Eine freie Zukunft als Alternative zur Mentalität von Erdoğan und IS aufbauen

Erdoğan will mit allen Mitteln seinen Machtbereich ausdehnen

Fehim Işık, Journalist


Am dritten Tag des Langen Marsches in Genf. Foto: anfAls die AKP im Jahr 2002 die Regierungsgeschäfte in der Türkei übernahm, verfolgte sie eine liberale muslimisch-demokratische Linie. Das war nicht überraschend. Denn die bislang machthabende kemalistische Elite verfolgte eine repressive Politik gegen all jene, die nicht die offizielle Ideologie akzeptierten. Es gab keine Chance, sich außerhalb der vorgegebenen Schablonen auszudrücken, geschweige denn an die Regierung zu kommen. Die AKP rund um Erdoğan und seine Weggefährten trennte sich deshalb von ihrem alten Anführer Necmettin Erbakan und gründete ihre eigene Partei, mit der sie die Nähe zum Westen in den Vordergrund rückte. Auf diese Weise konnte sie mit ihrer Politik in der Türkei und später in ihren Bestrebungen zur Institutionalisierung ihrer eigenen Macht die Unterstützung des Westens nutzen und die Reaktionen der kemalistischen Elite abfedern.

Erdoğans flexible Linie

Das war einer der wichtigsten Gründe für die von der AKP und Erdoğan verfolgte westliche Linie. Erdoğan hat hierfür einen flexiblen Politikansatz umgesetzt, der von den Muslimen auch als »Taqīya« bezeichnet wird. Beispielsweise hat er den Prozess zum Eintritt in die Europäische Union beschleunigt. Während er unter der Hand propagierte, die Demokratie sei nur ein Werkzeug für die Fortsetzung ihres Weges, hat er sich als Verteidiger der Demokratie präsentiert. Diese Haltung hat ihm zum einen die dauerhafte Unterstützung des Westens gesichert, der die AKP als muslimisch-demokratisch orientiert betrachtete, zum anderen einer Verstetigung der Unterstützung im Inneren den Weg geebnet. Diese Politik hat die AKP an der Macht gehalten und ihr die Kontrolle über die staatlichen Institutionen gesichert.

Gülen als Partner

Die stärkste Unterstützung für die Regierung von Erdoğan kam in den ersten Tagen von der Gülen-Bewegung, die sich seit über 40 Jahren innerhalb des Staates organisierte. Sie war verankert in der Armee und der Polizei, verfügte über Einfluss auf den verschiedenen Ebenen des Staates und hatte beträchtliches Kapital. Insbesondere ab dem Jahr 2007 begann die Gülen-Bewegung in Kooperation mit der AKP den Staat effektiver zu beeinflussen.

Die Kurd*innen als Baustein zur eigenen Machtfülle?

Die AKP war für ihre Machterhaltung auch auf die Kurd*innen angewiesen. Dafür begannen 2008 Geheimgespräche mit der PKK in Oslo. In den folgenden Jahren offenbarte sich, dass Erdoğan mit diesen Gesprächen weniger das Ziel einer Lösung verfolgte, als vielmehr die Kurd*innen für die Festigung der eigenen Macht benutzen zu wollen.

Die Regierung von Erdoğan kontrollierte ab 2008 Schritt für Schritt den militärischen und bürokratischen Apparat der Türkei. Nach dem Ausbruch der Krise in Syrien 2011 begann sie dann ihre Machtbestrebungen auf den ganzen Mittleren Osten auszudehnen. Als die Gespräche mit der PKK fehlschlugen und 2011 wieder schwere Gefechte ausbrachen, unternahm Erdoğan 2013 erneut Schritte für den Beginn eines Lösungsprozesses. Auch hier standen Erdoğans Pläne, die zu Beginn nicht offensichtlich schienen, zum Erhalt und zur Ausdehnung der Macht im Zentrum. Später sollte es aus den zum Teil veröffentlichen Protokollen der Gespräche mit dem PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan und den Erklärungen der kurdischen Bewegung ersichtlich werden, dass Erdoğan die kurdische Bewegung unter Kontrolle bekommen wollte, um sich in der Region noch einfacher auszudehnen. Die kurdische Bewegung war sich darüber im Klaren und reagierte besonnen.

Das Scheitern des Einvernahmeplans

Erdoğan erkannte die Unmöglichkeit, die kurdische Bewegung nach seinem Gutdünken zu benutzen. Im Jahr 2014 beendete er mit dem im Nationalen Sicherheitsrat vorbereiteten »Zerschlagungsplan« offiziell den Verhandlungsprozess. Doch de facto endete dieser nach den Parlamentswahlen am 7. Juni 2015.

Erdoğan zielte 2014 mit der Unterstützung des Nationalen Sicherheitsrates zum einen auf die Zerschlagung der Gülen-Bewegung ab. Zum anderen verfolgte er eine harte Politik gegenüber der kurdischen Bewegung, um mit Provokationen ein Ende des Waffenstillstandes herbeizuführen.

Es gab zwei Gründe für den Angriff Erdoğans auf die Kurd*innen und die Gülen-Bewegung. Erstens hat Erdoğan der Gülen-Bewegung in der gemeinsamen Regierungszeit eine Vielzahl von Trümpfen in die Hand gegeben, und die Gülen-Bewegung wusste von Korruption und seinen schmutzigen Machenschaften. Zweitens war die kurdische Bewegung in der Verhandlungsphase politisch stärker geworden und dies war ein Hindernis für die AKP für die Institutionalisierung ihrer Macht.

Neue Bündnisse

Die AKP war dafür auf illegale Methoden angewiesen. Dafür bekämpfte sie zum einen die Gülen-Bewegung und begann zum anderen mit Ergenekon1 zusammen zu agieren. Später gewann sie die Unterstützung faschistischer Parteien wie der MHP und schloss ein neues Bündnis.

Dieses Bündnis mit MHP und Ergenekon war für Erdoğan ein Segen und kennzeichnet den Höhepunkt der Kriegspolitik.

In dieser Zeit ist auch die expansive Politik Erdoğans, die sogenannte neoosmanische Politik, im Mittleren Osten klarer zutage getreten.

Intensivierung der Vernichtungspolitik

Die AKP und Erdoğan begannen mit der Annullierung der Wahlergebnisse vom 7. Juni 2015. Sie erklärten der kurdischen Bevölkerung den offenen Krieg und zerstörten mit schweren militärischen Angriffen die kurdischen Städte. Die Zerstörung der Städte Sûr (Altstadtviertel in Amed/Diyarbakır), Cizîr (Cizre), Nisêbîn (Nusaybin), Şirnex (Şırnak) und Hezex (İdil) sowie die Verbrennung von Menschen in den Kellern kennzeichnen die Politik dieser Phase. Ohne Rechtsgrundlage und ohne Differenzierung zwischen Zivilist*innen und Kämpfer*innen hat Erdoğan zur Festigung seiner Macht die Politik der Gewalt eskaliert.

Die westlichen Staaten, vor allem die EU und die USA, drückten all diesen Praktiken gegenüber die Augen zu. Nachdem die Türkei eine Zeit lang mit Russland aneinandergeraten war, begannen auch diese sich auf der Basis gegenseitigen Interesses stärker einzumischen. Erdoğan nutzte die Widersprüche zwischen den USA, Russland und den EU-Ländern aus und verschaffte sich Einfluss in Syrien. Zunächst besetzte die Türkei die Gebiete im Nordwesten von Syrien zwischen Kaniya Dil (Cerablus) und Bab. Anschließend im März 2018 Efrîn und ab Oktober 2019 die beiden Städte Serê Kaniyê (Ras al-Ain) und Girê Spî (Tal Abyad).

Der EU drohte Erdoğan mit Flüchtlingen. Mit der Annäherung an Russland bedrohte er die USA und Russland mit der Annäherung an die USA. Die Staaten der internationalen Koalition gegen den sog. Islamischen Staat schwiegen zu der Besatzungspolitik der Türkei gegen die im Kampf verbündeten Kurd*innen. Russland unterstützte offen die Besatzung Efrîns und die USA offen die Besatzung in Serê Kaniyê und Girê Spî. Die Länder der EU unterstützen generell die aggressive Politik Erdoğans, der erklärte, die besetzten Gebiete für die Flüchtlinge bereitstellen zu wollen. Auch wenn für die Milliarden-Euro-Unterstützung für Erdoğan ökonomische und andere politische Gründe ausschlaggebend sind, ist die Angst Europas vor den Flüchtlingen ebenfalls ein wichtiger Faktor.

Die Kurd*innen sind vielleicht die Einzigen, die Erdoğan mit seiner Politik noch nicht bezwingen konnte. Sie haben gegen alle Angriffe Erdoğans Widerstand geleistet. Anstatt zum Spielball der Politik Erdoğans zu werden, haben sie es bevorzugt, eine freie Zukunft als Alternative zur Mentalität von Erdoğan und IS aufzubauen. Es zeigt sich zunehmend, dass die Politik Erdoğans, Widersprüche ausnutzen zu wollen, nicht fortgesetzt werden kann.

Der Autor ist Journalist und schreibt u. a. für die Tageszeitung Yeni Özgür Politika.

Fußnote:

1 - Mafiöse Struktur innerhalb des türkischen Staates bestehend aus einflussreichen Personen aus Politik, Wirtschaft, Militär, Medien etc.


Kurdistan Report 208 | März/April 2020