Das vom Kolonialstaat errichtete »Angst-Imperium« begann Risse zu bekommen

Zwei Dörfer, die die Phase der Serhildans einleiteten

Perwer Yaş, Journalist

Die Militäroperationen in Bagok halten weiter anNach dem Beginn des bewaffneten Kampfes am 15. August 1984 in Dih (Eruh) durch die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) war Nordkurdistan mit einer seiner schwersten Prüfungen konfrontiert. Der damalige türkische Staatspräsident Kenen Evren behauptete, der Widerstand würde keine 72 Stunden überdauern. Stunden, Tage, Monate und Jahre vergingen und weder die Guerilla noch der Widerstand des Volkes kam ins Stocken. Nach 1984 versuchte das Regime in Ankara alles, um die sich in Kurdistan stetig ausweitende Guerilla zu besiegen. Unter Ministerpräsident Turgut Özal wurde im März 1986 das Dorfschützer-System eingerichtet. Ein Jahr später unterzeichnete Özal das Dekret zum Ausnahmezustand für die Region, in der sich die Provinzen Çewlîg (Bingöl), Amed (Diyarbakır), Xarpêt (Elazığ), Colemêrg (Hakkari), Mêrdîn (Mardin), Sêrt (Siirt), Dersim (Tunceli) und Wan (Van) befanden.

Das kolonialistische Regime versuchte zunächst mithilfe der Dorfschützer und danach über den Ausnahmezustand die Guerilla einzukreisen und die in der Bevölkerung verankerte kurdische Freiheitsbewegung zu zerschlagen. Mit dem Ausnahmezustand wurde die fadenscheinige Justiz des Staates in Kurdistan ausgeschaltet und die komplette Initiative dem Militär und den Spezialeinheiten überlassen. Nach 1987 gehörten Räumungen und Zerstörungen von Dörfern, Entführungen und Hinrichtungen durch den informellen Geheimdienst JITEM der türkischen Militärpolizei und Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen zum Alltag.

Der Widerstand der Guerilla am Berg Bagok bei Nisêbîn (Nusaybin) im April 1988 sollte vor allem die Entwicklung in der Region Botan auf den Kopf stellen. In den Morgenstunden des 1. April haben etwa zehntausend Soldaten der türkischen Armee ein Ausbildungscamp der Volksbefreiungsarmee Kurdistan (Artêşa Rizgariya Gelê Kurdistan – ARGK) in Bagok angegriffen. Etwa 50 Kämpfer der ARGK (30 von ihnen hatten ihre Ausbildung gerade abgeschlossen), die von Kriegsflugzeugen und Helikoptern umzingelt waren, leisteten entschlossenen Widerstand. Die kurdische Gesellschaft gedenkt ihnen mit dem Lied »Li Bagokê«.

Die neue Phase nach Bagok

Im Gefecht von Bagok schoss die Guerilla drei Helikopter ab, beschädigte einen weiteren und tötete dutzende Soldaten, darunter einen Piloten. Bei diesem Gefecht bei Bagok starben 20 Guerillakämpfer und es war das erste von vielen weiteren intensiven Gefechten in Kurdistan.

Während des Widerstands von Bagok kamen zum ersten Mal in Kurdistan die Menschen aus Botan der Guerilla zu Hilfe. Dorfbewohner trugen die verletzten Guerillakämpfer aus dem Gefechtsgebiet und leisteten logistische Unterstützung für die Guerilla. Die Solidarität zwischen Guerilla und Gesellschaft, die in Bagok ihren Anfang nahm, sollte den türkischen Staat dazu veranlassen, neue Konzepte anzuwenden.

Massaker an der Zivilbevölkerung

Nach den Dorfschützern und dem Ausnahmezustand ist das Jahr 1989 als das Jahr der zivilen Massaker und ersten Dorfräumungen in die Geschichte in Kurdistan eingegangen. Insbesondere die türkische Armee sollte jede Niederlage an der Zivilbevölkerung rächen.

Um dies zu verhindern, versammelten sich die Dorfvorsteher der Dörfer von Şirnex (Şırnak) und suchten den Landrat Cemal Aymaz auf, der ihnen allerdings lediglich mitteilte: »Solange in den Bergen Terroristen sind, wird der Staat so viel zerstören, verbrennen und bombardieren, wie er will. Wir wissen, woher diese Terroristen kommen. Macht, was ihr wollt.«

Dies kam einer Ankündigung von Massakern in der Region gleich. Am 23. Juni 1989 wurde ein Taxi auf der Dorfstraße von Gundikê Mele (Balveren) in Şirnex beschossen. Fünf Dorfbewohner starben. Nach diesem Ereignis hat der türkische Staat das Dorf immer wieder überfallen, die Menschen gefoltert und bis zu 20 Dorfbewohner festgenommen. Das Dorf Gundikê Mele beim Berg Cûdî war dem Staat bekannt. Cem Ersever, einer der Anführer des JITEM, sollte in seinen Erinnerungen schreiben, wie er selbst höchstpersönlich viele Zivilisten des Dorfes ermordete.

Gegen die Angst

In den ersten Tagen sind die rund 3.500 Einwohner von Gundikê Mele zwischen Şirnex und Qilaban (Uludere) auf die Straße gegangen und haben ihrem Protest gegen die staatliche Unterdrückung Ausdruck verliehen. Das vom Kolonialstaat in den Köpfen der Kurden errichtete »Angst-Imperium« begann Risse zu bekommen. Murat Karayılan, Oberkommandeur der Volksverteidigungskräfte (Hêzên Parastina Gel – HPG), schreibt zu der Bedeutung der damaligen Ereignisse in seinem Buch »Die Anatomie des Krieges«: »Gegen die Serhildans (Volksaufstände), bei denen sich die kurdischen Städte für die Leichname der Guerillakämpfer einsetzten, ging der türkische Staat mit Gewalt vor. Das Ziel waren Angst und Unterdrückung. Der Staat wollte unbedingt verhindern, dass die Guerilla eine Massenbasis findet. Denn er wusste, dass dies sein Ende und den Verlust Kurdistans bedeuten würde. Deshalb schreckte er nicht davor zurück, die Massen mit Panzern anzugreifen oder in die Menge zu schießen, wobei immer wieder dutzende Menschen starben. Trotz der starken Repression in den Dörfern Botans im Jahr 1989 konnten die Serhildans nicht verhindert werden. Die Dorfbewohner von Gundikê Mele in Şirnex haben einen Sitzstreik auf der Straße zwischen Şirnex und Qilaban gegen die Repression des Staates durchgeführt. Diese Aktion war der erste gesellschaftliche Widerstand gegen den Staat.«

Die Ermordung von sechs Zivilisten in Girê Çolê

Ein weiterer Ort des Widerstands war das Dorf Girê Çolê (Derebaşı) auf der anderen Seite des Bergs Cûdî in Silopiya (Silopi). Das Dorf mit langer Geschichte stand an einem strategischen Ort. In der Nähe des Dorfes gab es am 17. September 1989 um zwei Uhr nachts ein Gefecht auf dem Berg Cûdî. Eine Vielzahl von Soldaten und drei Guerillakämpfer der ARGK kamen ums Leben. Die nach dem Gefecht ins Dorf Girê Çolê kommenden türkischen Soldaten nahmen die Dorfbewohner Sudun Beyan, Üzeyir Arzıg, Reşit Eren, Fevzi Bayan, Abbas Çiğdem und Münir Aydın fest. Ihnen wurden Hände und Augen verbunden; sie wurden in den frühen Morgenstunden hingerichtet. In jeden einzelnen Körper wurden mehr als 20 Kugeln geschossen. Die Menschen aus Silopiya sind an diesem Tag mit dem Massaker in Girê Çolê erwacht. Das Gouverneursamt des Ausnahmezustands erklärte in einer Stellungnahme dazu, »neun Terroristen« seien in Silopi getötet worden.

Die Menschen der Region waren wütend. Während sie eine Untersuchung des Vorfalls oder zumindest eine Autopsie und die Verfolgung der Täter forderten, wollte der türkische Staat nicht einmal die Leichname aushändigen. Die Dorfbewohner von Girê Çolê haben sich am Morgen des 19. September auf den Weg nach Silopiya gemacht. Die Menschenmenge wuchs mit den Menschen aus den Nachbardörfern und aus Silopiya stetig weiter auf Zehntausend an. Vor dem Regierungsgebäude forderte die Menge Rechenschaft für das Massaker, aber die staatlichen Kräfte antworteten auf diesen friedlichen Protest mit Gewalt. Doch der Terror des türkischen Staats konnte den Widerstand der Menschen nicht brechen. Das Haus des Landrats in Silopiya wurde angezündet. Die staatlichen Kräfte schossen wahllos in die Menge und verletzten eine Vielzahl von Menschen und nahmen mehr als 80 Personen fest. Obwohl die Fotoapparate der Journalisten beschlagnahmt wurden, war Silopiya am nächsten Tag auf der Titelseite der türkischen Medien. Die Zeitung Milliyet erschien am 20. September mit der Schlagzeile »Vorfall in Silopi« und berichtete über den Volksaufstand: »Die Menge, die zum Regierungsgebäude lief, schrie und zerstörte die Fensterscheiben. Die herbeieilenden Spezialkräfte schossen in die Luft, um die Menge zu zerstreuen. Das Regierungsgebäude und die Moschee, in der sich die Leichname befanden, wurden durch Panzer geschützt. Die Milliyet-Reporter, die die Demonstration verfolgten, wurden von den Sicherheitskräften angegriffen. Als die Menge vor dem Regierungsgebäude mit Steinen und Knüppeln die Fenster zerschlug, riefen sie Slogans wie: ›Wir wollen die Mörder‹, ›Nieder mit dem Kapitalismus‹, ›Nieder mit dem Faschismus‹, ›Wir werden unsere Stimme in Europa zu Gehör bringen‹ und ›Wir fordern unser Recht‹.«

Die Tagung des Nationalen Sicherheitsrats

Die in Kurdistan beginnenden Serhildans versetzten nun die Mächtigen des Regimes in Ankara in Angst und der Nationale Sicherheitsrat unter dem Vorsitz des Junta-Führers Kenan Evren wurde einberufen. Die türkische Regierung war wütend auf die Medien, die diesen »Vorfall« bekannt gemacht hatten. Es wurde eine Erklärung des Sicherheitsrates veröffentlicht, die voller Drohungen gegen Journalisten war, die den schmutzigen Krieg in Kurdistan verfolgten.

Der Serhildan in Silopiya hat auch das politische Klima in Ankara beeinflusst. Abgeordnete von DYP und ANAP übten Druck auf die Özal-Regierung aus, das Massaker in Girê Çolê zu untersuchen. Özal sah sich daraufhin gezwungen, eine Abgeordnetendelegation nach Silopiya zuzulassen. Die Parlamentarier erklärten nach ihren Untersuchungen in der Region zwar, die ermordeten sechs Dorfbewohner seien sicher keine PKKler gewesen, verlangten aber dennoch keine Rechenschaft für das Massaker.

Die Gründung einer politischen Partei

Nach Girê Çolê dauerte die Serie von Massakern durch den türkischen Staat an. Am 24. November 1989 wurden im Dorf Sat (İkiyaka) in Gever (Yüksekova) 28 Dorfbewohner ermordet.

1989 ereignete sich ein weiteres wichtiges Ereignis im politischen Leben der Kurden: Sieben kurdische Abgeordnete beteiligten sich am 14. und 15. Oktober an einer Konferenz in Paris und wurden deshalb aus der Sozialdemokratischen Volkspartei (Sosyaldemokrat Halkçı Parti – SHP) ausgeschlossen. Dies und die Serhildans in dieser Zeit bestärkten den Prozess zur Gründung einer Partei der Kurden. Als erstes Glied einer Tradition der demokratischen Politik wurde die Arbeitspartei des Volkes (Halkın Emek Partisi – HEP) im Juni 1990 gegründet.

Das erste Halbjahr 1990 sollte besonders ereignisreich werden. Der Widerstand zuerst in Gundikê Melê und danach in Girê Çolê mündete in gesellschaftlichem Widerstand und den Serhildans. Der Serhildan von Silopiya sollte durch das Lied »Destana Silopî« des jung verstorbenen kurdischen Künstlers, Evdilmelîk Şêx Bekir, Mitglied der Gruppe Koma Amed, aus dem Album »Kulîlka Azadî«, im kollektiven Gedächtnis der Kurden bleiben.


 Kurdistan Report 206 | November/Dezember 2019