Vom Gefängniswiderstand unserer kurdischen Freund*innen lernen

Das Freiluftgefängnis der kapitalistischen Moderne

Taira

Im zweiten Band des Buches »Mein ganzes Leben war ein Kampf« von Sakine Cansız, einer der Mitbegründer*innen der PKK, beschreibt sie ihre zehn Jahre Haft in verschiedenen türkischen Gefängnissen. Sie beschreibt tiefgehend, wie wichtig es ist, die politische Haltung und auch den Widerstand im Gefängnis beizubehalten bzw. weiterzuführen.

Denn der Feind, der autoritäre Staat, will im Gefängnis alles von dir kontrollieren: deinen Körper, deinen Geist und deine Seele. Jeder Teil von dir soll gebrochen und zur »Vernunft« gebracht werden und das nicht nur mit Gewalt, sondern vielmehr mit psychischem Druck und Isolation, vor allem bei politischen Gefangenen.

In Erinnerung an die Genossin Sakine Cansız.Viele Menschen haben damals diesem Druck nicht standhalten können und sind übergelaufen und wurden zu Verräter*innen. Dem Druck nicht standzuhalten ist eine Schwäche, allerdings zeigt Sakine, wie sie es durch Organisierung der weiblichen Gefangenen schafft, dem vorzubeugen und die Freund*innen zu einer revolutionären Haltung zurückzuführen.

Die Organisierung innerhalb der Gefängnisse ist wesentlich für den Widerstand und mit ihrer Haltung hat Sakine immer wieder bewiesen, dass es möglich ist, Druck aufzubauen und die Gefängnisverwaltung (also den Mini-Staat) zum Einknicken zu bringen. Von Vorteil waren hier die Absprachen zwischen Gefangenen in verschiedenen Gefängnissen als auch die breite Mobilisierung der Angehörigen der Gefangenen. Mit diesem geballten Druck war es möglich, Forderungen durchzusetzen und ihren Standpunkt klarzumachen: Wir werden nicht aufgeben!

Eine wichtige Person und sein Widerstand, die Sakine beschreibt, ist Mazlum Doğan, der am Newroz-Fest am 21. März 1982 mit 27 Jahren seine Zelle in Brand setzte und sich erhängte. Er tat dies aus Protest gegen die türkische Regierung und machte damit auf die Missstände wie systematische Folter im Gefängnis von Amed (Diyarbakır) aufmerksam.

Danach wurden eine Reihe von Aktionen durchgeführt; um es mit Kemal Pirs Worten zu sagen: »Wir lieben das Leben so sehr, dass wir bereit sind, dafür zu sterben!«

Die Aktionsformen des Todesfastens wie auch die des Hungerstreiks zeigen den starken Willen, aber auch das Selbstverständnis der Gefangenen: die Bereitschaft, ihr Leben für den Widerstand zu geben und dem Feind dadurch zu beweisen, dass er niemals die komplette Kontrolle über sie haben werde, nicht im Leben und nicht im Tod.

Kemal Pir starb nach dem »Todesfasten des 14. Juli« (1982) im Gefängnis von Amed.

Mit ihren Aktionen gaben sie den restlichen Gefangenen große Hoffnung, wie es Sakine auch in ihrem Buch beschreibt. Darüber hinaus mussten und wollten sich die anderen Gefangenen dieses Widerstands würdig erweisen und intensivierten ihren eigenen Widerstand und damit die Organisierung und Standhaftigkeit gegenüber der Gefängnisverwaltung.

Zunächst einmal finde ich den jahrelangen Widerstand, den Sakine Cansız und auch die anderen Gefangenen geleistet haben, sehr beeindruckend. Sie hat es geschafft, sich nicht durch den Feind vereinnahmen und ihren Willen brechen zu lassen, trotz körperlicher und psychischer Folter. Sie konnte nicht zum Verrat an ihren Idealen oder der PKK gebracht werden. Trotz vieler Probleme war ihr revolutionärer Wille so stark, dass sie nicht in ein kleinbürgerlich-feudales Verhalten zurückfiel.

Das Selbstverständnis war, sich nicht auf individualistische Verbesserungen einzulassen und damit nur das eigene Leben zu verbessern, sondern immer in dem Bewusstsein zu leben, dass es entweder Verbesserungen für alle Gefangenen gibt oder gar keine. Denn der individuelle Vorteil würde nur auf dem Verrat und dem Nachteil gegenüber allen anderen beruhen. Der Kampf musste so lange fortgesetzt werden, bis die Forderungen (zumindest zum Großteil) durchgesetzt sind. Jedes Eingehen auf Vorschläge der Gefängnisverwaltung hätte sonst eine Schwächung des Widerstands bedeutet.

Auch in der Widerstandsgeschichte in Deutschland lässt sich Gefängniswiderstand finden, sei es bei den Gefangenen aus der RAF oder denen aus der Bewegung 2. Juni. Die Gefangenen führten auch hier Hungerstreiks durch, um Druck aufzubauen und die Isolationshaft aufzuheben. Ein anderes Beispiel ist Andrea Wolf, welche damals Teil der Gruppe »Kein Friede« war und im Gefängnis mit anderen weiblichen Gefangenen einen kleineren Aufstand anzettelte, um den Aufschluss und die Hofgänge zu verlängern, also Haftbedingungen zu verbessern.

Auch hier finden wir das Bewusstsein über die Wichtigkeit des Widerstands innerhalb der Gefängnisse. Es geht darum, sich nicht mit den vorgegebenen Bedingungen abzufinden, sondern weiterhin für bessere Bedingungen zu kämpfen. Denn der autoritäre Staat versucht dich zu beherrschen, zu kontrollieren und zu brechen und dich zur Anpassung zu zwingen.

Ein wichtiger Punkt, der sowohl bei Sakine eine Rolle spielt als auch bei den politischen Gefangenen in Deutschland, ist die Funktion ihrer Angehörigen bzw. des Austausches mit draußen und der Unterstützung und Solidarität mit den Inhaftierten. Durch die streckenweise starke Mobilisierung der Angehörigen der Inhaftierten in Amed konnten manche Erfolge erzielt werden. Noch wichtiger ist jedoch das Gefühl, vom Kampf draußen nicht abgeschnitten zu sein, sondern ihn unter anderen Umständen weiterzuführen. Dafür ist eine starke solidarische Struktur von außen notwendig, die im Bewusstsein der Bedeutung des weiteren Austausches mit den Gefangenen agiert und Druck auf die Gefängnisse und damit den Staat aufbaut.

Bedeutung für den Widerstand in Deutschland

Die Situation in den Gefängnissen lässt sich in Teilen auf unsere Situation in der kapitalistischen Moderne übertragen.

Wir alle tragen die Utopie einer freien und gleichen Gesellschaft in uns, welche vielleicht sogar durch die gelebte Utopie in Rojava verstärkt wurde. Mit dieser Utopie in unserem Geiste gilt es, die damit verbundenen revolutionären Handlungsweisen im Alltag umzusetzen und zu einer Veränderung der Gesellschaft, hin zu dieser Utopie, beizutragen. Dazu bedarf es natürlich der Auseinandersetzung mit dem eigenen Selbst, das durch sexistische, rassistische und individualistische Mechanismen geprägt wurde.

Der Staat versucht alles an Autorität, Gesetzen und Repression aufzufahren, um unseren Widerstand zu brechen.

Wir wurden in einen Nationalstaat hineingeboren, der uns von vornherein in bestimmte Muster pressen will, um uns ein Teil des Zahnrades der Verwertungslogik werden zu lassen. Angefangen beim Kindergarten über Schule, Ausbildung/Studium bis zum Arbeitsleben. Von Anfang an wird uns aufgezeigt, wie ein erfolgreiches/erfülltes Leben in der kapitalistischen Moderne auszusehen hat, welche Attribute wie Vollzeit-Job, Beziehung, Kinder und Hobby dazugehören.

Zu keinem Zeitpunkt, außer innerhalb der Familie (häufig nicht einmal dort), spielen die Einbettung in die Gesellschaft, ein solidarisches und kollektives Miteinander, Gleichberechtigung und damit verbunden Selbstbestimmung unserer Lebenswege als auch die Selbstverwaltung unserer Lebensumgebung eine Rolle.

Wir wachsen mit der übergeordneten Autorität des Staates auf, von dem Heil und Ordnung erwartet werden. Über Jahrhunderte hinweg hat der Staat bzw. die zentralistische Macht (damals der Könige, Kirche) daran gearbeitet, uns genau das glauben zu lassen. Silvia Federici beschreibt in ihrem Buch »Caliban und die Hexe« die Entfremdung zwischen uns selbst und unserem Körper, aber auch unserer Arbeit und Umgebung. Aufgrund der Notwendigkeit für den Staat, uns zu Arbeiter*innen zu machen, die sich wie mechanische Roboter mit ihrer Arbeit identifizieren und die Autorität des Staates und des damit verbundenen ausbeuterischen und ungleichen Systems nicht in Frage stellen.

Hierbei spielt die zunehmende Unterdrückung der Frau, verbunden mit der Verbrennung von Hexen, also weisen Frauen, und unserer Degradierung zur Reproduktionsarbeit (Reproduktion neuer Arbeiter*innen) und der Annahme, Hausarbeit sei ein natürliches Ressort der Frauen, auch eine wichtige Rolle.

Der Staat lässt uns also glauben, dass die kapitalistische Moderne im Zusammenhang mit Patriarchat und Rassismus natürlich gegeben sei und die modernste und freieste Art zu leben beinhalte. Dabei wurden wir über Jahrhunderte immer mehr entmündigt und beherrscht. Durch die Integration verschiedenen Protests und verbesserter Methoden der Verschleierung von Herrschaft spüren wir unsere Ketten und die Herrschaft nur, wenn wir dagegen aufbegehren oder nicht zur privilegierten Gruppe der Herrschenden gehören.

Größer zu träumen als nur vom eigenen individualistischen Glück

Wenn wir dies jedoch erkannt und ein Verständnis von Freiheit, Gleichheit und Selbstbestimmung und Selbstverwaltung entwickelt haben, dann ist es das Wichtigste, dieses Verständnis durch das eigene Handeln konsequent auszuleben.

Das würde bedeuten, nicht in den »Errungenschaften« des kleinbürgerlichen Lebens zu verharren, sondern größer zu träumen als nur vom eigenen individualistischen Glück. Somit nicht Teil des Systems zu werden und sich nicht einfangen zu lassen: durch die scheinbare Freiheit, die das System uns bietet.

Wir sollten dabei nicht die Möglichkeiten des staatlichen Handelns und der Repression unterschätzen, wie es damals in den 80er/90er Jahren in Deutschland geschah. Denn durch die unzureichende Analyse der staatlichen Macht und Handlungsinteressen konnte der Widerstand der wahrhaft demokratischen linksradikalen Kräfte in Deutschland gebrochen werden.

Isolation, Vereinsamung, Entfremdung

Wie schaffen wir es nun, trotz der schon von Geburt an bestehenden Einbindung in dieses System konsequent nach unseren Idealen und sozialistischen Werten zu handeln? Ich denke, dass es viele Bezugspunkte gibt, an denen wir beginnen können:

Zum einen die Isolation und Vereinsamung durch das Wohnen in Mietshäusern zu durchbrechen und eine starke Gemeinschaft innerhalb von Wohnhäusern wiederherzustellen. Ein anderer Punkt wäre, die feudalen Besitzansprüche innerhalb von Liebesbeziehungen und Ehe zu reflektieren und aufzubrechen. Die verschleierte Unterdrückung und Gewalt gegen Frauen immer wieder zu thematisieren und uns dem konsequent entgegenzustellen. Lohnarbeit als Teil des Systems zu begreifen und als Teil der Unterdrückungsmechanismen und unseres gegenseitigen Ausspielens als Arbeiter*innen. Die Solidarität zwischen uns zu stärken und dadurch die Entfremdung von unserer Arbeit wie auch den Konkurrenzgedanken zu beseitigen.

Auch unser Leben ist vom Feind, dem kapitalistischen, patriarchalen Nationalstaat, komplett zu vereinnahmen versucht worden und wird es noch. Wir werden getäuscht durch den Anschein von Freiheit und Selbstbestimmung, welche auf der Ausbeutung anderer beruhen und vom System bestimmt werden. Wir dürfen nur in den Grenzen des Systems frei sein, alle Lebensweisen, die nicht sexistischen, rassistischen und ausbeuterischen Mechanismen unterliegen, werden vom System als Bedrohung verstanden.

Wie viel lebenswerter könnte unser Leben sein, wenn wir eine tiefe genossenschaftliche Verbindung untereinander und innerhalb der Gesellschaft spüren würden?

Wie viel Kraft könnten wir sparen, wenn wir miteinander, statt gegeneinander kämpften? Wie viel glücklicher könnten wir sein, wenn wir den Weg unseres Lebens selbst bestimmen könnten?

Eines Lebens, das auf gemeinsamen egalitären und libertären Werten basiert und nicht auf der individualistischen Sicht auf die Anderen als Objekte.

Wir sollten uns fragen, was dann Widerstand in unserem alltäglichen Leben bedeutet. Was bedeutet Militanz? Dieser Text soll dazu beitragen, eine Diskussion darüber anzuregen, wie ein kollektiver Widerstand aussehen kann, unabhängig von symbolischen Aktionsformen wie Demonstrationen.

Wie können wir es schaffen, unseren Alltag zu politisieren und damit den Feind in jedem Moment seiner versuchten Übernahme und Integration unseres Widerstands zu schwächen?

Es bedarf einer Haltung. Einer Haltung, die die eigenen individualistischen Vorteile erkennt und ablehnt. Und dem individualistischen Gebaren einen kollektiven Prozess entgegensetzt, der das Wohlergehen aller im Blick hat und widerständig und konsequent dafür kämpft.

Im Moment sind wir immer noch Spielbälle der Herrschenden, da wir nicht gemeinsam agieren, sondern individualistisch und sektiererisch eigene Vorstellungen und Bedürfnisse in den Vordergrund rücken. Es ist eine gemeinsame politische Linie und gegenseitige Unterstützung nötig, um einen politischen Widerstand aufzubauen, der eine wirkliche Alternative sein kann.

Dem Freiluftgefängnis kapitalistischer Nationalstaaten entrinnen

Wir können viel aus der Vergangenheit lernen, vor allem von widerständigen Strukturen in den 80er/90er Jahren und davor. Zu diesem Zeitpunkt waren teilweise große Zusammenschlüsse möglich. Wenn wir es schafften, eine Weiterentwicklung dieser Ansätze zu erarbeiten, bezogen auf die heutige Situation, dann könnten wir mit einer Analyse der aktuellen Möglichkeiten und Schwächen dem System gestärkt entgegentreten. Denn Spaltung führt zu unserer Schwächung, jeder Kampf an einer kleinen Front kommt an einem gewissen Punkt nicht weiter und führt im Endeffekt nicht zu einer Veränderung des Systems. Der Staat fördert diese Separierung durch Beschränkung des Verantwortungsbereichs der Einzelnen auf ihren eigenen kleinen Kosmos: Allein genommen sind wir alle schwach!

Der Gefängniswiderstand von Sakine Canzıs und der anderen kurdischen Freund*innen zeigt, dass Mobilisierung und Organisierung bei gleichzeitiger Bewahrung der revolutionären Haltung innerhalb des Gefängnisses zum Erfolg führen kann.

Dies kann übertragen auf das Freiluftgefängnis kapitalistischer Nationalstaaten in Verbindung mit der Analyse unserer eigenen Aktionsformen und Möglichkeiten, Druck auf den Staat auszuüben, zum Erfolg führen.

Daher sollten wir uns auch fragen, ob unsere aktuellen Aktionsformen wirklich geeignet sind, Druck auszuüben, oder ob wir nur Teil des staatlich legitimierten Widerstands geworden sind, der benutzt wird, um Pseudo-Meinungsfreiheit darzustellen? Und ob unser Protest nicht teilweise vom Staat zur Selbstdarstellung benutzt wird?

Dieser Text spricht sich explizit für einen Kongress aller wahrhaft demokratischen, sozialistischen und linken Kräfte in Deutschland aus, um eine gemeinsame Analyse anzustellen, welche notwendig ist, um eigene Schwächen zu erkennen und auszugleichen.

Gemeinsam können wir Aktionsformen erarbeiten, die nicht nur durch Symbole gekennzeichnet sind, sondern einen tiefgreifenden Wandel in der Gesellschaft herbeiführen können. Es sind gesellschaftliche Aktionen notwendig, bei gleichzeitigen politischen Aktivitäten, die weg von Symbolpolitik hin zu konsequent revolutionärem Verhalten führen. Wir sollten anfangen, wieder Druck auf den Staat aufzubauen, der sexistische, rassistische und ausbeuterische Mechanismen nicht mehr zulässt, statt nur anprangert. Die politische Haltung muss im Alltag gelebt werden und durch wahrhaft demokratische Werte und Selbstbestimmung geprägt sein.

Alle Ebenen verlangen nach Veränderung und gemeinsamer Analyse: individuell, strukturell und organisatorisch. Wir bekräftigen hier den Aufruf, eine gemeinsame Basis zu finden und den deutschen Staat und sein System der kapitalistischen Moderne zu analysieren und dadurch angreifen zu können.