, bis zum heutigen Tage den Kampf geführt und haben für ihre Errungenschaften viele Opfer gebracht.
Es muss verstanden werden, dass die politische Selbstorganisierung und der Wille dazu mit der Vertreibung aus einer Stadt nicht untergehen. Denn diejenigen, die diese Kraft und Überzeugung in sich tragen, sind die Menschen der Region. Damit sollten Invasion und Flucht nicht gerechtfertigt werden, sondern es soll die Dimension der kontinuierlichen Organisierung und die Widerständigkeit verdeutlicht werden.
Das Chaos in Mesopotamien als eine direkte Konfrontation der Ideologien verstehen
Die Invasion der Türkei über die Staatsgrenzen hinaus geschieht im Interesse der NATO-Mächte. Deren Zustimmung zum Vorgehen und die Unterstützung der Türkei stärken die IS-Ideologie sowohl im eigenen Land als auch im Ausland. Die NATO-Großmächte verfolgen damit geostrategische und wirtschaftliche Interessen, die auf dem Rücken der Zivilgesellschaft ausgetragen werden.
Grund für den Konflikt in der Türkei/Kurdistan und im gesamten globalen Süden sind längst nicht mehr die unterschiedlichen Nationalitäten. Die Angriffe sind Angriffe auf das Paradigma des demokratischen Föderalismus, welches das kapitalistische Patriarchat und den Nationalstaat mit ihrem tief verwurzelten Rassismus und Nationalismus bekämpft. Denn die Alternative, die gelebt wird, greift die Existenz von Rassismus und Nationalismus an und macht sie nach und nach unbedeutend. Was alle Westmächte in ihrem Handeln zusammenbringt, ist der gemeinsame Feind: die basisdemokratischen Strukturen in der Föderation Nord- und Ostsyrien. Das gemeinsame Ziel ist eindeutig: die Zerstörung der Autonomieverwaltung. So können wir davon sprechen, dass diese Angriffe stellvertretend für den Aufprall der verschiedenen Ideologien stehen. Derzeit wird im globalen Süden der dritte Weltkrieg, der Krieg und Kampf der Ideologien, ausgetragen – das radikal basisdemokratische Gesellschaftskonzept vs. die kapitalistische Moderne.
Vertrauen in die eigene Kraft
Was uns die Besatzung von Efrîn, Serê Kaniyê und Girê Spî gezeigt hat, ist der Widerstand der Kämpfer*innen der QSD und der Völker. Sie haben für den Schutz der Menschen strategische und menschliche Entscheidungen getroffen. Trotz der taktischen Verhandlungen mit den USA und Russland und der Zusammenarbeit mit der Türkei und dem syrischen Regime sollte die Kraft der Demokratischen Föderation Nord- und Ostsyrien nicht unterschätzt werden. Die Autonomieverwaltung ist eine Kraft, die diese Großmächte zu Verhandlungen gezwungen hat. Sie ist eine Kraft, die weltweit von der Bevölkerung anerkannt wird.
Die kurdische Bevölkerung hat eine jahrzehntelange Erfahrung in der Organisierung und eine tiefgehende Analyse der Interessen der Westmächte. Global müssen wir den alternativen Strukturen, die den kapitalistischen Nationalstaat herausfordern, viel mehr Vertrauen schenken. Es stimmt: Wenn die imperialen Nationalstaaten als Maßstab gesetzt werden, dann verfügt die Autonomieverwaltung über wenig Waffen und Möglichkeiten. Unser Maßstab sollte jedoch nicht der Nationalstaat, nicht die Menge an Kämpfer*innen, Waffen, Wirtschaft und Kapital sein. Unsere größte Stärke sollte der demokratische Konföderalismus sein – die Alternative zum herrschenden System. Unser Maßstab müssen die Freiheitsliebenden sein, die diese Idee verteidigen. Es darf nicht außer Acht gelassen werden, dass diese kämpferischen Menschen aus Überzeugung und mit dem Willen zur gesellschaftlichen Veränderung kämpfen und die Gebiete verteidigen. So sollte erkannt werden, dass die größte Furcht der Nationalstaaten das Gedeihen dieser Ideen im globalen Süden ist. Und die Angriffe und ihre Präsenz sind die Resultate ihrer Furcht und Unsicherheit.
Fazit
Es ist enorm wichtig, neben all den positiven Beispielen, Strukturen und Errungenschaften auch von den Problemen der Föderation Nord- und Ostsyrien zu sprechen, mit denen sie konfrontiert ist:
Sie ist einem Embargo unterworfen, Efrîn und Serê Kaniyê und Girê Spî stehen unter der Besatzung der Türkei, die Wasserversorgung wird von der Türkei gezielt geschädigt, es finden täglich Angriffe entlang der Grenze statt, das Camp al-Hol und die Gefängnisse sind überfüllt mit radikalen Dschihadist*innen, die humanitäre Hilfe wird instrumentalisiert, die Versorgung der vielen Geflüchteten, die Isolation der Kantone voneinander, die allgemeine Situation in den Camps ...
Neben all diesen Herausforderungen läuft die Versorgung der Gesundheitszentren und Krankenhäuser weiter, die Infrastruktur für die Bevölkerung und Verteidigung bleibt intakt. Wie lange das so bleibt, ist ungewiss. Die Selbstverwaltung stößt auf allen Ebenen an ihre Grenzen und ihre Kapazitäten sind mehr als ausgeschöpft. Hinzu kommt aktuell die Verbreitung des Corona-Virus. Dessen Ausbreitung könnte aufgrund des Mangels an gesundheitlicher Versorgung und medizinischem Material sowie medizinischer Ausrüstung, Atemschutzmasken, Desinfektions- und Reinigungsmitteln zum Ausnahmezustand und damit zu hohen Verlusten führen.
Besonders gefährlich ist die Situation in den überfüllten Camps und Gefängnissen: Dort kann es im Falle eines positiven Testergebnisses dazu kommen, dass sich das Virus rasch verbreitet. Seit dem 23. März gilt eine Ausgangssperre in der Föderation – alle Schulen, Unis, Moscheen und anderen öffentlichen Plätze bleiben geschlossen. Es werden Maßnahmen getroffen, um die Gesellschaft im Rahmen der Kapazitäten und Bedingungen zu schützen.
Die Region kann unter den schwierigen Bedingungen die Verantwortung für den Kampf gegen das Virus nicht allein tragen. Ein Notstand steht in der Region bevor. Darauf sollten wir uns alle vorbereiten. Wir dürfen aus dem Kreislauf der Ignoranz und der eigenen privilegierten Betroffenheit die Situation dort nicht aus den Augen verlieren.
Das Ziel dieser Betrachtung ist nicht, eine nüchterne Analyse der Region zu liefern. Wir brauchen eine Sensibilisierung für die verschiedenen Schwierigkeiten und diese Themen müssen auch ein Teil unserer Gespräche, Seminare und Öffentlichkeitsarbeit werden. Wir müssen es schaffen – gemeinsam mit der Selbstverwaltung –, eine internationale Solidarität aufzubauen, um die basisdemokratischen Strukturen zu verteidigen und Strukturen, die diese ersticken wollen, zu bekämpfen. Beide Kämpfe müssen parallel geführt werden.
Um dem Ausnahmezustand entgegenzuwirken und die Gesundheitsstrukturen zu unterstützen, werden dringend Spenden erbeten unter dem Verwendungszweck »Rojava-Corona-Virus«:
Heyva Sor a Kurdistanê e. V.
Kreissparkasse Köln
Konto-Nr.: 40 10 481
BLZ: 370 502 99
IBAN: DE49 3705 0299 0004 0104 81
BIC/SWIFT: COKSDE33XXX
oder https://www.paypal.me/heyvasor
Verwendungszweck: Rojava Corona-Virus
(aufgrund einer Verfügung des ADD können keine Spenden aus dem Bundesland Rheinland-Pfalz angenommen werden)
1 - Die Demokratischen Kräfte Syriens (arab.: QSD, engl.: SDF/Syrian Democratic Forces) wurden im Oktober 2015 gegründet und werden gebildet aus einer Anzahl militärischer Kampfgruppen und Fraktionen, die alle Segmente der syrischen Gesellschaft einbeziehen, in denen die QSD eingesetzt sind. [vgl. KR 193, Sept./Okt. 2017: Die QSD, eine Kampfgruppe der Gesellschaften Syriens]
2 - MSD: Der Demokratische Rat Syriens (kurd.: MSD) wurde im Oktober 2015 als politischer Arm des militärischen Dachverbands Demokratische Kräfte Syriens (arab.: QSD, engl.: SDF) gegründet.