Die Türkei im Widerspruch zu den Interessen der hegemonialen Mächte?

Erdoğan setzt mit seiner Außenpolitik auf eine Ausweitung des Kriegs

Der Kurdistan Report im Gespräch mit dem Sprecher der PYD Salih Muslim


Die Militäroperation der syrischen Armee mit Unterstützung Russlands gegen die von al-Qaida gesteuerte Gruppierung Haiat Tahrir asch-Scham (HTS) in Idlib und Umgebung dauert an. Angesichts des Vormarsches der syrischen Armee und der zunehmenden Verluste der islamistischen Gruppen, die eng mit der Türkei verbunden sind, ist eine verstärkte Intervention des türkischen Staatspräsidenten Erdoğan in die dortigen Geschehnisse zu verzeichnen. Neben der Truppenverlagerung nach Syrien versucht die Türkei mit Militärstützpunkten ein Vorrücken der syrischen Armee zu verhindern. Diese Provokationen sind am 3. Februar in bewaffnete Auseinandersetzungen gemündet. Infolge von Artilleriebeschuss durch Syrien und Russland sind acht türkische Soldaten getötet und mehrere Soldaten verletzt worden. Der Sprecher der Partei der Demokratischen Einheit (PYD), Salih Muslim, beantwortete unsere Fragen rund um diese Entwicklungen.

Women Defend Rojava gegen Angriffskrieg des NATO-Mitglieds Türkei. Blockade der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg. Foto: A. Bender Wie bewerten Sie die Zunahme der kriegerischen Auseinandersetzungen in Idlib und im Westen von Aleppo sowie die Zunahme der türkischen Angriffe auf Nord- und Ostsyrien?

Mit den Interventionen der USA, Russlands, der Türkei und des Iran hat die Krise in Syrien eine andere Qualität gewonnen. Der Krieg in Syrien wird geführt, weil jeder dieser Staaten jeweils seine eigenen Ziele in Syrien verfolgt. Es gibt gegenwärtig zwei Faktoren, die die syrische Krise bestimmen. Zum einen die internationale Koalition und zum anderen Russland. Beide wollen in Syrien entsprechend eigenen Interessen Einfluss haben. Daneben versuchte der türkische Staat immer wieder vom »Arabischen Frühling« zu profitieren. Der türkische Staat hat diesen Ansatz heute verstärkt und begonnen, sich in Widerspruch zu den Interessen der hegemonialen Mächte zu begeben. Darüber hinaus ist in Nord- und Ostsyrien eine autonome Selbstverwaltung entstanden, die keiner der kolonialistischen Staaten auf der Rechnung hatte. Die Selbstverwaltung hat in der Region neue und historische Veränderungen geschaffen und die Gleichgewichte verändert. Zwischen den Staaten, die die Selbstverwaltung nicht auf dem Schirm hatten, sind Interessenskonflikte hervorgetreten. Der Krieg in Idlib war mit dem Prozess von Astana zu erwarten. Seit dem Astana-Prozess hat es zahlreiche taktische Vorstöße gegeben. Russland hatte erklärt, dass sich in der Region radikale dschihadistische Gruppen befänden und solange diese dschihadistischen Gruppen nicht aus der Region entfernt worden seien und solange Idlib nicht wieder unter der Kontrolle des syrischen Regimes stehe, würde sich dort der Krieg fortsetzen.

Was sagen Sie zu dem Politikwechsel der in Syrien aktiven Staaten und vor allem zu dem Interessenskonflikt zwischen Russland und der Türkei?

Zwischen den herrschenden Kräften gab es immer Widersprüche. Die Türkei tat mit der Zeit ihre speziellen Pläne kund, die dann nicht unterstützt wurden. Die Pläne des türkischen Staates entsprechend dem Nationalpakt Misak-ı Millî1 wurden von der internationalen Koalition, syrischen Regime und Russland abgelehnt. Die Türkei hat zudem seit Beginn der Krise in Syrien bis heute Europa mit den Flüchtlingen erpresst. Mit diesem Ziel hat der türkische Staat den syrischen Flüchtlingen die Türen geöffnet und ihnen erlaubt, sich in der Türkei niederzulassen. Die Türkei hatte also das Ziel, mit ihrer Flüchtlingspolitik ihre weiteren Ziele in der Region zu verwirklichen. Ein Beispiel dafür ist die Situation in Nord- und Ostsyrien heute. Der türkische Staat hat radikalislamistische Gruppen in die von ihr besetzten Gebiete in Nordsyrien umgesiedelt. Hier werden natürlich Widersprüche auftreten. Der Widerstand der Völker in Nord- und Ostsyrien, das gemeinsame Lebensprojekt der Völker, und vor allem der Widerstand des kurdischen Volkes und das von ihm entwickelte System der demokratischen Nation haben die Politik des türkischen Staates ins Leere laufen lassen. Der Beweis dafür ist der anhaltende Widerstand in Efrîn, Kobanê, Serê Kaniyê und Girê Spî. Dieser Widerstand hat die internationale Politik entscheidend geprägt. Da der türkische Staat dieses Projekt zu zerschlagen versucht, ist die gegenwärtige Kriegsphase entstanden.

Welche Absichten verfolgt der türkische Präsident Erdoğan mit seinen Erklärungen bezüglich der Gespräche in Astana und Sotschi?

Wir haben erwartet, dass die Prozesse wie Astana und Sotschi keine Ergebnisse bringen werden. Beide Prozesse waren taktisch orientiert und Russland hat seine Ziele erreicht. Ziel von Astana war es, die dschihadistischen Gruppen an einem Ort zu sammeln und sie dort zu vernichten. Dieser Plan ist aufgegangen, die Gruppen haben sich in Idlib versammelt. Die gegenwärtigen Ereignisse sind die letzte Etappe dieses Prozesses, also die Vernichtung dieser dschihadischten Gruppen. Auch wenn es Erdoğan nicht gefällt, so hat er doch erklärt, dass die Prozesse von Astana und Sotschi zum Ende gekommen sind. Das ist eine richtige Feststellung.

Erdoğan wollte damit eigentlich erklären, dass die Partnerschaft zwischen Russland und der Türkei endet. Russland hat einen Großteil seiner Ziele in Syrien verwirklicht. Es hat gewährleistet, dass das syrische Regime wieder die Herrschaft über einen großen Teil syrischen Bodens innehat. Es hat die Position des syrischen Regimes in der internationalen Arena gestärkt. Der Sturz von Assad ist von der Tagesordnung verschwunden. In all diesen Themen wurde die Türkei besiegt, und Russland hat gegenüber der NATO wichtige Errungenschaften erzielen können.

Russland war auch erfolgreich damit, Widersprüche zwischen dem türkischen Staat und der NATO zu erzeugen. Mit der Verlegung von Pipelines durch die Türkei hat sie die Türkei an sich gebunden. Damit kann sich Russland in viele Geschäfte der Türkei einmischen. Deshalb kann sich die Türkei nicht mehr von Russland distanzieren. International wird die Türkei zudem weitgehend isoliert.

Was können Sie zu den Erklärungen Erdoğans gegenüber Russland sagen?

Erdoğan verfolgt eine erpresserische Politik. Er betreibt sowohl die Außen- als auch die Innenpolitik auf diese Weise, gegenüber den europäischen Ländern mithilfe der Flüchtlinge. Dass die Türkei Russland erklärt, es müsse sich zwischen ihr und Syrien entscheiden, ist auch ein Produkt dieser erpresserischen Politik. Am Ende wird die Türkei die Politik Russlands als legitim ansehen. Mit der Erpressung Russlands wird sie in Libyen, Griechenland und Zypern verlieren. Erdoğan betrachtet sich aufgrund der NATO-Mitgliedschaft als stark, doch dies kann sich auch schnell umkehren.

Fußnote:

1 - Der Nationalpakt der türkischen Unabhängigkeitsbewegung nach dem Ersten Weltkrieg skizzierte u. a. die Grenzen des neuen türkischen Staates, inkl. Thrakien, Mûsil, Aleppo und Batum.


Kurdistan Report 208 | März/April 2020