In Erinnerung an den Freiheitskämpfer Michael Panser/Xelîl Viyan/Bager Nûjiyan

Seien wir realistisch, versuchen wir das Unmögliche!

Ronahî, eine Weggefährtin von Heval Bager, September 2019

»Vier Schmetterlinge beschließen herauszufinden, was Feuer wirklich ist. Der erste Schmetterling fliegt weit am Feuer vorbei, kommt zurück und sagt: ›Feuer ist etwas, das leuchtet.‹ Das ist noch nicht das ganze Wissen über dessen Natur, und so fliegt der zweite Schmetterling etwas näher ans Feuer heran, kehrt um und erzählt: ›Feuer ist etwas, das wärmt.‹ Doch auch das reicht nicht aus, um dessen Natur zu erklären, und so nähert sich der dritte Schmetterling dem Feuer noch weiter, bis die Flammen über seine Flügel züngeln. Als er zurückkehrt, sagt er: ›Die Wahrheit über das Feuer ist, dass es etwas Brennendes ist.‹ Der vierte Schmetterling umkreist das Feuer, dreht um, brennt an und stürzt sich plötzlich ins Feuer, leuchtet für einen Augenblick und verschwindet dann in der Flamme, bis er nicht mehr zu sehen ist. Das ist der einzige Schmetterling, der wirklich versteht, was das Feuer ist, aber er kann es den anderen nicht mehr erzählen.« (Indische Geschichte, aus dem Buch »Kurdische Liebe« von Abdullah Öcalan)

In Erinnerung an den Freiheitskämpfer Michael Panser/Xelîl Viyan/Bager NûjiyanKeinen Schritt zurück

Haben Sie schon mal einen Menschen getroffen, der mit jedem Schritt seinen Träumen und seiner Vorstellung von einer besseren Welt folgt? Wir alle haben Träume und Vorstellungen von einer besseren Welt. Doch es gibt nur wenige, die aus ihren Wünschen und Träumen den roten Faden spinnen, der ihr Leben bestimmen soll. Xelîl hat an Utopien gesponnen, um sie zu verwirklichen. Wer ihn getroffen hat, weiß, dass er voller magischer Geschichten war und fasziniert von GeschichtenerzählerInnen, die über den Rand des Bestehenden hinausgingen. Er entwickelte daraus die besondere Fähigkeit, Schwierigkeiten und Hindernissen mit einer Leichtigkeit zu begegnen im Bewusstsein der noch viel größeren Aufgaben, die auf ihn warteten.

Er war fasziniert von den wandernden und reisenden DichterInnen und PhilosophInnen aller Kontinente, die dem Leben als seine SchülerInnen treu ergeben sind. Daraus entwickelte er selbst eine Lebensform: Was in Büchern und Liedern versteckt war, erweckte er zum Leben. Die Gegenden, die er bereiste, betrachtete er im Spiegel ihrer Geschichte, und er war tief begeistert von der Kraft der Natur im Aufstand gegen das, was die Menschen mit ihr machen. Er war offen und zugewandt und suchte das Denken und die Erfahrungswelt der Menschen zu verstehen, denen er begegnete. Seine Tasche war stets gepackt wie die Wanderbeutel der GesellInnen und Derwische. Er trug niemals mehr als das Nötigste bei sich und teilte das, was er bei sich trug.

Wenn leben, dann frei leben

Xelîl ist in seinen dreißig Lebensjahren auf den Spuren Che Guevaras nach Lateinamerika und auf den Spuren Andrea Wolfs in den Mittleren Osten gereist. Was ihn antrieb, war nicht die Suche nach Abenteuer oder die Aufregung eines außergewöhnlichen Lebens. Was ihn antrieb, war eine tiefe Überzeugung, dass auf dieser Welt momentan etwas nicht stimmt, dass Gut und Böse auf den Kopf gestellt und Recht und Unrecht trügend verwischt sind. Er konnte dir sehr genau davon berichten, auf welche ökologische Apokalypse die Erde zusteuert, was kapitalistisches Wirtschaften mit dem menschlichen Körper und Geist macht, und von all den weiteren Themen, die den Menschen das Atmen schwermachen.

Er konnte sich über jedes erdenkliche Thema unterhalten und kam oft zu einer Erkenntnis zurück: der Notwendigkeit des ganzheitlichen Denkens. Ganzheitlich waren auch sein Verständnis von Revolution und seine Vorstellung davon, wie die RevolutionärInnen sein müssen, die diesen Weg beschreiten. Sein Weg war sicher nicht ohne Umwege und Sackgassen, doch ausgerichtet auf ein Ziel. Er nahm sein Ziel zum Maßstab dafür, wie er sich entwickelte und neu erfand, wie er sein Leben organisierte und wie er auf andere Menschen zuging. Er hatte eine Klarheit darin, seine Werte zu verteidigen.

Wenn wir Heval Bager in die Augen blicken, sollten wir uns selbst in seinem klaren Spiegelbild betrachten. Ab dem Moment, als er begriff, wohin die Welt sich bewegt, begann er eine weite Reise. Er war bereit, für diese Reise hinter die Weltenränder zu blicken und in die Augen zu blicken, die die Welt des Feuers zeigen, nicht die des Lichts. Und er war bereit, mit ins Feuer zu gehen, wenn es die Wirklichkeit ist, statt weiter vom Licht geblendet und getäuscht zu werden. Heval Bager ließ das Gewand der Moderne wie selbstverständlich für immer zurück, sobald er sich ihrer Täuschung bewusstgeworden war. Er ging fortan mit einer Leichtigkeit, die einen freien Geist auszeichnet, und mit einer Offenheit, die von einer neuen Gesellschaft erzählt. Mit dem, was er begriffen hatte, zeichnete er eine neue Landkarte und fand zahlreiche WeggefährtInnen auf seiner Suche.

Wir, die Verbündeten, suchten mit unserer Liebe die Einsamkeit in dieser Welt zu überwinden, und wir fanden heraus, dass mit der Zärtlichkeit der Völker die Einsamkeit wie ein schlechter Traum verpufft. Es entstand in uns eine neue Klarheit, die eine unerschütterliche Kraft mit sich brachte. Sobald du siehst und fühlst, was Bruchteile der neu errungenen Wirklichkeit sind, nimmst du sie und schließt sie in dein Herz. Und dein Herz wird stark wie niemals zuvor, vielleicht stärker als all das, was dir je bekannt war. Und dein Denken, Sprechen und Handeln speist sich seitdem aus dieser Erkenntnis, und du begreifst, dass diese Quelle nahrhafter ist als alles, was du kanntest.

Lassen wir sie verzweifeln in ihrer Zerstörung

An jedem einzelnen Tag des Monats Dezember im Jahr 2018 fielen die Bomben aus den Bäuchen der Kriegsvögel auf die Berge und Täler Kurdistans wie der Regen eines starken Gewitters. Die freien Berge und RevolutionärInnen Kurdi­stans sind der Weltordnung, die sich alle Werte oberhalb und unterhalb der Erdoberfläche, bis hin zu denen in den Köpfen der Menschen, zu eigen macht und gnadenlos ausbeuten will, ein Dorn im Auge. Ein großer Hass, der den kalten Willen der Vernichtung in sich trägt, lässt die Kriegsvögel fliegen und das tun, was klassische Armeen seit hundert Jahren erfolglos versuchen: den Freiheitswillen im Mittleren Osten ersticken, um das Land gefügig und besetzbar zu machen. Die KämpferInnen der PKK führen diesen Kampf um die Würde des Menschen, im Mittleren Osten und überall.

Michael Panser/Xelîl Viyan/Bager Nûjiyan in den freien Bergen Kurdistans.

Lieber Freund Xelîl,

gemeinsam saßen wir auf einer Anhöhe und sahen das erste Mal die Bomben auf diese wunderschöne Landschaft einbrechen. Zuerst war da ein unerträglicher Lärm, mit dem die Kriegsvögel über uns kamen, und dann sahen wir ein großes Feuer, das den weiten Horizont vor unseren Augen lebendig verbrannte. Wir wurden Zeugen, wie gnadenlose Gewalt etwas so Wertvolles aus dem Leben reißt. So gaben wir diesem Ort, den freien Bergen Kurdistans, unser Versprechen, ein Teil des Widerstandes zu werden. Egal wo – unser Herz schlug fortan gemeinsam.

Zuletzt bist du auf die freien Berge zurückgekehrt, philosophiertest über diese und andere Weltordnungen und sangst die Lieder der kommenden Welt, als die Kriegsvögel wieder über diesen wunderschönen Ort herfielen. Diesen Ort, der allen vertraut wird, die von Herzen Mensch sind.

Du bist nicht der Erste und wirst nicht der Letzte sein, dem durch diesen Vernichtungskrieg das Leben genommen wurde. Doch deine FreundInnen und WeggefährtInnen werden dafür sorgen, dass der Feind der Menschheit in seinem Vernichtungswillen verzweifeln wird. Er wird durch unsere Entschlossenheit und Hingabe früher oder später erkennen, dass sich die Suche nach dem würdevollen Leben nicht vernichten lässt. Es kann keine Welt ohne Verbundenheit, Liebe, Solidarität, Würde und Gerechtigkeit geben, und mit diesem Selbstbewusstsein führen wir deine Suche und deinen Kampf fort. Wir sind mit den Geschichten der RevolutionärInnen gewachsen, die sich in allen Teilen der Welt furchtlos dem Feind der Menschheit entgegenstellten und für ein freies und würdevolles Leben kämpften. Wir wachsen auch mit deiner Geschichte, lieber treuer Freund und Weggefährte. Wir haben dich immer für deine Klarheit und deinen unermüdlichen Geist bewundert, nun werden wir uns diesen Geist zu eigen machen. Das ist unser Weg, auf dem wir dich unsterblich und deine Träume lebendig werden lassen.


 Kurdistan Report 206 | November/Dezember 2019