Nahe der Front bei Til Temir

Widerstand als einziger Weg

Lêgerîn Sterk, Internationalistin – Rojava


Nahe der Front bei Til TemirWir, eine Gruppe von Frauen der Kampagne Women Defend Rojava, sind auf dem Weg nach Til Temir (Tell Tamer). Til Temir war mir schon immer als eine Stadt in Nordsyrien bekannt, in der viele verschiedene Bevölkerungsgruppen zusammenleben. Wir wollen Interviews führen und vor allem mit assyrischen Frauen reden, um zu sehen, wie die momentane Kriegssituation erlebt wird und auf welche Art und Weise sie Widerstand leisten. Auf dem Weg zwischen Hesekê (al-Hassakah) und Til Temir fahren wir am Xabûr-Fluss entlang, an dem viele assyrische Dörfer liegen. Je weiter wir fahren, um so deutlicher sehen wir schwarze Rauchschwaden aufsteigen. »Das ist Til Temir«, sagt unsere Fahrerin, »und dort verläuft die Front.« Sie zeigt mit dem Finger in unsere Fahrtrichtung. Die Rauchschwaden kommen von Autoreifen, die angezündet werden, um mit dem dicken Rauch der türkischen Luftwaffe die Sicht zu erschweren. In den letzten Tagen wurde die Umgebung von Til Temir mehrfach bombardiert. Zwischen den Demokratischen Kräften Syriens (QSD) und Erdoğans Besatzungstruppen finden heftige Gefechte statt. Dörfer werden von den Invasionstruppen eingenommen und von den Freundinnen und Freunden wieder befreit. Die letzten Tage ging es hin und her. Nun ist die Front nur noch vier Kilometer von der Stadt entfernt. Wir kommen in Til Temir an und sehen Leben in der Stadt. Geschäfte sind geöffnet, Taxifahrer stehen am Straßenrand und Menschen kaufen Gemüse auf dem Markt. Nur die Rauschwaden verraten, dass der Krieg sehr nahe ist.

Wir treffen uns mit Gulistan, einer Freundin von Kongreya Star, die in Til Temir lebt, kurdisch sowie arabisch spricht und für uns übersetzen wird. Wir wollen assyrische Frauen interviewen und laufen mit Gulistan durch ein assyrisches Viertel. Einige Häuser sind leer, da die Familien vor den näher kommenden Besatzungstruppen geflohen sind. Während wir durch das Viertel laufen, hören wir plötzlich laute Fluggeräusche aus der Luft; laut und knapp über unseren Köpfen fliegen zwei riesige Helikopter. Sie drehen immer wieder über uns und fliegen tiefe Manöver. Menschen kommen aus ihren Häusern und schauen verängstigt in die Luft. Nach wenigen Sekunden rufen die ersten erleichtert »Rûs an Ameriki!« – Russen oder Amerikaner. Eine Frau, die ein Telefon in der Hand hält, dreht sich zu uns um. Verwandte hätten angerufen und gefragt, ob sie bombardieren. »Nein, nein, das sind die Amerikaner«, hatte sie ihnen gesagt, »die bombardieren nicht.« Die Angst vor Luftangriffen ist groß. In den letzten Tagen haben unbemannte Drohnen mehrere Male aus der Luft bombardiert. Diesmal sind es die Amerikaner, die mit ihren Flugmanövern die Bevölkerung verängstigen.

Nachdem wir eine Weile umhergelaufen sind, lädt uns eine ältere assyrische Frau in ihr Haus ein und sagt, dass sie bereit sei, uns ein Interview zu geben. Sie ist 71 Jahre alt, hat nur noch wenige Zähne im Mund, und die tiefen Falten in ihrem Gesicht zeigen, dass sie ein langes Leben hinter sich hat. Sie bittet uns in ihr Haus, wo wir auf ihren Sohn treffen. Sie leben zu zweit hier. Er ist unverheiratet und kümmert sich um sie. Die kleinen Jesusbilder und die Art, wie die Frau ihr Kopftuch trägt, erinnern mich an die Wohnung meiner Großeltern in Bayern. Selbst die Einrichtung fühlt sich vertraut an. Sie ähnelt mehr der Art und Weise, wie die Häuser in Deutschland eingerichtet sind, als derjenigen der kurdischen und arabischen Familien, bei denen ich bisher oft zu Besuch war.

Wir setzen uns auf eine Couch und ohne dass wir viel fragen müssen, fängt die Frau an zu erzählen. Da wir kein Arabisch sprechen, übersetzt Gulistan für uns. Dennoch verstehen wir aufgrund ihrer ausgefallenen Mimik und Gestik, worum es geht. Sie zeigt auf ein Hochzeitsfoto an der Wand. »Australien«, dann macht sie eine drehende Handbewegung, die auf die Nachbarschaft hinweisen soll, und sagt: »Holland.« Sie spricht darüber, wie viele assyrische Familien gegangen sind. Und immer wieder fällt das Wort »DAEŞ«, Islamischer Staat. Wir fragen sie zu ihrer Vergangenheit und dem Leben in Til Temir. »Unsere Nachbarn sind Kurden. Wir haben friedlich nebeneinander gelebt. Ich kann ihre Sprache nicht sprechen, verstehen tue ich sie aber«, sagt sie und lacht laut. Sie hält ihre Hand vor den Mund, lacht noch lauter und sagt, dass wir ja nicht filmen sollen, wie wenig Zähne sie nur noch hat. Sie lacht noch lauter und auch wir müssen mit ihr lachen. Nachdem wir uns wieder beruhigt haben, fährt sie fort. Sie spricht so schnell, dass unsere Übersetzerin nicht hinterherkommt. Jedoch brauchen wir keine gemeinsame Sprache, um zu verstehen, was sie meint. Sie zeigt mit ihrem Zeigefinger immer wieder auf den Boden und hat dabei einen entschlossenen Gesichtsausdruck. »Ich bleibe hier. Auch wenn ich hier sterbe. Ich gehe nicht. Das ist mein Land. Die können mich nicht vertreiben. Ich gehe nicht. Sollen sie nur kommen«, übersetzt Gulistan für uns. Ich bin beeindruckt von ihrer Entschlossenheit und frage mich gleichzeitig, was es heißen würde, wenn Erdoğans dschihadistische Banden hier auf eine alte assyrische Frau treffen würden. Wir merken, wie froh sie ist, uns ihre Geschichte erzählen zu können. Ob sie weiß, dass auch sie uns viel Mut gegeben hat, weiß ich nicht. Als wir gehen, winkt sie uns noch lange hinterher und sagt, dass wir jederzeit wiederkommen können.

Jamila, Ko-Vorsitzende des Kurdischen Roten Halbmondes (Heyva Sor a Kurdistanê), kommt gerade von ihrem Einsatz zurück zum Krankenhaus Şehid Lêgerîn.Wir fahren zum Krankenhaus Şehid Lêgerîn und treffen dort Jamila, die Ko-Vorsitzende des Kurdischen Roten Halbmondes (Heyva Sor a Kurdistanê). Sie kommt gerade von einer Fahrt mit dem Ambulanzwagen zurück und sieht erschöpft aus. Dennoch ist sie bereit, uns ein Interview zu geben. Da die Front mittlerweile so nah ist, ist das Şehid-Lêgerîn-Krankenhaus der nächstliegende medizinische Versorgungspunkt hinter der Frontlinie. Es gibt 12 Ambulanzwagen, die die Verletzten abholen und in das Krankenhaus bringen. Jamila schlägt vor, das Interview in einem Ambulanzwagen zu machen. Sie setzt sich hinein und nachdem wir die Kamera eingeschaltet haben, fängt sie an zu erzählen. Sie erzählt, wie es war, als die Angriffe in Serê Kaniyê (Ras al-Ain) anfingen, und wie sie reihenweise Verletzte behandelten. »Das waren Zivilisten. Die meisten waren Zivilisten«, sagt sie mit wütendem Gesichtsausdruck. Sie erzählt von den verletzten Kindern. Spricht über Sara, ein achtjähriges Mädchen, dem durch eine türkische Bombardierung auf Qamişlo das Bein abgetrennt wurde. Ihr Bruder ist bei dem Angriff getötet worden. Jamila erzählt, wie Sara sagte, dass sie auch ihr zweites Bein geben würde, wenn dadurch ihr Bruder nur überleben würde. Sie schluckt, schaut auf den Boden und macht eine kurze Pause. Als sie weiterspricht, berichtet sie davon, wie in den letzten Tagen um Til Temir herum gezielt Krankenwagen aus der Luft angegriffen wurden. »Wir können deswegen nicht hinausfahren.« Sie schüttelt den Kopf. »Wir können sie nicht abholen. Die Freunde sterben an leichten Verletzungen, weil wir nicht an sie herankommen.« Ihre Stimme bricht kurz ab, doch sie redet weiter. Wir merken, wie wichtig es ihr ist, ihr Erlebtes zu berichten. Sie spricht über internationales Recht, welches medizinische Einrichtungen in Kriegsgebieten schützen solle. Sie sieht fragend in die Kamera und fragt: »Was bedeuten diese Gesetze? Wer sorgt für deren Umsetzung?« Wieder sieht sie auf den Boden. Wir fragen sie, ob sie noch etwas hinzufügen möchte. Sie nickt und ihr Blick wird dabei entschlossen. »Wir haben ein Versprechen gegeben. Wir werden niemanden verletzt zurücklassen. Wir sind es, die ihre Rechte schützen. Und wir werden alles geben, um niemanden zurückzulassen.« Wir schalten die Kamera aus und sind gleichzeitig gefasst und gestärkt von ihren Worten. Sie sagt, dass sie nun schlafen gehen wird, da sie eine lange Schicht hinter sich hat. Morgen geht es dann wieder weiter.

Unser nächstes Treffen ist mit Frauen der Frauenverteidigungseinheiten (YPJ). Eine Freundin der YPJ holt uns ab und bringt uns zu ihrem Stützpunkt. Wir werden herzlich begrüßt und können sofort erkennen, wie viel Liebe in diesen Ort gesteckt wurde: Es gibt viele Pflanzen, einen kleinen Garten und unter dem Schatten eines großen Baumes steht ein kleiner Tisch, an den wir uns setzen. Während die einen Tee vorbereiten, kommen immer mehr andere Freundinnen aus dem kleinen Haus und setzen sich zu uns an den Tisch. Durch die Art, wie sie uns begrüßen, wie sie sich selbstverständlich neben uns setzen, ihre Arme bei uns unterhaken und uns ausfragen, wie es uns geht, fühlen wir uns sofort wohl. Wir trinken Tee und unterhalten uns über die aktuelle Lage. Eine der Freundinnen legt ihren Zeigefinger vor den Mund: »Schhh!« Wir sind still. »Keşîf«, sagt sie und zeigt nach oben – Drohne. Wir hören das leise Brummen der Drohne, doch nach nur einer Sekunde steigen sie wieder ins Gespräch ein. Sie erzählen, dass in den letzten Tagen fast dauerhaft Drohnen in der Luft waren.

Beritan kommt aus Deir ez-Zor und ist seit zwei Jahren bei den Frauenverteidigungseinheiten YPJ organisiert.Eine Freundin ist für ein Interview bereit. Sie heißt Beritan, kommt aus Deir ez-Zor, ist Araberin und hat sich vor zwei Jahren den YPJ angeschlossen. Als wir die Kamera aufbauen, hören wir plötzlich ein lautes »WUUUMMMM«. Wir zucken zusammen. Beritan sieht uns an und lacht: »So etwas gibt es in Europa wohl nicht.« Nun lachen auch die anderen. Sie gehen mit uns zu einer Mauer und eine Freundin zeigt mit dem Finger in die Richtung, aus der das Geräusch kam. »Çete«, sagt sie – so werden Erdoğans Banden genannt. Hinter einem weit entfernten Hügel, so sagt sie, ist der Feind. Die Vorstellung, dass nur wenige Kilometer weit entfernt gerade Gefechte stattfinden, scheint fast surreal, als wir uns wieder an den sonnigen Platz in den Garten setzen.

Wir beginnen mit dem Interview. Beritan spricht über die Notwendigkeit von Frauenorganisierung, warum wir uns bei der Verteidigung nur auf unsere eigene Kraft verlassen können und warum wir als Frauen Widerstand gegen die menschenverachtenden, patriarchalen Angriffe des türkischen Staates und seiner dschihadistischen Verbündeten leisten müssen. Immer wieder betont sie, dass dies vor allem ein ideologischer Kampf ist. Diesen müssen wir selber führen, um uns von dieser Ideologie, die uns versucht klein zu machen, zu befreien. Sie strahlt Klarheit und Entschlossenheit aus und ich ziehe viel Kraft aus ihren Worten. Die Artillerieeinschläge sind noch ein paar Mal während des Interviews zu hören, jedoch lässt sich Beritan davon nicht aus der Fassung bringen. Am Schluss sagt sie, dass weder der türkische Staat noch seine Söldnerbanden das zerstören können, was die Frauenbewegung hier aufgebaut hat – nämlich die Hoffnung auf ein freies Leben.

Als uns die Freundinnen verabschieden, sagen sie uns, dass wir wieder vorbeischauen sollen. Wir wünschen ihnen viel Erfolg und umarmen uns. Ich musste noch viele Tage an diesen Besuch denken, da er mich sehr zum Nachdenken gebracht hat. Der liebevolle Umgang der Freundinnen untereinander, das kollektive Leben unter Frauen und der gemeinsame Kampf um eine freie Persönlichkeit, abseits vom patriarchalen Denken, haben etwas Größeres erschaffen. Etwas, was kein Luftangriff der Welt jemals zerstören könnte. Mit der Brutalität des Feindes konfrontiert zu sein und die reale Möglichkeit, dass eine der Freundinnen von der Front nicht mehr zurückkommen könnte, schafft ein Gefühl, das ich seit meiner Ankunft als unfassbare Stärke der Frauenbewegung wahrnehme. In Zeiten von Schwierigkeiten, Angriffen oder Krieg wird etwas Lebenswertes geschaffen und jeder Sekunde Sinnhaftigkeit und Schönheit gegeben.

Madlein ist Sprecherin der Einheit der Xabûr-Guards, einem assyrischen Militärrat, der als Teil der QSD an der Verteidigung von Til Temir beteiligt ist Auf unserem Rückweg machen wir einen letzten Halt bei den Xabûr-Guards – einem assyrischen Militärrat, der als Teil der QSD an der Verteidigung von Til Temir beteiligt ist. Vier Frauen in Uniform begrüßen uns. Drei von ihnen sind etwa gleich alt, vielleicht um die 30. Eine andere ist deutlich älter. Eine der jüngeren Frauen hat ihre zweijährige Tochter dabei, die, während wir uns mittels Übersetzer über die aktuelle Situation der Assyrer austauschen, zwischen unseren Stühlen hin und her läuft. Madlein, die Sprecherin der Einheit, erzählt uns von den Massakern des Osmanischen Reiches 1915, bei denen tausende Assyrer getötet wurden. Sie spricht über die Angriffe des IS auf die Xabûr-Region 2015 und dass sie die aktuelle Gefahr seitens des türkischen Staates als Gefahr eines Genozides an ihrem Volk sehen. Nach einer Tasse Tee laufen wir durch das assyrische Dorf. Wir kommen an einer Marienstatue vorbei. Madlein legt ihre Hand erst auf die Füße der Statue, führt sie dann zurück an ihre Stirn und macht ein Kreuzzeichen vor ihrer Brust. Wir gehen weiter zu einer Kirche, und ich laufe etwas abseits unseres Übersetzers neben einer Kämpferin. Ich verständige mich mit dem wenigen Arabisch, das ich kann. Es ist still, die Sonne scheint und Blumen blühen am Wegrand. Die Vögel fliegen von den Gartentoren der kleinen Häuser. Ich zeige auf unsere Umgebung und sage »cenet e« – es ist paradiesisch. Sie sieht mich an und macht eine Handbewegung, die »früher« bedeuten soll. Dann deutet sie auf die leeren Häuser und sagt: »Europa.« Alle Häuser stehen leer. Die Gärten sind verwildert, einige Fensterscheiben sind kaputt und bei manchen Häusern stehen die Türen offen und wir können im Staub die Sonnenstrahlen tanzen sehen. Sie redet weiter und wieder höre ich das Wort »DAEŞ« – Islamischer Staat.

Wir bauen unsere Kamera auf und Madlein erzählt, dass sie es als assyrische Frauen nicht akzeptieren, dass sich 1915 und 2015 noch einmal wiederholen. Sie spricht von den Gräueltaten, die speziell an assyrischen Frauen verübt wurden, und sagt, dass es ihre Pflicht sei, vor allem als Frauen ihre Existenz und ihre Kultur zu verteidigen. Sie hat einen stolzen Blick dabei. Nach dem Interview mit ihr fragen wir die einzelnen Frauen, wie sie dazu gekommen sind, sich den militärischen Einheiten anzuschließen. Die Kämpferin, mit der ich mich vorher unterhalten hatte, zeigt auf die älteste uniformierte Freundin. Erst als unser Übersetzer sagt, dass sie ihre Mutter sei, erkenne ich die Ähnlichkeit zwischen ihnen. Nachdem wir uns verabschiedet haben und mit dem Auto am Xabûr-Fluss entlang zurückfahren, muss ich noch lange über die Mutter und ihre Tochter nachdenken. Beide sind bereit, ihr Leben für die Verteidigung ihres Landes einzusetzen. All die starken Frauen, die ich an diesem Tag treffen durfte, jede mit ihrer Farbe und ihrer Geschichte, haben mich darin bestärkt, dass Widerstand der einzige Weg ist. Nicht nur, um gegen etwas zu kämpfen, sondern um als Frauen die Stärke und Schönheit in uns zum Vorschein bringen zu können, die der Feind versucht, mit all seinen Mitteln zu vernichten.


 Kurdistan Report 207 | Januar/Februar 2020