Ökologischer Zerstörungswahn in der Türkei und Nordkurdistan erreicht neue Dimension

Ercan Ayboga, Ökologiebewegung Mesopotamiens (MEM)


Der wachsende Stausee hat im Januar 2020 den 12.000 Jahre alten antiken Ort Hasankeyf erreicht und soll ihn in den nächsten Wochen und Monaten unter Wasser begraben – wenn er nicht verhindert werden sollte. Foto: anfDie Türkei als Staat erlebt eine mehrdimensionale Krise, die hauptsächlich durch die autoritär-diktatorische Staatsführung verursacht ist. In der seit 2018 vertieften Krise unternimmt der Staat alles, um Investitionen jeder Art durch Abkommen, Vergünstigungen, Verlockungen und Ausverkauf zu steigern. Wie rücksichtslose Privatisierung, Reallohnverlust und Niedrigzinsen sollen mehr Investitionen dazu beitragen, die Krise mit möglichst wenig ökonomischem und damit politischem Schaden so schnell wie möglich zu überwinden. In diesem Zusammenhang spielen Investitionen in Talsperren/Wasserkraftwerke, Kanalprojekte, Bergbau, Kohle- und Atomkraftwerke, Straßen- und Brückenbau, Bahnstreckenausbau, Pipelines, Tourismusanlagen, Flughäfen, Einkaufszentren und große Wohnquartiere eine besondere Rolle.

Diese Investitionen werden zumeist mit ausländischem Kapital und/oder ausländischen Krediten vorgenommen. Denn für die oft großen Projekte haben weder der Staat noch inländische Privatunternehmen ausreichend Kapital. Letztere haben rund 450 Mrd. Euro Schulden bei ausländischen Banken, die sie kaum zurückzahlen können – sie können nur durch eine Schuldenübernahme durch den Staat noch bestehen. Internationale Unternehmen mit viel Kapital wissen die Lage mit aktiver Unterstützung ihrer eigenen Regierungen auszunutzen. Hier spielen deutsche Konzerne eine nicht unbedeutende Rolle. Denken wir nur an die Nachrichten vom September 2018, als nach einem Besuch des türkischen Präsidenten in der BRD herauskam, dass der geplante Ausbau von Schienennetz und -infrastruktur in der Türkei durch ein von Siemens angeführtes Konsortium realisiert werden soll, verbunden mit Investitionen von rund 35 Mrd. Euro. In der BRD sind verstärkte Bemühungen für steigende Urlaubszahlen in der Türkei zu verfolgen.

Zunehmende und in der Regel unnötige Investitionen bedeuten natürlich zunehmende soziale und ökologische Zerstörung. In einem diktatorischen Staat wie der Republik Türkei, die ganz konkret das Potential zum offenen Faschismus hat und wo die schwachen sozialen und Umweltkriterien immer mehr abgebaut werden, führen schnell vorangetriebene Investitionen zu extremer Zerstörung bei Natur und Menschen. Die bestehenden Regelungen und Gesetze werden außerdem bewusst nicht eingehalten, wenn sie der jeweiligen Investition im Wege stehen.

Seit vielen Jahrzehnten werden im Staate Türkei zahlreiche Menschen durch Investitionen verschiedener Art vertrieben, in die Armut gezwungen, ihrer Grundrechte beraubt und die Ökosysteme eins nach dem anderen zerstört. So sind allein durch Talsperren nach offiziellen Angaben mehr als eine halbe Million Menschen vertrieben worden. Doch mit der extrem neoliberal agierenden AKP-Regierung ab 2002 hat das eine bis dahin nie gewesene Dimension erreicht.

Der Widerstand dagegen nahm parallel aber auch zu und mehrere größere Kämpfe für die Verteidigung des Landes und des Lebens wurden geführt. Leider zu wenige mit Erfolg, was auch an einer elitären Herangehensweise durch die Aktivist*innen, am Fehlen einer Bündelung der ohnehin begrenzten Kapazitäten und einer gemeinsam entwickelten Strategie als auch an einer Deutungshoheit der öffentlichen Meinung lag. Das zeigte sich beim Stopp des Ilısu-Staudammes 2009 und bei den Gezi-Protesten 2013. Jahre später hat der Widerstand angefangen, etwas dazuzulernen.

Heutzutage ist es so, dass fast alle Flüsse aufgestaut oder ausgetrocknet und fast alle Feuchtgebiete ausgetrocknet sind, der Grundwasserspiegel in Mittelanatolien, in der Ägäis- und Mittelmeerregion und in Nordkurdistan hunderte Meter gefallen ist, Dutzende Kohlekraftwerke ihre Umgebung dramatisch vergiften, durch Straßen- und Bergbau fast alle wichtigen Wälder degradiert sind, die industrielle Landwirtschaft viele Millionen Hektar Land vergiftet hat, die Biodiversität schnell abnimmt, die Urbanisierung extrem vorangeschritten ist, neue Gefahren durch vorbereitetes Fracking und Atomkraftwerke immer realer werden ... die Liste ließe sich noch lange fortsetzen. Mit der Ausbeutung der Natur hat sich die Ausbeutung der Menschen vertieft.

Einige der Widerstände gegen die zerstörerischen Investitionsprojekte spielten seit Ende der 90er Jahre eine wichtige Rolle für die kämpfenden und kritischen Menschen vor Ort und im ganzen Staate. Da seien zum Beispiel die Bauern von Bergama, Hasankeyf (kurdisch: Heskîf), Munzur genannt und das AKW Akkuyu. 2019 war ein Jahr, in dem der Widerstand gegen zerstörerische Projekte in der breiten Öffentlichkeit wie seit langem nicht wahrgenommen wurde – dies lag auch an den Erfolgen der linken und sozialdemokratischen Opposition bei den Kommunalwahlen im März 2019. Darunter vor allem das Ilısu-Projekt in Nordkurdistan und das Alamos-Bergbauprojekt in den Ida-(türkisch: Kaz-)Bergen bei Çanakkale in der Marmararegion. Monatelang wurde intensiv selbst von liberalen Medien darüber berichtet. Im Dezember 2019 kam ein neues Projekt auf die Tagesordnung, das fast schon vergessen erschienen war: der Istanbul-Kanal. Seitdem ist es ein Dauerthema in Istanbul und in der türkeiweiten Politik. Diese drei Wahnsinnsprojekte des türkischen Staates stehen exemplarisch für die dortige politische, ökonomische und ökologische Lage und in Nordkurdistan. Sie zeigen, mit welchen Mitteln und wie weit der türkische Staat geht, um Investitionen um jeden Preis zu realisieren.

Der Kampf um Hasankeyf und den Tigris

Seit dem Juli 2019 wird durch den höchst kontroversen Mega-Staudamm Ilısu der Tigris in Nordkurdistan aufgestaut. Der wachsende Stausee hat im Januar 2020 den 12.000 Jahre alten antiken Ort Hasankeyf erreicht und soll ihn in den nächsten Wochen und Monaten unter Wasser begraben – wenn er nicht verhindert werden sollte.

Ein Zugang in die 12.000 Jahre alte Siedlung Hasankeyf/Heskîf ist nur noch mit Sondergenehmigung möglich. Foto: anfAn dieser Stelle wollen wir nicht ausführlich wiederholen, wie wertvoll das bedrohte obere Tigristal ist. Global gesehen ist Obermesopotamien eine äußert wichtige Region, wo die ersten Menschen sesshaft wurden und die kaum untersucht ist. Anschließend hinterließen hier mindestens 24 Kulturen ihre Spuren. In ökologischer Hinsicht ist es eines der letzten noch intakten Flussgebiete im Mittleren Osten. Für die Kurd*innen wie auch die Araber*innen von Hasankeyf bedeutet Ilısu strengere Assimilation und Kontrolle der Bevölkerung durch den türkischen Staat. Sozial gesehen ist es eine Katastrophe, zehntausende Menschen zwangsweise zu vertreiben und sie in die Armut der Städte zu drängen. Die Vertreibung zehntausender Menschen wird sich bis in die Mesopotamischen Sümpfe im Süden Iraks fortsetzen, dem das Wasser abgegraben werden würde. Geopolitisch betrachtet würde in Mesopotamien das Konfliktpotential zwischen Staaten und anderen politischen Akteuren zunehmen. Verschärft wird die Lage durch die Klimakrise mit abnehmenden Niederschlägen seit Ende der neunziger Jahre.

Der über zwanzigjährige Kampf zur Verteidigung von Hasankeyf und dem Tigristal hat am Tigris oft tausende Menschen mobilisiert, Millionen von Menschen beeinflusst und ist ein wichtiger Punkt in der Mobilisierung von Menschen für eine ökologische Gesellschaft. Die Ökologiebewegung Mesopotamiens ist auch durch die Ilısu-Kampagne vorangetrieben worden.

Die neuesten Bilder mit dem in Hasankeyf angekommenen Stausee haben nach zwei, drei Monaten relativer Ruhe die Gemüter in der Öffentlichkeit bewegt und die Medien berichten wieder mehr. Durch die Invasion des türkischen Staates in Rojava im Oktober 2019 wurde es zeitweise extrem schwierig, Protest zu organisieren. Zum Februar 2020 haben sich die Aktivist*innen wieder gefangen und versuchen, kritische Öffentlichkeit zu schaffen und Verbindungen zum Istanbul-Kanal-Projekt zu schlagen. Denn das Schicksal Istanbuls hängt auch von ökologischen Kämpfen an Orten wie dem Tigris ab. Ein Rückschlag am Tigris würde für den türkischen Staat das Istanbul-Kanal-Projekt unmöglicher machen.

Noch ist der Kampf um den Tigris und Hasankeyf nicht ganz entschieden, wir versuchen bis zum letzten Moment, das Projekt zu stoppen und die Tore des Ilısu-Staudamms zu öffnen, damit der Tigris wieder frei fließt.

Istanbul-Kanal – Sturz ins ökologisch-klimatische Chaos

Der geplante Istanbul-Kanal soll etwa vierzig Kilometer westlich des Bosporus das Marmarameer mit dem Schwarzen Meer verbinden. Die ökologischen und sozialen Folgen für die sechzehn Millionen Istanbuler*innen und die Marmararegion wären äußerst katastrophal, würde das Projekt tatsächlich umgesetzt. Foto: anfDas seit einigen Monaten intensiv diskutierte Projekt Istanbul-Kanal ist eigentlich seit 2011 bekannt. Doch es hatte an konkreten Schritten und an Geld gefehlt. Ende 2019 kündigte die türkische Regierung ihn wieder groß an und veränderte somit die Agenda.

Der geplante Kanal soll etwa vierzig Kilometer westlich des Bosporus das Marmarameer mit dem Schwarzen Meer verbinden und angeblich die Schifffahrt sicherer machen, die Durchfahrthäufigkeit vergrößern und auch dem Staat weitere finanzielle Einnahmen bringen. Die ökologischen und sozialen Folgen für die sechzehn Millionen Istanbuler*innen und die Marmararegion wären äußerst katastrophal, würde das Projekt tatsächlich umgesetzt.

Denn es würde zunächst riesige Flächen des ohnehin stark dezimierten Istanbuler Waldes zerstören. Mit dem Bau weiterer Städte am Kanal wären praktisch alle natürlichen Flächen Istanbuls zugebaut und die Metropole würde um drei bis vier Millionen Menschen wachsen – Istanbul wäre ein größeres Monster. Zehntausende Menschen würden vertrieben und bedeutende Agrarflächen wären verloren. Die Trinkwasserversorgung für acht Millionen Istanbuler*innen wäre in Gefahr, weil es sich bei diesen Waldgebieten um die Haupttrinkwasserressourcen handelt. Der Kanal würde die Meeresströmungen so sehr ändern, dass sogar die Winde beeinflusst werden könnten. Das Marmarameer könnte biologisch komplett umkippen und zu einer Kloake werden, da aus dem Schwarzen Meer sauerstoffarmes und schmutziges Wasser dazukommen würde. Selbst wenn der Kanal später wieder geschlossen werden würde, wäre das Desaster nicht wiedergutzumachen.

Es gibt etliche Berichte, wonach Konzerne und Reiche aus dem Umfeld der AKP-Führung und vor allem aus befreundeten Staaten wie Katar Land um den geplanten Kanal herum aufgekauft hätten. Dies kann als eine Gegenleistung für katarische Unterstützung verstanden werden und für Investitionen in der Türkei in Höhe von Dutzenden Milliarden, was die ökonomische Krise lindern soll.

Tatsache ist, dass die Schifffahrtszahlen durch den Bosporus in den letzten Jahren rückläufig sind und die Behauptung von der Verdopplung eine Täuschung ist. Der letzte gefährliche Tankerunfall im Bosporus liegt mehrere Jahrzehnte zurück. Hinzu kommt, dass die Durchfahrt durch den Bosporus kostenlos ist und daher kaum jemand den neuen Kanal nutzen würde.

Weiterhin ist unbekannt, inwieweit die Kanalarbeiten das seit Jahren für Istanbul vorhergesagte große Erdbeben verstärken oder vorziehen würden. Das ist ein weiterer Aspekt, der dieses Projekt so unvorhersehbar macht und seit Dezember viele Proteste verursacht. Schon jetzt lehnen mehr als fünfzig Prozent der Menschen in Istanbul den Kanal ab. Doch die Regierung besteht darauf und hat die Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP) schnell absegnen lassen. Ein Gesetz, das den Kommunen bei Großprojekten jede Mitsprache auch offiziell entziehen soll, ist auf dem Weg, weil der neugewählte Oberbürgermeister von Istanbul, Imamoğlu (von der oppositionellen kemalistisch-sozialdemokratischen Republikanischen Volkspartei CHP), sich von Anfang an klar gegen das Projekt stellt und damit der Regierung das Leben schwermacht.

Der Widerstand gegen den Istanbul-Kanal hat schnell viele Menschen, zivilgesellschaftliche Organisationen und auch politische Parteien mobilisiert. Die Auseinandersetzung wird sich zuspitzen, wenn die Regierung internationale Unternehmen findet, die dieses Zwanzig-Milliarden-Projekt vorfinanzieren und bauen.

Ausblick für die ökologischen Kämpfe

Der sich formierende Widerstand gegen den Istanbul-Kanal kann nur Erfolg haben, wenn er viele Menschen, NGOs und soziale Bewegungen in Istanbul und im ganzen Staat mitnimmt. Es sollten sich nicht nur wenige und von der CHP abhängig profilieren. Gegenseitige Solidarität mit anderen ökologischen und sozialen Bewegungen ist ebenso unabdingbar, um den Widerstand gegen das diktatorische AKP-MHP-Regime zu stärken. So sollten die Aktivist*innen in Istanbul auch zerstörerische Projekte wie Ilısu immer wieder benennen, um daraus eine staatsweite Bewegung gegen die zunehmende ökologische Zerstörung zu formen. Istanbul ist das Zentrum des Staates und viele Millionen schauen dorthin.

Bei Kämpfen gegen desaströse Projekte wie Ilısu oder den Kanal ist es wichtig, gegen vom Staat verursachte Bautätigkeiten oder andere Entwicklungen nicht zu früh aufzugeben. Es ist nötig, schnell zu reagieren, aber nicht überstürzt. Dafür ist langfristige Voraussicht elementar – gerade dies fehlte zumeist in den letzten zwei Jahrzehnten in der Türkei und Nordkurdistan. Es ist nie zu spät für die Natur und das Leben. Die Renaturierung von Gewässern, Wäldern und der Biodiversität durch uns, die Menschen, ist weitgehend machbar, wenn die politischen Rahmenbedingungen durch soziale Bewegungen und allgemeine politische Kämpfe geschaffen werden. In diesem Sinne ist es auch nicht zu spät für Hasankeyf und den Tigris wie auch für den Munzur und die Wälder im Norden Istanbuls.

Die ökologischen Kämpfe haben das Potential, einen wichtigen Beitrag zu leisten, um die AKP-MHP-Diktatur zu schwächen. Millionen Menschen bewegt die ökologische Zerstörung. Wenn daraus Dutzende Millionen werden und eine gute Kampagne dahintersteht, kann durch die Annullierung der Investitionsprojekte vieles und kaum Vorstellbares ins Rollen gebracht werden.

Mehr Infos unter: www.hasankeyfgirisimi.net, E-Mail: hasankeyfgirisimi.net, Twitter: @hasankeyfdicle


 Kurdistan Report 208 | März/April 2020