Vor einem Jahr, am 7. April, wurde Sarah Handelmann bei einem bei einem Angriff der türkischen Luftwaffe auf die Medya-Verteidigungsgebiete getötet

Sara: Warum also vergessen wir so leicht, dass wir uns im Krieg befinden?

Ein Brief von Sarah Handelmann –Sara Dorşîn aus den Bergen Kurdistans


Sarah Handelmann – Sara DorşînSarah Handelmann – Sara Dorşîn ging 2017 in die Berge Kurdistans und schloss sich der Frauenguerilla YJA-Star an. Am 7. ­April 2019 kam sie mit zwei weiteren Freundinnen der YJA-Star bei einem Luftangriff der Türkei in Garê in den südkurdischen Medya-Verteidigungsgebieten ums Leben.

Es ist Krieg! – das dürfte spätestens in Zeiten des weltweiten Ausnahmezustands allen klar sein! Ein O-Ton aus den Abendnachrichten: »Grenzregime ‒ mit Helikopter werden Felder und grüne Grenzstreifen ab heute noch harscher überwacht um illegale Grenzübertritte zu verhindern.« Hierbei handelt es sich nicht wie etwa zu befürchten um eine EU-Außengrenze, nein es handelt sich um die Schengen-Binnengrenze im Zuge der modernen Eiszeit: Der Corona-Abschottungspolitik!

Es ist kalt geworden da draußen, auch wenn der Frühling gerade erst begonnen hat. Die Zeiten regen uns vermehrt zum Nachdenken an. Und es gibt bereits einige Überlegungen, auf die wir zurückgreifen können. Sara Dorşîn hatte sich 2017 entschieden, in die Berge Kurdistans zu gehen. In einem an uns gerichteten Text erläutert sie uns ihre Gedanken zum aktuellen Krieg, in dem wir uns befinden: »Der Krieg verschärft sich in diesen Tagen, in unmittelbarer Nähe, dennoch ist es ruhig bei uns – manchmal fast zu ruhig. Gerade in dieser Zeit breitet er sich aus, und gewinnt an Schwere. Es gibt diese Momente, die radikale Entscheidungen verlangen. Sie gehören zur Geschichte, und aus einer anderen Perspektive betrachtet sind diese Entscheidungen auch gar nicht so radikal, sondern stellen eine Notwendigkeit dar.

Krieg

Wir befinden uns im Krieg. Das ist eine klare Sache, genauso ernst wie alltäglich. Das ist unser Leben, seitdem wir begonnen haben, nach etwas zu suchen, das wir nicht in unserer nächsten Nähe finden konnten, oder das wenigstens geglaubt haben. Und das ist aus diesem Krieg geworden: Es ist nicht leicht, heute an etwas zu glauben. Schätze, das ist zu einer Entschuldigung geworden – der Glaube. Wir müssen das, was wir tun, selbst zu dem machen, woran wir glauben können. Das heißt, dass es das eigene Handeln ist, das den Wert und den Glauben hervorbringt – um ihm dann wiederum durch den Glauben daran die nötige Kraft zu geben, die es braucht, um glaubhaft und widerständig zu sein. Also, das heißt handeln, losgehen, etwas tun, in Bewegung sein, anstatt darauf zu warten, dass etwas vorbeikommt, das unsere idealistischen Ansprüche schon in jeder Hinsicht erfüllt, oder aber daran verzweifeln, dass dem nicht so ist, gar nicht so sein kann. Schon an dieser Stelle liegt ein Fehler vor. Denn der Punkt ist, dass unser Vorhaben unmöglich sein MUSS. Wenn es nicht über die Grenzen der umsetzbaren Möglichkeiten hinausgeht, kann es einem radikalen Anspruch gar nicht gerecht werden. Das Schlimmste ist, dass wir verlernt haben, den Weg zu gehen, den wir eigentlich für richtig halten. Wir lassen unsere Reflexe, unserer Rebellion zu folgen, absterben, da wir zu sehr damit beschäftigt sind, das Ergebnis eines potentiellen Kampfes zu berechnen, wir machen uns sogar glauben, dass wir damit unseren Handlungen einen Wert geben. Dabei aber entgeht uns die ehrliche Erfahrung eines Widerstandes der aus sich selbst Kraft schöpft. Ein Wert entsteht immer im Kampf. So ist das auch mit der Freiheit. Ich kann also sagen: ›das ist Freiheit‹, gleichzeitig kann ich nie von mir behaupten, frei zu sein. Eine befreite Gesellschaft bedeutet nicht, dass der Kampf vorbei ist. Eine befreite Gesellschaft ist eine Gesellschaft die für die Freiheit kämpft, eine sich befreiende. (Auch) die Freiheit liegt im Kampf selbst. Und das ist ein Weg, eine Bewegung in dem Bewusstsein, dass die Geschichte etwas ist, auf das wir Einfluss nehmen.

»Wen jemand ein Problem erkannt hat und nichts zur Lösung des Problems beiträgt, ist er selbst ein Teil des Problems.« Indianische Weisheit

Wir müssen an unserer Haltung arbeiten. Wir haben kein Recht zu scheitern. Als Militante, als Revolutionäre, haben wir kein Recht dazu. (Wieder ein Problem des Liberalismus). Wir räumen uns zu sehr das Recht zu scheitern ein. An den Umständen, an uns selbst. Wir gefallen uns sogar in unseren Unfähigkeiten. Wir haben es so gelernt, um uns überhaupt noch lieben zu können. Für andere nennen wir es Verständnis oder Mitgefühl. In Wirklichkeit nehmen wir uns damit ‒ mit fehlender Radikalität und Entschuldigungen – selbst die Kraft zu irgend einem erfolgreichen Kampf. Wir berauben uns selbst unserer Radikalität. Wir begrenzen uns selbst. Es ist tatsächlich so: Wenn etwas unerfolgreich ist, wenn wir scheitern, liegt das ausschließlich an unseren eigenen Fehlern. Etwas oder jemand anderes trägt keine Schuld. Es ist eine Frage des Anspruchs und des Willens. Denn der Kampf kennt keine Grenzen. Diese Haltung birgt nicht nur unsere Aufgabe, sondern ist auch unser Vorteil. Weil es gleichzeitig auch heißt, dass wir Erfolg haben werden, wenn wir keine Fehler machen. Das heißt, keine Fehler verstecken und an sich arbeiten, sich verändern. Der Mensch selbst ist der Erfolg. Also, der Mensch selber ist auch eine Garantie. Und der Mensch selbst ist auch ein Ziel. In diesem Sinne gibt es tatsächlich nichts, das wir nicht können, keinen Kampf, den wir nicht kämpfen können, Wir sprechen hier von Radikalität.

Sarah Handelmann – Sara DorşînZîlan
Für einen Wert der größer ist als wir,
Für einen Kampf der sich in dir findet, wie du dich in ihm gefunden hast, Zîlan, bist du gegangen.
Mit deinen Beinen, mit deinen Augen mit deiner Hand,
die uns einen Weg gezeigt hat, der nun unauslöschlich ist.
Der nun Teil der Welt ist.
Der Kampf,
die Bedingungslosigkeit,
Zîlan.
Jetzt folgt der Kampf dir,
Jetzt bist du der Wert.
Jetzt werden die, die dir in die Augen gesehen haben,
den Weg vervielfachen.
Wenn die anderen Angst haben,
vor dem Kampf,
der Bedingungslosigkeit,
Zîlan.
Vor dem Weg, der Welt,
Zîlan
Jetzt folgen wir dir,
Zîlan.
(Verfasst von Şehîd Sara Dorşîn in Erinnerung an Şehîd Zîlan, 30. Juni 2018)

Gegen uns wird Krieg geführt und das ist eine alltägliche Tatsache, die allerdings nur unvollständig in unser Bewusstsein vorgedrungen ist. Natürlich tritt er in verschiedenen Formen auf. Das war schon immer so. Wie wir wissen, ist Gewalt ein beliebtes Mittel, das auch viele verschiedene Formen annimmt. Die Staatsgewalt nennt sich selbst so und greift auch gerne zu psychischen Maßnahmen. Aber noch mehr: Mit dieser Gewalt brichst du vielleicht den Willen, aber mit einem System, wie es die sogenannten demokratischen Staaten im Westen anführen, sorgst du dafür, dass der Wille erst gar nicht entsteht. Das funktioniert tatsächlich sehr gut. Also wie viele von uns können tatsächlich behaupte, etwas aufs Spiel zu setzen, zu opfern bereit zu sein?

Gleichzeitig aber die Sinnsuche. Es gibt im Menschen eine tiefe Sehnsucht, sich etwas größerem zu versprechen.

Wir befinden uns im Krieg ... Es ist Zeit für einen Internationalismus. Wenn ich heute in die Berge gehe, lerne mit einer Kalaschnikow umzugehen, die Bücher von Abdullah Öcalan lese und mit jungen Guerillas über Feminismus diskutiere, dann tue ich das nicht, weil ich einer orientalistischen Vorstellung erlegen bin und denke, einem unterdrückten Volk zur Befreiung zu verhelfen. Letztendlich tue ich es, weil ich weiß, dass ich nicht von mir behaupten kann, irgendeinen Wert zu verbreiten, wenn ich nicht kämpfe. Und weil die Waffen, die in den Mittleren Osten geliefert werden, deutsches Fabrikat sind.

Ein Wert entsteht immer im Kampf!

Eine Theorie ist ohne Praxis immer unvollständig!

Uns fehlt eine Ernsthaftigkeit die nicht verzweifelt, sondern an sich selbst glaubt!

Wir sind Teil eines weltweiten Kampfes, gegen den gleichen Feind.

Dieser Krieg den wir den 3. Weltkrieg nennen, ist vor allem ein ideologischer. Wenn wir gewinnen, ist das ein Sieg über eine große Depression. Wenn wir aber scheitern, wird sich eine noch größere Hoffnungslosigkeit über genau diejenigen legen, die jetzt vielleicht interessiert zuschauen, es aber nicht schaffen, aktiv auf der militanten Seite zu kämpfen. Das aber zu kämpfen bedeutet, gar nicht verlieren zu können, dass wir schon gewonnen haben, wenn wir wirklich zu kämpfen beginnen.

Dieser Krieg ist unser Krieg, unsere Verantwortung, unsere Entscheidung und unsere Entschlossenheit.

Warum also vergessen wir so leicht, dass wir uns im Krieg befinden?

ENDE

Lassen wir also nicht zu, dass wir den Krieg verlieren, fangen wir an zu kämpfen und werden Teil des militanten Widerstands an deiner Seite.«

Wie versprochen, liebe Heval Sara Dorşîn, deine Worte werden immer da sein!

»Wen jemand ein Problem erkannt hat und nichts zur Lösung des Problems beiträgt, ist er selbst ein Teil des Problems.« Indianische Weisheit