Und es kommt doch anders als gewünscht

Widerstand gegen imperiale Türkei und neuen Faschismus

Sinan Önal, Politikwissenschaftler und Aktivist


Widerstand gegen imperiale Türkei und neuen FaschismusDie türkische Republik träumt seit ihrer Gründung im Jahr 1923 bis heute davon, eine Hegemonie über den Mittleren Osten und Kaukasus zu gründen, wie es einst das Osmanische Reich getan hatte. Dieser imperiale Traum erstreckt sich bis in die Gene der Gründungselite der modernen Republik Türkei. So hatte sich das mit einer chauvinistischen und faschistischen Ideologie ausgestattete »Komitee für Einheit und Fortschritt«, das die letzten dreißig Jahre des Osmanischen Reiches entscheidend prägte, dazu aufgemacht, eine neue Nation zu erschaffen, um im Zeitalter des modernen Kapitalismus eine Hegemonialmacht sein zu können. Dafür waren ihnen alle Mittel recht. Sie scheuten auch nicht vor Verbrechen gegen die Menschlichkeit zurück, um die alten Völker Anatoliens und Mesopotamiens im türkischen Schmelztiegel aufzulösen. In den gegenwärtigen Macht- und Verteilungskämpfen hat sich die Türkei von Neuem dazu aufgemacht, diesen Traum zu verwirklichen. Um im Ausland Besatzungsoperationen und im Inland absolute Unterdrückung und Einschüchterung ausüben zu können, hat sie die Macht im Land zentralisiert und ein Ein-Mann-Regime aufgebaut.

In diesem Artikel werden wir im Kontext der Chronologie einige zentrale Ereignisse versuchen zu analysieren, wie die Regierung der Türkei vom Herbst 2014 bis Herbst 2019 ihre zentralistische Macht gefestigt hat. Die Weltwirtschaftskrise von 2008, die Phase des »Arabischen Frühlings«, die im Jahr 2010 in Nordafrika begann und sich auf den Mittleren Osten ausdehnte, die im Jahr 2011 von der PKK begonnene Phase des revolutionären Volkskrieges, die 2013 zum ersten Mal offiziell begonnene Imralı-Verhandlungsphase, das Ende des Friedensprozesses im April 2015, die Parlamentswahlen im Juni 2015, die wiederholten Parlamentswahlen im November 2015, der Ergenekon-Militärputsch im Juli 2016, das Referendum zum türkischen Präsidialsystem im April 2017, die Kommunalwahlen im März und die wiederholte Oberbürgermeisterwahl in Istanbul im Juni 2019 sowie der Angriffskrieg auf Rojava und Nordsyrien im Oktober 2019 stellen auf linearer Ebene bedeutende Ereignisse dar.

Von »Soft Power« zur repressiven Doktrin

Das moderne Weltsystem verfolgt das »Greater Middle East Project« entsprechend den in G8- und G20-Sitzungen getroffenen Entscheidungen, um die strukturelle Krise des Finanzkapitals und der monopolistischen Produktions-und Konsumwirtschaft zu retten. Im Jahr 2008 übernahm das von den USA geführte System die Taktik, den Neoliberalismus mit der Perspektive der relativen Konfliktlösung, unter Einbeziehung einer gemäßigten islamischen Ideologie im Mittleren Osten, zu verankern. Nicht nur der Mittleren Osten, sondern auch Asien, Lateinamerika, Afrika und die EU wurden entsprechend dieser Perspektive zu formen versucht.

So wurden Friedensvereinbarungen mit Kuba getroffen, das seit 1960 fortwährend Angriffen und Isolation ausgesetzt war, als auch mit dem Iran, der ebenfalls seit 1979 einer Embargopolitik unterlag. Staaten, die mit radikalen Methoden autonome Stellungen gegen die Versuche der Integration in die kapitalistische Moderne darstellten, wurden Stück für Stück ins System aufgenommen.

Den unter Überwachung stehenden antikapitalistischen Gruppen und der feministischen, menschenrechtsorientierten, ökologischen, linken und sozialdemokratischen Opposition wurde ein relativer Lebensraum gegeben. Es gab eine Doktrin, die die radikale Demokratie und den Sozialismus immer mehr marginalisierte. Die Tendenz zur Dezentralisierung für die Systemrehabilitierung bot für die radikaldemokratischen und sozialistischen Kräfte die objektive Chance, sich noch mehr zu vergesellschaften und alternative Systeme zu gründen.

Der Arabische Frühling von 2010, die sozialen Bewegungen in Europa sowie die internationalen Alternativforen weltweit bewirkten die Hinwendung des Systems zur härteren Vorgehensweise und einer absoluten Doktrin der Einschüchterung. Die Neugestaltung des Mittleren Ostens sollte nun nicht mehr mit gemäßigten, sondern mit dschihadistischen Mitteln voran­getrieben werden. Auf diese Weise sollte sowohl der Zionismus Israels gesichert und eine Politik zur Marginalisierung des Irans angewandt als auch mithilfe eines dschihadistischen Faschismus eine rasche kapitalistische Integration verwirklicht werden.

Die Türkei

Die türkische Republik hat die beiden wichtigsten Werte ihrer Gründungsideologie, des Kemalismus, den Laizismus und den westlichen Modernismus, schnell mit salafistischen, patriarchalen, hierarchischen und rassistischen Werteurteilen gewechselt. Das Komitee für Einheit und Fortschritt und der Kemalismus wurden in einem künstlichen Modernismus geschaffen, um Verbündete des modernen Frankreichs und Englands sein zu können. Mit dieser Veränderung ist die Türkei von ihrem Posten, die Vorreiterrolle für den gemäßigten Islam und das Greater Middle East Project zu spielen, auf die vorderste Stelle der salafistischen und faschistischen Intervention gerückt. Natürlich erforderte dieser radikale und rasche Veränderungsprozess neue Taktiken.

Der große Hegemonialkampf sollte sich genau im Zentrum des Mittleren Ostens, in Kurdistan, ereignen. Er wird zwischen dem von Russland angeführten Block mit China, Iran und Syrien und dem von den USA angeführten Block mit der EU, Türkei und Israel geführt. In diesem Krieg ist die von der PKK angeführte kurdische Freiheitsbewegung, die die Türkei wie ein Syndrom beunruhigt und Grund ist für Widersprüche im eigenen Block, als ein alternativer und dritter Akteur auf die Bühne getreten.

Dieser neue gesellschaftliche Akteur, der sich in kein Schema pressen lässt, sollte entweder mithilfe von Beziehungen und Dialog in das System integriert oder mit den gewohnten Methoden der Vernichtung und des Genozids aus dem Weg geräumt werden. Diese Unentschlossenheit in der westlichen Front gegenüber diesen beiden Handlungsoptionen sollte die kurdische Freiheitsbewegung mit ihrem Paradigma der demokratischen Nation und des demokratischen Konföderalismus sowie ihrem taktischen Geschick als einen unverzichtbaren dritten Akteur ins Spiel bringen.

Demokratischer Konföderalismus

Ihre Haltung gegen den Nationalismus, das Verständnis von demokratischer Autonomie gegen eine zentralistische Oligarchie, die Gleichheit der Geschlechter gegen das Patriarchat, das Rätemodell direkter Demokratie gegen liberale Repräsentation und ihr solidarisches Wirtschaftssystem gegen den monopolistischen Kapitalismus hat sie zur ersten Wahl der Völker werden lassen.

In der Türkei wurde und wird dieses neue Paradigma von der DTP (Demokratische Gesellschaftspartei, 2006–2009), der BDP (Partei für Frieden und Demokratie, 2009–2011) und der HDP (Demokratische Partei der Völker, ab 2011) sowie der DBP (Partei der Demokratischen Regionen, ebenfalls ab 2011) vertreten und hat der kurdischen Gesellschaft und den Völkern in der Türkei Modelle für Frieden und neues freies, gesellschaftliches Leben aufgezeigt. Der HDK (Demokratischer Kongress der Völker) hat den Völkern in der Türkei und der DTK (Demokratischer Gesellschaftskongress) den Gesellschaften in Kurdistan Wege aufgezeigt, mit ihrem eigenen Willen ein freies Leben aufzubauen.

So begann sich die Büchse der Pandora im Jahr 2009 zu öffnen, als die Diskussion um das Modell der demokratischen Autonomie begonnen wurde. Darauf folgte die Festnahmewelle gewählter kurdischer Politiker. Dutzende gewählte Bürgermeister und Parlamentarier wurden inhaftiert. Als im Jahr 2011 der Demokratische Gesellschaftskongress die Autonomie in Nordkurdistan ausrief, wurden ein breit angelegter Krieg und eine Totalisolation gegen Öcalan auf Imralı begonnen. Ende des Jahres 2012 begann der revolutionäre Volkskrieg der PKK, der sich vom Land bis in die Städte erstreckte und soziale Proteste entfachte.

Während die kurdische Gesellschaft in Nordkurdistan gegen den Faschismus kämpfte, begann der Aufstand gegen das syrische Baath-Regime. Der Arabische Frühling war in Syrien angekommen. Im Juli 2012 wurden in Rojava kantonale Autonomien aufgebaut und ausgerufen. Es wurde ein Selbstverwaltungssystem gegründet, das alle gesellschaftlichen Bereiche umfasste.

Im vom syrischen Regime befreiten Rojava wurde ein freies Leben aufgebaut. Genau zu dieser Zeit des Widerstands der Guerilla und der Gesellschaft im Norden und des Aufbaus der Freiheit in Rojava war es für die türkische Regierung unumgänglich, direkte Dialoge mit Abdullah Öcalan zu beginnen.

Als anderthalb Millionen Menschen der Newroz-Botschaft Öcalans im Jahr 2013 in Amed (Diyarbakır) lauschten, war die türkische Regierung sich noch nicht darüber im Klaren, dass ein Frühling der Demokratie in Nordkurdistan und der Türkei losgetreten wurde. Bis kurz vor dem Aufstand gegen das System im Istanbuler Gezi-Park im Monat Juni wähnte sich der türkische Faschismus im Westen relativ sicher. Als der Widerstand von Gezi immer noch seine Wirkung ausstrahlte, kanalisierte der türkische Geheimdienst den IS-Salafismus von Mossul und Raqqa direkt nach Şengal und Rojava. Der sogenannte Islamische Staat (IS) verübte den größten Genozid des Jahrhunderts gegen die Êzîden und der Widerstand der kurdischen Selbstverteidigungseinheiten wurde auf der ganzen Welt mit Sympathie verfolgt.

Die Solidarität mit Kobanê, die sich vom 6. bis zum 8. Oktober 2014 in Nordkurdistan in Serhildans (Volksaufständen) entlud, war der Beginn einer neuen Phase. Mit US-amerikanischer Luftunterstützung für die kurdischen Selbstverteidigungskräfte in Rojava begann ab dem 1. November 2014 die Befreiung von Kobanê. Der IS wurde zwischen den Jahren 2015 und 2019 in Rojava und Raqqa besiegt, und ganz Nord- und Ostsyrien wurde befreit. Die Demokratischen Kräfte Syriens (QSD), die ein Drittel Syriens aus den Händen des IS befreiten, das nun von der Demokratischen Föderation Nord- und Ostsyrien verwaltet wurde, war nicht nur die Grundlage für die Freiheit der kurdischen Gesellschaft, sondern aller Völker im Mittleren Osten.

Die Türkei erlebte der in Vorreiterrolle der HDP einen Frühling der Demokratie. Über eine neue Verfassung, eine demokratische Lösung der kurdischen Frage, Geschlechterbefreiung, Presse- und Meinungsfreiheit sowie eine gerechte und solidarische Wirtschaftspolitik wurde so viel diskutiert und geschrieben wie lange nicht mehr. Eine breite gesellschaftliche Opposition führte Massenproteste an, um die Regierung zu Reformen zu bewegen. Erdoğan und die AKP begannen zu verstehen, dass sie mit den Parlamentswahlen im Juni 2015 ihre absolute Macht verlieren würden, und beendeten einseitig die Friedensphase. Das Dolmabahçe-Abkommen als offizielles Dokument der Friedensgespräche zwischen Imralı und der türkischen Regierung wurde abgelehnt. Die Wahlen am 7. Juni 2015 endeten trotz aller Provokationen vonseiten der Regierung mit einem krassen Erfolg für die HDP. Die AKP, die die absolute Mehrheit verloren hatte, setzte eine rassistische und totalitäre Politik um und wurde bei der Wahlwiederholung am 1. November alleiniger Sieger.

Der Militärputsch im Juli 2016, der von einer als Ergenekon bezeichneten militärischen Elite durchgeführt wurde, wurde zum Anlass genommen, um gegen die gesamte linke, kurdische und liberale Opposition vorzugehen. Darauf folgte die erste Besatzungsoperation der Türkei in Nordsyrien und Rojava. Cerablus, al-Bab und Azaz wurden bis an die Grenzen zu Minbic besetzt. Im Januar 2018 wurde schließlich Efrîn angegriffen und besetzt. Zuvor hatte die Türkei umfangreiche Handels- und Militärverträge mit Russland abgeschlossen. Der Widerstand in Efrîn gegen die zweitgrößte NATO-Armee ließ jedoch ein internationales Netzwerk der Solidarität entstehen. Im selben Jahr wurde die Herrschaft des als unbesiegbar betitelten Islamischen Staates in Syrien durch die Demokratischen Kräfte Syriens beendet. Jedoch wurden die Führungspersonen des IS mithilfe der Türkei in Efrîn, Idlib und Cerablus untergebracht.

Nun war es für die Türkei an der Zeit, die existenzielle Gefahr aus dem Weg zu räumen, bevor ihre direkten Verknüpfungen mit dem IS zutage treten würden. Dafür nutzte sie die Widersprüche zwischen den USA und Russland aus, bevor die demokratische Selbstverwaltung der kurdischen Gesellschaft offiziell in der neuen syrischen Verfassung anerkannt wird. Das erste Anzeichen dafür war die Entscheidung Trumps trotz Opposition des Pentagons, die US-Kräfte aus Nordsyrien abzuziehen und die Verantwortung für den Kampf gegen den IS der Türkei zu übertragen. Diese Phase wurde wegen Rücktritten und starken Reaktionen aus Militär und Politik für eine gewisse Zeit verschoben.

Die Besatzungsphase am 9. Oktober 2019 begann, als klar wurde, dass mit dem Ende des IS nun die offizielle Anerkennung der Demokratischen Föderation in Nord- und Ostsyrien auf der Agenda stand. Mit Zustimmung der USA und Russlands wurde der Plan zur Zerschlagung des demokratischen Projekts umgesetzt. Trotz der Desinformation und manipulativen Propaganda hat der Kampf gegen die Besatzung der Türkei die Menschheit auf die Beine gebracht. Das politische Establishment in den USA, eingeschlossen das Weiße Haus und die Trump-Regierung, standen unter Beschuss. Die Menschen in Europa, Lateinamerika, dem Mittleren Osten und Asien protestierten tagelang gegen den türkischen Faschismus. Dieses antifaschistische Aufbäumen, das an die Anti-Vietnam-Kampagnen erinnerte, hat die Regierungen der USA und Russlands dazu gebracht, ihre Entscheidung zu überdenken und die Besatzung in einem gewissen Rahmen zu begrenzen. Der theoretische Plan, innerhalb von 10 bis 15 Tagen einen Bereich von 600 km Länge und 30 km Breite zu besetzen, drei Millionen Menschen einer ethnischen Säuberung zu unterziehen und an deren Stelle Dschihadisten mit ihren Familien anzusiedeln, ist durch den weltweiten Widerstand zur Verteidigung Rojavas zusammengebrochen.

Ein neuer Internationalismus zur Verteidigung der Revolution in Nordsyrien und Rojava

Im Oktober 2014 beschloss der Nationale Sicherheitsrat der Türkei, das eigentliche Administrationsorgan des türkischen Staates, einen sogenannten »Zerschlagungsplan«. Mit dem Angriffskrieg gegen Rojava am 9. Oktober hat dieser Plan seinen Höhepunkt erfahren und ist vollständig dechiffriert worden. Die faschistischen Praktiken der Türkei in den vergangenen vier Jahren, die von den zentralen Akteuren des modernen Welt-Systems vollends unterstützt wurden, sind an der Praxis des demokratischen Konföderalismus und seiner internationalistischen Verteidigung zerschellt.

Die Europäische Kommission und wichtige europäische Länder wie Frankreich und Schweden, alle Mitglieder der Arabischen Liga außer der Palästinensischen Autonomiebehörde und Katar, die unter dem Einfluss von Hamas und Erdoğan stehen, sowie selbst die NATO, der US-Senat und -Kongress waren gezwungen, die Besatzung öffentlich zu verurteilen. Die Revolution in Rojava wurde zur Inspirationsquelle der Völker weltweit. Bei den Kundgebungen gegen neoliberale, populistische und autoritäre Systeme in Bolivien, Chile, Libanon, Iran und Irak haben sich Millionen Menschen auch für die Verteidigung der Rojava-Revolution ausgesprochen. Das Beispiel Rojava treibt parallel zur Entwicklung eines pluralistischen und demokratischen Kurdistans auch Freiheitsbestrebungen in Iran, Irak, Syrien und der Türkei voran. Die in diesen vier Staaten repräsentierten letzten klassischen Kolonialismen warten auf revolutionäre Bewegungen, die die Völker zur demokratischen Moderne führen werden.


 Kurdistan Report 207 | Januar/Februar 2020