Der Krieg der Türkei richtet sich im Besonderen gegen die Errungenschaften der Frauen

Jinwar: Inspiration für Frauen an allen Orten dieser Welt

Interview mit dem Rat von Jinwar (Meclisa Jinwar)


Am 25. November 2018 ist nach einer längeren Aufbauphase das Frauendorf Jinwar in Rojava/Nordsyrien eröffnet worden und weit bekannt als ein Ort des kollektiven Zusammenlebens. Mit Beginn der Invasion der Türkei am 9. Oktober 2019 ist auch Jinwar in Gefahr. Amargî Lêgerin von der Kampagne Women Defend Rojava sprach mit dem Rat von Jinwar, wie die Frauen des Dorfes das alltägliche Leben unter den Kriegsbedingungen organisieren und was aktuell ihre Pläne in diesem Jahr sind.

»Wir laden dazu ein, nach Jinwar zu kommen, damit wir unsere Geschichte und unser Wissen miteinander teilen.« Foto: JinwarWelche Beweggründe gibt es für die Gründung eines Dorfes für Frauen, und was sind eure Ziele?

Wenn wir heute in der Wintermittagssonne gemeinsam Suppe essen und Tee trinken, können wir uns kaum vorstellen, dass genau an dem Ort, an dem wir gerade sitzen, wo die Lehmhäuser stehen, die gerade jetzt im Winter die Wärme halten, wo schon wieder das Grün aus der Erde sprießt, wo die Tausenden Bäume stehen, die wir gepflanzt haben, und wo im Morgengrauen der Rauch aus dem Schornstein der Bäckerei steigt, wo wir gemeinsam über die Pläne für das Dorf sprechen, das an diesem Ort das Land vor etwa drei Jahren noch brach lag.

Die Diskussionen zur Gründung des Dorfes hatte es schon länger gegeben. Das Dorfaufbaukomitee hatte sich bereits 2016 mit dem Ziel gegründet, ein ökologisches Dorf zu bauen, in dem Frauen gemeinschaftlich und selbstbestimmt leben können.

Mit der Gründung von Jinwar knüpfen wir an jene Geschichte an, in der sich die Gesellschaft um Frauen herum gruppierte. Frauen haben lebendige und solidarische Beziehungen zu ihrer Umgebung – zu Natur und Menschen – entwickelt und hatten dadurch eine besondere Rolle in der Gesellschaft. Sie haben Sprache und Kultur weitergegeben. Und sie haben das Wissen über die Organisierung der einzelnen Lebensbereiche wie zum Beispiel der gesundheitlichen und materiellen Versorgung bewahrt und zum Wohl der Gesellschaft und der einzelnen Menschen weiterentwickelt. Im Mittelpunkt des gemeinsamen Zusammenlebens standen gesellschaftliche Werte wie Respekt, Solidarität und Fürsorge. Das Zusammenleben auf dieser Grundlage sichert die Existenz der Gesellschaft und damit das Leben und die Freiheit der Einzelnen.

Eine Gesellschaft kann auch nur dann demokratisch sein, wenn sich Frauen aktiv an deren Gestaltung beteiligen und sich in allen Lebensbereichen selbst organisieren.

Wenn wir uns die Entwicklungen in Rojava und Nordsyrien anschauen, dann sehen wir, dass Frauen eine führende Rolle im Kampf gegen den Islamischen Staat IS und andere dschihadistische Gruppen und beim Auf- und Wiederaufbau der demokratischen Selbstorganisierung in allen Bereichen der Gesellschaft spielen.

Mit dem Aufbau von Jinwar als Teil der autonomen Selbstverwaltung haben wir mit unserem Wissen und unseren Erfahrungen, unserer Kraft und unserer Kreativität einen Ort geschaffen, an dem wir uns von den Beziehungen befreien können, in denen wir nur als Objekte gesehen werden.

Gleichzeitig entwickeln wir auf der Grundlage unseres Willens eine kommunale, ökologische Lebensform und knüpfen damit an die Widerstände und das Wissen von Frauen zu allen Zeiten der Geschichte an. Das Dorf gründet auf der Idee der Selbstverwaltung, das heißt, dass alle Frauen Verantwortung füreinander und für das ganze Dorf übernehmen. Ein Ziel des Dorfes ist die Entwicklung und Stärkung einer freien Persönlichkeit der Frauen und Kinder: aktiver Teil des gemeinsamen Lebens zu werden, sich gegenseitig zu unterstützen, an die eigene Kraft und das eigene Wissen zu glauben, zu wachsen, Verantwortung zu übernehmen, eine Kraft zur Lösung von Konflikten und praktischen alltäglichen Problemen zu entwickeln.

Wie würdet ihr Jinwar beschreiben?

Jinwar ist ein Ort, an dem wir als Frauen die Entscheidungen über die Gestaltung aller Bereiche unseres Lebens, wie Bildung, gesundheitliche Versorgung, materielle Versorgung, gemeinsam treffen und sie gemeinsam organisieren.

In dieser Hinsicht ist Jinwar ein riesengroßer Schritt hin zu einem bedeutungsvollen und freien Leben als Frauen.

Wohl eine der wichtigsten Grundlagen von Jinwar ist der Reichtum an Erfahrungen, die alle Frauen mitbringen und die durch das Zusammenleben zu kollektiven Erfahrungen werden. In Jinwar kommen Frauen mit den unterschiedlichsten Hintergründen und Lebensgeschichten zusammen.

Durch unser lebendiges alltägliches Miteinander teilen wir unsere Erfahrungen, lernen uns selbst, unsere Umwelt und unsere Gesellschaft besser kennen und entwickeln untereinander Beziehungen auf der Grundlage von Respekt, gegenseitiger Unterstützung und Solidarität. Damit schaffen wir die Basis für ein friedliches Zusammenleben.

Wir wollen ein Beispiel sein und zeigen, dass ein kommunales, frauenzentriertes Leben möglich ist.

Wie haben sich die Invasionsangriffe der Türkei auf Frauen und Kinder im Allgemeinen ausgewirkt und was bedeuten sie für das Frauendorf Jinwar? Und wie sah die Situation speziell nach dem 9. Oktober aus?

Die Angriffe der Türkei und ihrer Verbündeten auf die Föderation Nord- und Ostsyrien finden unter dem Vorwand statt, eine »Sicherheitszone« zu schaffen. Für die Schaffung dieser angeblichen Sicherheitszone hat die Türkei gemeinsam mit verbündeten Kräften im Januar 2018 Efrîn angegriffen, und seit dem 9. Oktober 2019 greifen sie Serê Kaniyê, Gire Spî und andere Städte und Dörfer an. Der Weg der Türkei, eine Sicherheitszone in Nordsyrien zu schaffen, besteht darin, das Land zu besetzen und diejenigen zu vertreiben, zu bestehlen, zu töten, die in diesem Land verwurzelt sind.

Frauen sind bei diesen Angriffen vielfachen Formen von Gewalt ausgesetzt. Viele Frauen werden vergewaltigt, misshandelt, gegen ihren Willen verheiratet, verkauft und versklavt. In Efrîn und jetzt auch in Serê Kaniyê und Gire Spî wurde die Scharia eingeführt.

All das hat enorme Auswirkungen auf die Psyche der Frauen und Kinder.

Dabei finden all die Angriffe auf Frauen und Kinder nicht zufällig statt. Während der Angriffe sowohl auf Efrîn als auch auf Serê Kaniyê und Gire Spî wurden vor allem Frauen und Kinder getötet. Feminizid ist eine Kriegstaktik. Die Geschichte zeigt bis heute, dass es Frauen sind, die die Gesellschaft zusammenhalten, die den meisten Widerstand gegen Unterdrückung und Ausbeutung geleistet und gemeinschaftliche Lebensformen als Alternative zur zerstörerischen männlich-dominanten Mentalität aufgebaut haben.

Kinder anzugreifen bedeutet, die Zukunft und die Existenz einer Gesellschaft anzugreifen.

Die Invasions- und Besatzungspolitik hat Auswirkungen auf die alltägliche Selbstorganisierung von Frauen.

Durch die großen Leistungen der Frauen, ihren unermüdlichen Widerstand und ihre unzähligen Kämpfe konnten in den letzten Jahren im Rahmen der autonomen Frauenorganisierung viele Orte geschaffen und Beziehungen geknüpft werden, die für Frauen von großer Bedeutung sind. Frauenhäuser, Akademien, Kooperativen und Kulturzentren wurden auf ihre Initiative hin und mit ihrer Kraft aufgebaut. Sie haben ermöglicht, dass Frauen sich aus traditionellen Familienstrukturen befreien, sich bilden, sich versammeln und dadurch eine gemeinsame Stärke und einen gemeinsamen Willen entwickeln. Diese Orte sind Ziel der Besatzungskräfte.

Die Hinrichtung von Hevrîn Xelef, einer bekannten Vertreterin der Frauenrevolution, macht das gezielte gewalttätige Vorgehen gegen Frauen und ihre Organisierung deutlich.

Frauen und Kinder sind die Ersten, denen durch den Krieg der Zugang zu Bildung, zu gesundheitlicher Versorgung, zu juristischer Unterstützung erschwert wird. Zehntausende Kinder können zurzeit unter den Bedingungen des Krieges nicht in die Schule gehen.

Mit dem Beginn der Angriffe am 9. Oktober waren das Leben der Frauen und Kinder sowie Jinwar selbst genauso wie das Leben aller anderen Frauen und Kinder in unserer Umgebung bedroht. Einige Frauen hatten zuvor schon viele schmerzvolle Erfahrungen gemacht und in Jinwar zum ersten Mal einen sicheren Ort gefunden, nun sahen sie sich wieder Krieg und Gewalt ausgesetzt. Als Teil der Verteidigung unserer Gesellschaft, unseres Landes und all der Errungenschaften der Frauenrevolution haben wir an Demonstrationen und unterschiedlichen Treffen teilgenommen. Wir haben an Beerdigungszeremonien für Gefallene teilgenommen, haben deren Familien unterstützt und uns gegenseitig gestärkt.

Wie ist die aktuelle Lage in und um Jinwar? Was bedeutet diese Bedrohung für das Frauendorf? Wie ist die Haltung der Bewohnerinnen?

Sowohl in der Geschichte als auch heute ist der Mittlere Osten von Konflikten und kolonialen Angriffen auf Frauen und die Gesellschaften, die hier leben, geprägt.

Die jetzigen Angriffe richten sich gegen das friedliche Zusammenleben der unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen, gegen das Projekt der autonomen Selbstverwaltung und vor allem gegen die Errungenschaften von Frauen. Jedes Dorf, das angegriffen wird, könnte Jinwar sein.

Jinwar richtet sich gegen diesen Krieg, gegen die Besatzungs- und Invasionspolitik der Türkei, der dschihadistischen Gruppen und ihrer Verbündeten, gegen die Gewalt und Zerstörung und die Mentalität der Unterdrückung, aus der diese Politik resultiert.

Wir nehmen in diesem Konflikt eine Position ein, indem wir als Frauen zusammenkommen und gemeinsam im Widerspruch zur Mentalität der Unterdrückung eine Lebensform auf der Grundlage von Freiheit aufbauen.

Das Embargo gegen Syrien und der Versuch, Rojava vollständig abzuschotten, wirkt sich auch auf die regionale und lokale Ökonomie aus. Durch die starke Abwertung der Syrischen Lira gegenüber dem Dollar sind die Preise für Grundnahrungsmittel und vielerlei Dinge des täglichen Bedarfs stark angestiegen. Viele Baumaterialien, die wir benötigen, um unsere Projekte umzusetzen, sind sehr schwer zu bekommen.

Aber unser täglicher Widerstand geht weiter: Wir backen Brot, machen Joghurt aus der Milch der Dorfschafe, spinnen Ideen, wie wir das Dorf gestalten können, machen Pläne für die kommende Garten- und Feldsaison, bereiten eine Bildungseinheit zu Naturheilkunde vor, reparieren die Häuser und machen sie regenfest, diskutieren und kommen zusammen, um unser gemeinsames Leben und die Arbeiten der letzten Zeit zu reflektieren und auszuwerten. Gerade sind zwei Frauen des Dorfes von einer einwöchigen Bildung zu Gesundheit und Frauengeschichte wiedergekommen.

Was gibt es für Pläne und Projekte und was an Unterstützung?

Es gibt sehr viele Ideen und Pläne, von denen wir manche in nächster Zeit umsetzen wollen. Vor einigen Tagen haben wir mehrere Solarpaneele als Teil eines ganzen Solarprojekts auf dem Dach der Gemeinschaftsküche installiert, und ein Teil der Häuser wurde an die Solarstromversorgung angeschlossen. Ziel ist es, ausreichend Solarstrom zu produzieren, um alle Häuser mit Strom und Warmwasser zu versorgen.

Dann gibt es das Projekt für die Dorfschule. Der Unterricht der verschiedenen Klassen findet jeweils in einem der runden Kerpiç-Häuser statt. Dieses Jahr wollen wir die Klassenräume gestalten, ein Spielfeld für die jüngeren Kinder, ein Fußballfeld für die Älteren und eine Cafeteria bauen.

Gerade bereiten wir die Eröffnung der Şifa Jin vor, des Gesundheitszentrums für Frauen und Kinder. Die Grundlage des Gesundheitszentrums sind Ansätze der Naturmedizin. Neben der Gewährleistung von Geburtshilfe und der medizinischen Versorgung der Frauen und Kinder von Jinwar und der umliegenden Dörfer wollen wir uns rund um das Thema Gesundheit weiterbilden, altes Heilwissen wieder aneignen, eigene Naturheilmittel herstellen. Dadurch können wir unseren Körper und unsere Umwelt besser kennenlernen und verstehen und unsere Gesundheit stärken.

Wollt ihr noch etwas sagen?

Jinwar bedeutet den Aufbau eines gemeinsamen Lebens von Frauen. Das Dorf ist ein Ergebnis der Errungenschaften, Kämpfe und Widerstände von Frauen der Region, sei es in der langen Geschichte frauenzentrierter Gesellschaftsformen in Mesopotamien, in den Verteidigungskämpfen der Frauenverteidigungseinheiten YPJ oder im Aufbau der selbstverwalteten Gesellschaftsstrukturen, den Kommunen, den Frauenräten und Kooperativen in Nordsyrien. Jinwar lebt durch die Erfahrungen von Frauen auf der ganzen Welt.

Wir laden dazu ein, nach Jinwar zu kommen, damit wir unsere Geschichte und unser Wissen miteinander teilen.

Jinwar ist Teil der Suche von Frauen auf der ganzen Welt nach einem freien Leben. Unsere Prinzipien eines demokratischen, ökologischen und frauenbefreiten Lebens sind nicht nur an Jinwar geknüpft, sondern dienen als Inspiration für Frauen an allen Orten dieser Welt.

Ob ein Dorf, ein Kollektiv, eine Kommune – lasst uns als Frauen zusammenkommen und gemeinsam kämpfen!

JIN JIYAN AZADÎ – FRAU LEBEN FREIHEIT


Kurdistan Report 208 | März/April 2020