Aktuelle Bewertung
Über Bündnisse und blinde Gefolgschaft
Nilüfer Koç
Den März 2019 haben die Kurden mit großen Erfolgen beendet, auf die gewiss die Erfolge des gesamten Jahres folgen werden. Der 8. März, der internationale Kampftag der Frauen, erlebte inner- und außerhalb Kurdistans eine rege Teilnahme von Frauen. Im Ausland begegneten die Kurdinnen dieser Tage Frauen aus aller Welt. An vielen Orten wurde dieser Tag den kämpfenden Frauen in Nord- und Ostsyrien gewidmet. Klar wurde auch, welchen Einfluss die Revolution der Völker dort auf die Frauen der Welt hat.
Der historische Tag der Kurden, das kurdische Neujahr Newroz am 21. März, wurde trotz unvorstellbarer Repression des faschistoiden türkischen AKP-MHP-Regimes von Millionen Menschen gefeiert. Millionen stellten sich in Kurdistan und weit darüber hinaus mit ihrer Teilnahme hinter die Forderung »Die Isolation aufheben, den Faschismus brechen und Kurdistan befreien«. Diese Forderung ist auch die Hauptforderung der tausenden Hungerstreikenden. Am 7. November 2018 hat die HDP-Abgeordnete von Colemêrg (Hakkari) und Co-Vorsitzende des Demokratischen Gesellschaftskongresses DTK Leyla Güven mit ihrem unbefristeten Hungerstreik eine neue Welle des Widerstands ausgelöst. Dem haben sich am 1. März etwa 7000 politische Gefangene und 37 politische Führungspersönlichkeiten in Straßburg, Wales, London, Kanada, Deutschland, Schweiz, Holland, Irak, Südkurdistan, Nordkurdistan angeschlossen.
Als Leyla Güven den Hungerstreik begann, signalisierte sie in ihrer Erklärung klar, dass die Zeit reif ist für eine friedliche Lösung der kurdischen Frage in der Türkei. Für den Frieden von kurdischer Seite aus nannte sie als Adressanten Abdullah Öcalan. Diese Hungerstreiks bestimmen gegenwärtig die Dynamik der kurdischen Gesellschaft und Politik.
Chancen für den Frieden gestiegen
Die Grundlage für den Frieden, die Leyla Güven mit dem Brechen der Isolationsfolter gegen Abdullah Öcalan fordert, ist jetzt reif.
Weil
– Millionen Kurden in Nordkurdistan und der Türkei sich zu Newroz hinter ihre Forderung gestellt haben;
– 7000 politische Gefangene in der Türkei und Nordkurdistan sich ihr angeschlossen haben;
– die Kurden in Europa und auf anderen Kontinenten auf der Straße mit Kundgebungen und Demonstrationen ununterbrochen auf diese Forderung hinweisen;
– die gesamte kurdische Politik und Diplomatie auf das Brechen der Isolation ausgerichtet ist.
Der Frieden hat jetzt Chancen, da die Türkei unter kurdischer Führung im Kampf gegen das faschistoide AKP-MHP-Regime am 31. März Erdoğan bei den Kommunalwahlen einen historischen Denkzettel verpasst hat. Wohlgemerkt, es waren keine Wahlen, es war ein regelrechter Kampf zwischen dem faschistoiden AKP-MHP-Block und der demokratischen HDP. Es war ein Kampf zwischen Diktatur und Demokratie. Gewonnen hat die Demokratische Partei der Völker HDP und damit die Chance auf Demokratie und Frieden. Amed (Diyarbakır) hat wieder Demokratie nach Istanbul und Ankara geschickt. Ohnehin wurde der kurdische Kampf für eine demokratische Türkei ohne AKP/MHP und für ein freies Leben in Nordkurdistan geführt. Nicht nur in Nordkurdistan, vor allem in den größten türkischen Regionen wie Istanbul, Adana, Mersin, Izmir etc. Um Erdoğan, der weltweit als Diktator gilt, geschichtsreif zu machen, gaben die Kurden mit »halbem Herzen« der »sozialdemokratischen« Partei Atatürks, der Republikanischen Volkspartei (CHP), ihre Stimme. In der kurdischen Frage hat die CHP bislang zur AKP gehalten. An manchen Orten stimmten die Kurden für die religiöse Saadet-Partei. Diese politische Strategie war einzigartig und hat den Kern der Diktatur getroffen. Sie hat den Menschen in der Türkei, die um ihr Brot und ihre Arbeit bangen, Hoffnung gegeben, sich von dieser Diktatur befreien zu können. Frauen, die sich gegen die Verschleierungspolitik des Patriarchen wehren, haben wieder Luft zu atmen. Akademiker, Journalisten, Friedensaktivisten, Gewerkschafter, alle, die Erdoğan ein Dorn im Auge waren, können jetzt aufatmen. Er steht jetzt am Anfang seines Endes. Weshalb er alles Mögliche unternimmt, um die Wahlergebnisse in Istanbul zu manipulieren. Istanbul als größte Wirtschafts-, Kultur- und Politikmetropole dominiert zum Teil den Rest der Türkei. Für Erdoğan ist es die Stadt, in der er bei den Parlamentswahlen 2002 mit seiner AKP auf die Bühne der Politik trat. Die Wahlergebnisse haben ihm nunmehr signalisiert, dass diese Stadt auch seinen Abstieg von der Bühne bedeutet. Für den Weg der Demokratie in der Türkei haben die Kurden einen historischen Beitrag geleistet. Nun ist es an der Zeit, dass die HDP und die Opposition in der Türkei gemeinsam agieren, um den Zerfall der AKP und MHP zu beschleunigen.
Genauso ist es wichtig, dass auch die internationale Politik ihre Bündnisse mit der AKP-MHP-Koalition hinterfragt. Bislang haben fast alle mit Bauchschmerzen mit Erdoğan verhandelt. Für alle, die an Demokratie in der Türkei interessiert sind, haben die Kurden den Weg geebnet.
Einigen Staaten wird es sicherlich keine Freude bereiten, Erdoğan zu verlieren, weil er sich als Knüppel gegen die aus der Reihe tanzenden Kurden bewährt hat. Wie im März bei der türkischen Belagerung Efrîns. Die Kurden hatten mit ihrem Demokratiemodell in Nord- und Ostsyrien eine Alternative geschaffen, die auf immer mehr positive Resonanz bei den Völkern im Nahen/Mittleren Osten gestoßen war. Mit Erdoğans Efrîn-Operation sollten die Kurden daran erinnert werden, wer die Herren dieser Welt sind und dass sie sich diesen wie im 20. Jahrhundert beugen müssten.
Erdoğan hat bislang von einigen Staaten passive und aktive Unterstützung erhalten, was auch zum Schweigen gegenüber seiner völkerrechtswidrigen Politik in der Türkei und Syrien führte. Die Wahlergebnisse nun, d. h. der kurdische Sieg, sind auch eine Botschaft an all diejenigen, die glauben, sie könnten die Kurden diktatorisch im Zaum halten. So geschehen in Südkurdistan mit Saddam und seit 2002 mit Erdoğan in Nordkurdistan.
Die Kurden drängen auf Frieden. Als Sieger im Kampf sowohl gegen Erdoğan als auch gegen dessen Verbündete in Nord- und Ostsyrien, den Islamischen Staat (IS), wird es schwierig, ihre Forderungen zu ignorieren. Es wird für die europäischen Staaten, die EU, den Europarat, das Antifolterkomitee CPT auch immer schwieriger, vor der Weltöffentlichkeit der Isolationsfolter gegen den von kurdischer Seite als Friedensvermittler geforderten Öcalan weiterhin tatenlos zuzusehen.
Von den Kurden, d. h. mit dem militärischen Sieg durch die Demokratischen Kräfte Syriens (QSD), wurde am 24. März der militärische Kampf gegen den IS in Nord- und Ostsyrien, den Alptraum der Menschheit im 21. Jahrhundert, für beendet erklärt. Dafür wurde ein hoher Preis gezahlt. 11.000 Gefallene, 22.000 Verletzte. Wenn auch zu 90 % Kurden, so haben auch Araber, Assyrer und viele Internationalisten aus aller Welt ihren Beitrag zur Befreiung der Menschheit von dieser Gefahr geleistet.
Mit der Niederlage des IS ist Erdoğan auch ein wichtiges Instrument aus der Hand genommen worden. In der Syrienfrage ist es fraglich, wem er nun mit welchen Mitteln drohen will. Auch wenn er Idlib, Cerablus (Dscharabulus) und Efrîn mithilfe des IS und anderer Banden weiterhin unter Kontrolle hat. So wird es Erdoğan in seiner Niederlage schwer fallen, noch mehr von Russland zu fordern. Die Kurden haben sofort nach dem Sieg in Nord- und Ostsyrien die neue Offensive zur Befreiung Efrîns angekündigt. Für die Türkei wird es jetzt noch schwieriger werden, Russland, Iran und die USA dafür zu gewinnen.
Denn die kurdischen Möglichkeiten des politischen Mitmischens sind in der Iran-Debatte erneut wichtig geworden. Auch wenn Erdoğan seit Monaten bemüht ist, einen iranisch-kurdischen Krieg zu provozieren, so agieren beide Seiten doch mit Vorsicht. Erdoğan erhofft sich durch die Thematisierung eines Iran-Krieges, das Leben seines Regimes verlängern und sich den USA und Russland noch teurer verkaufen zu können. Er übersieht allerdings, dass sich die Kurden offensiver für den Frieden einsetzen, als sich für einen Krieg instrumentalisieren zu lassen.
Wir schulden der Menschheit internationales IS-Tribunal
Zwar ist der IS von den QSD-Kämpfern militärisch besiegt worden. Doch wird er immer einen Boden finden in einer von ethnischen und religiösen Konflikten geprägten Region. Die Aufarbeitung der IS-Kriegsverbrechen und -Verbrechen gegen die Menschlichkeit ist für alle von großer Bedeutung. Denn solange dies nicht geschieht, können solche Alpträume immer wieder wie Pilze aus dem Boden schießen. Es ist daher heute nicht nur für die Menschen im Nahen/Mittleren Osten, sondern weltweit umso wichtiger, den Boden für solche Banden auszutrocknen. Dafür ist es unumgänglich, solche Verbrechen in einem internationalen Tribunal aufzuarbeiten. Die Forderung der Autonomen Selbstverwaltung Nord- und Ostsyriens nach einem solchen Tribunal ist nicht nur eine kurdische Angelegenheit, da der IS ein internationales Problem ist. Es muss aufgedeckt werden, wie solche Gruppierungen entstehen, aus welchen Quellen sie ihre Logistik schöpfen, wer sie fördert. Zum Gedenken an alle Menschen, die in Syrien, Irak, Frankreich, Belgien und anderen Orten der Welt ihr Leben durch diese Gräueltaten verloren haben, muss so ein internationales Tribunal zustande kommen. Und zwar auch an einem Ort, an dem gekämpft wurde. Trotzdem Staaten der internationalen Koalition den QSD bei diesem Krieg aus der Luft geholfen haben, so wurde der IS militärisch mit dem Verlust von 11.000 Toten und 22.000 Verletzten bezwungen. Wer sich gegen ein solches Tribunal stellt, will nicht, dass dieser Teil der Menschheitsgeschichte aufgedeckt wird. Wer in Sachen IS nichts zu verbergen hat, sollte einem solchen Tribunal zustimmen. Über Forum und Durchführung kann selbstverständlich debattiert werden. Es ist allerdings auch nicht nur ein Thema für die Administration von Nord- und Ostsyrien, sondern betrifft alle Menschen weltweit. Denn der IS und seine Verbündeten waren weltweit an zivilen Morden beteiligt.
Rojhilat/Iran
Die Isolationspolitik der USA gegenüber Iran hat sich mit der Einbeziehung der Revolutionsgarden als Terrororganisation um eine Stufe verschärft. Ohnehin wird der iranische Einfluss im Nahen/Mittleren Osten durch die Forcierung und Förderung der arabischen Koalition immer weiter zu beschränken versucht. Bekanntlich beruhte die iranische Strategie darauf, sich in das Chaos und die Krisen der Region einzumischen, sie zu vertiefen und dadurch einerseits die eigene Macht auszudehnen und andererseits den Fluss der Konflikte daran zu hindern, das iranische Staatsgebiet zu erreichen. Die auch sehr stark von Israel unterstützte US-Strategie basiert darauf, den Einfluss Irans in der arabischen Welt mithilfe der arabischen Koalition zu schwächen. Historische Machtkämpfe zwischen Persern und Arabern bieten den USA einen guten Nährboden. Im iranisch-arabischen Machtkampf dient der Islam als wichtige Waffe. Beide haben den Anspruch, den »richtigen Islam« zu repräsentieren. Dabei geht es um puren Machtkampf, der wenig mit dem Islam zu tun hat. Auch die türkische AKP-Regierung hat ihre Expansionspolitik im Nahen/Mittleren Osten mit dem Islam gerechtfertigt, weshalb sie in den letzten acht Jahren des Syrienkrieges den IS und andere salafistische Banden unterstützte.
Im Falle des Iran-US-Konflikts ist für die Kurden äußerste Vorsicht geboten. Mit verschiedensten Mitteln haben die USA für ihren antiiranischen Kurs die PKK unter Druck zu setzen versucht. Diese setzt sich weiterhin für den 2011 geschlossenen Waffenstillstand zwischen den Guerillaeinheiten der KODAR (Freiheits- und Demokratiebewegung Ostkurdistans), den Befreiungskräften Ostkurdistans (HRK), und Iran ein. Damals war dieser Waffenstillstand durch Vermittlung der PKK zustande gekommen. Ferner unterstützt die PKK das gemeinsame Lösungspaket zur Demokratisierung Irans von PJAK (Partei für ein Freies Leben in Kurdistan) und KODAR vom Juli 2018. Dessen Grundprinzip konzentriert sich auf die von den Völkern Irans und Ostkurdistans zu entwickelnde Demokratisierung.
Ein Paragraph aus diesem Paket demonstriert die Richtlinie zur Demokratisierung Irans: »Das Lösungsprojekt orientiert sich an der Gesellschaft und ihrem Willen. Die Gesellschaft ist in der Lage, die aktuellen Probleme ohne jegliche Erwartungen an den Staat eigenständig, mithilfe ihrer Fähigkeiten und Erfahrungen, zu lösen. Demokratie und Freiheit können nur durch die Kraft des Volkes entstehen. Eine externe Macht kann dies der Gesellschaft nicht aufzwingen. Die Gesellschaft muss entscheiden.«
Ähnlich den Vorschlägen Abdullah Öcalans zur Lösung der kurdischen Frage für Syrien und die Türkei wollen KODAR und PJAK durch die Vorreiterrolle der kurdischen Gesellschaft in Iran gemeinsam mit dessen Volksgruppen wie den Persern, Aserbaidschanern, Belutschen und allen anderen Volks- und Glaubensgruppen gegen das Regime den Kampf für die Demokratisierung führen.
Die militärische Strategie des Regimes, d. h. der totale Fokus auf Krieg und Konflikte im Nahen/Mittleren Osten, schadet nicht nur der Wirtschaft des Landes, sondern sorgt für einen permanenten Ausnahmezustand für die Volksgruppen des Landes. Von diesem Problem wollen seine Gegner profitieren. An diesem Punkt setzen die Kurden auf die innere Dynamik des Landes und rufen das Regime zur Demokratie auf.
Wie in der Türkei ist die kurdische Frage ein Hauptproblem Irans
17 % der 75 Millionen Einwohner Irans sind Kurden. Ostkurdistan liegt im Westen des Staates und die Kurden leben in fünf Provinzen: West-Aserbaidschan (Asarbaidschan-e Garbi), Kurdistan (Kordestan), Kirmasan (Kermanschah), Îlam und Lorestan. Sie gehören zu der bestorganisierten Oppositionskraft des Landes. Das Regime Irans ist schiitisch, doch 30 % der Bevölkerung sind Sunniten, wie die Mehrheit der Kurden. Das totalitäre Regime setzt seine Repressionspolitik am massivsten in Ostkurdistan ein. Die politischen Umwälzungen im Mittleren Osten, vor allem die gesellschaftliche, militärische, politische und diplomatische Stärke der Kurden in Syrien, haben dazu geführt, dass das Regime mit großer Sensibilität an die kurdische Frage herangehen muss.
Für die Kurden besteht momentan kein akuter Bedarf, Iran militärisch den Krieg zu erklären, auch wenn er die Rechte der Kurden nicht anerkennt. Im Falle eines Angriffs wären sie aber sehr wohl fähig, dem Regime binnen kurzer Zeit einen Denkzettel zu verpassen. Angesichts des prekären politischen Gleichgewichts im Nahen/Mittleren Osten wäre allerdings ein Krieg gegen Iran nicht nur auf diesen begrenzt, zumal das Regime überall in der Region seine Finger im Spiel hat. Er wäre weit fataler als der Krieg in Syrien, geschweige denn die brutale und mörderische Realität des Krieges für das Volk.
Öcalans strategischer Vorschlag in kritischen Zeiten, die »Weder-noch-Strategie«, also die Strategie des Dritten Weges, die KODAR und PJAK in ihrem Lösungspaket vorschlagen, wäre die ideale Form einer Lösung. Veränderungen, Demokratisierung von unten. Weder ist das iranische Regime demokratisch, noch werden die USA Demokratie einführen. Die Region wimmelt nur so von Beispielen eines Krieges zwischen lokalen und globalen Antidemokratien.
Daher setzten die USA Kopfgeld in Millionenhöhe auf drei hochrangige PKKler aus, Murat Karayilan, Cemil Bayık und Duran Kalkan.
Aber auch die Türkei versucht aus der Gunst der Stunde Profit zu schlagen. In manipulativen Erklärungen propagierten hochrangige türkische Politiker wie der Innenminister tagelang in türkischen Medien den »gemeinsamen Krieg mit Iran gegen die Kurden«. Trotz iranischer Dementis beharrt die Türkei darauf, einen Deal gegen die Kurden abgeschlossen zu haben. Angesichts der Tatsache, dass lange Zeit neben Syrien auch Iran mit der Türkei in einem antikurdischen Bündnis agierte, scheint es heute schwierig, dass gerade Iran in einem solchen Bündnis die Kurden bekämpft. Das Erdoğan-Regime, das die Kurden als größte Gefahr für den rassistischen türkischen Nationalstaat ansieht, versucht überall seine diplomatischen Bündnisse gegen sie zu schmieden.
Um einem Krieg der USA gegen Iran vorzubeugen, ist es auch eine Aufgabe der Kriegsgegner, die Kurden nicht alleinzulassen, sondern sich mit den Völkern Irans stark zu solidarisieren. Falsch und fatal wäre es, aus sogenannter »linker Perspektive« im »US-kritischen« Sinne den Iran zu verharmlosen. Der einzige Unterschied zwischen den beiden besteht darin, dass die USA die globale Macht anstreben und Iran die regionale.
Südkurdistan/Irak
Die mit dem 29. Juni 2015 aufgenommenen türkischen Luftangriffe auf die Qandîl-Berge halten nicht nur systematisch an, sondern wurden auf weitere Gebiete in Südkurdistan (Nordirak) ausgedehnt. Angeblich sollen sie die PKK schwächen. Das Gegenteil aber tritt ein, sie schaden mehr der Türkei, da sie für die Staatskasse und damit die türkischen Steuerzahler zu einer Last werden. In der Gesellschaft schenkt kein Mensch mehr der staatlichen Propaganda Glauben, der PKK sei das Rückgrat gebrochen worden. In Südkurdistan erleiden aber die Zivilisten in den Bergregionen große Schäden. Sie verlieren ihre Gärten, Häuser, Felder. Ende Januar verloren vier Zivilisten bei den Luftangriffen in der Bergregion in Sîdekan (türkisch-irakisch-iranisches Grenzgebiet) ihr Leben. Ohnehin ist es das Ziel des türkischen Staates, diese Bergregionen zu entvölkern. Währenddessen sind die südkurdischen Parteien mit der Machtverteilung für die Regierungsbildung in der Autonomen Region Kurdistan beschäftigt. Seit den Wahlen im September wird darüber gestritten. Bislang ohne Einigung. Seit nunmehr acht Monaten wird der Bevölkerung versichert, »spätestens morgen« stehe die Regierung.
Die Gründe dafür sind einerseits interne Machtkämpfe zwischen den politischen Parteien, andererseits außenpolitische. Intern hat die Demokratische Partei Kurdistans (PDK) auf ihrer letzten Politbürositzung den bisherigen Ministerpräsidenten Nêçîrvan Barzanî als Präsidenten der Region und den bisherigen Sicherheitschef Mesrûr Barzanî als Ministerpräsidenten der Regionalregierung KRG benannt. Als Vertreter für die beiden streiten sich nun die Liste für Wandel (Gorran) und die Patriotische Union Kurdistans (YNK). Seit dem Scheitern des Unabhängigkeitsreferendums im September 2018 ist das Verhältnis zwischen PDK und YNK angespannt, da Erstere Letztere dafür verantwortlich macht. Zudem stellte die YNK gegen den Willen der PDK Berhem Salih als Kandidaten für die irakische Staatspräsidentschaft auf. Ein weiterer Streitpunkt zwischen den beiden Parteien ist die Frage des Gouverneurs für die erdölreiche Region Kerkûk, die sie jeweils für sich beanspruchen.
Obwohl Mesrûr Barzanî bislang noch nicht durch das kurdische Parlament bestätigt worden ist, wird er von vielen europäischen Staaten als Staatsmann mit allen protokollarischen Ehren auf Augenhöhe behandelt. Auch hier wird deutlich, dass diese Staaten, unter ihnen die Bundesrepublik, viel mehr an ihre eigenen Interessen denken als an die rechtlichen und politischen Statuten eines Landes oder einer Region.
Trotz der innenpolitischen Machtverteilungskrise Südkurdistans sind die Türkei und Iran weiterhin am Werk, ihre Machtbereiche weiter auszudehnen. Die Türkei breitet neben Militärbasen immer mehr ihr Geheimdienstnetzwerk aus. Angeblich will sie damit die PKK bekämpfen. Doch geht es ihr im Grunde darum, über das PKK-Argument Südkurdistan zu besetzen. Denn der autonome Status und das internationale Interesse an Südkurdistan waren und sind ihr ein Dorn im Auge. Ein wichtiges Instrument der Türkei ist hierbei, einen innerkurdischen Streit zwischen PDK, YNK und PKK zu provozieren. Bislang ist es ihr nicht gelungen.
Bei den türkischen Kommunalwahlen am 31. März hatten acht wichtige kurdische Parteien gemeinsam mit der HDP ein nationales kurdisches Bündnis geschlossen, was auch von der Bevölkerung sehr positiv aufgenommen wurde. Einige dieser Parteien sind Schwesterorganisationen der PDK in Südkurdistan. Dieses Bündnis war wichtig, weil auch andere kurdische Parteien außer der HDP zu dem Schluss gekommen sind, dass Erdoğan nicht nur gegen die HDP-Kurden agiert, sondern insgesamt eine antikurdische Politik verfolgt. Dieses Bündnis hatte Erdoğan derart geärgert, dass er den Kurden im Wahlkampf sagte: »Wer ein Kurdistan will, muss die Türkei verlassen und in den Nordirak gehen.«
Kurdenfrage der Bundesregierung
Die politischen Entwicklungen in Nord- und Ostsyrien/Rojava, Nordkurdistan (Türkei) und Südkurdistan (Irak) bewirken auch Veränderungen des Charakters der kurdischen Frage in der Außenpolitik.
Ganz offensichtlich legen sich diejenigen, die sich mit dem Gegner der Kurden einlassen, im Nahen/Mittleren Osten selbst Steine in den Weg. Eine derjenigen, die »in guten wie in schlechten Zeiten« an der Seite des türkischen Regimes stehen, ist die Bundesregierung. Das hat aktuell politisch wenig mit den »Flüchtlingsstrom«-Drohungen Erdoğans zu tun. Sie mögen in Berlin zur Kenntnis genommen werden, sind allerdings nicht bestimmend für die deutsch-türkische Bündnispolitik. Mit diesem Argument wird seit geraumer Zeit die AKP-freundliche Politik legitimiert. Auch das Argument der wirtschaftlichen Zusammenarbeit ist nicht besonders überzeugend.
Andere europäische Staaten haben genauso Wirtschafts- und Militärabkommen mit der Türkei. Dennoch verfolgen sie die Kurden nicht in dem Maße, wie es die AKP/Erdoğan vorgeben. Sie halten für die Kurden den Dialog offen. Eine Ausnahme bildet die Bundesregierung. Systematische politische Verfolgung gehört hier zum Alltag aller Kurden, die die PKK als Garantin für ihre freie Zukunft sehen.
Das Argument, die türkische Lobby in Deutschland sei sehr stark, ist wenig überzeugend. Denn die Lobby anderer ist auch nicht zu unterschätzen. Dennoch verfolgt Berlin ihnen gegenüber eine eigene Politik. Das heißt, wenn Berlin seine Politik nach der ausländischen Lobbyarbeit richten würde, käme die deutsche Interessenpolitik tatsächlich zu kurz.
Während sich zahlreiche staatliche Vertreter für den Sieg gegen den IS in Nordostsyrien auch bei den Kurden bedankten, hat sich der deutsche Außenminister Heiko Maas, wie viele Empörte es zu Recht nannten, »mit fremder Feder geschmückt«. Ohne überhaupt die Kurden beim Namen zu nennen, ging er so weit, den kurdischen Sieg in die eigene Tasche zu stecken. Wenn überhaupt jemand die Volks-/Frauenverteidigungseinheiten (YPG/YPJ) militärisch gegen den IS unterstützt hatte, so waren es allen voran die USA und Frankreich und einige andere Kräfte der internationalen Koalition. Die Bundesregierung hat Milliarden Euro als »humanitäre Hilfe« nach Syrien geschickt und war sehr darauf bedacht, dass kein Cent an die Öcalan-Kurden geht, die den Krieg gewonnen haben.
Die deutsche Nahostpolitik leidet an einer Staatsdoktrin, die an ihren überholten Dogmen festhält. Explizit offenbart dies die deutsche Kurdenpolitik. Die Türkei will am alten Status quo festhalten, koste es, was es wolle. Das bedeutet, der türkische Nationalstaat soll weiterhin auf der Staatsdoktrin »ein Staat, eine Nation, eine Sprache, eine Flagge« beruhen. Der Name Erdoğan steht dafür. Diesem Mann, dem eingeschworenen Gegner der Kurden, eilt Berlin stets zur Hilfe, wenn er in der finanziellen Klemme steckt. Fazit ist, dass die Bundesregierung ein Problem mit freien Kurden hat. Die Wut über die Veränderungen in der kurdischen Gesellschaft durch die PKK und Öcalan führt zu den makabersten Kriminalisierungsvarianten in Deutschland selbst. Wie der Ausweitung der Verbote kurdischer Symbole. Kurden, die anders denken und handeln als die Kurden des 20. Jahrhunderts, das, so scheint es, ist der deutschen Nahostpolitik nicht willkommen, da sie dem deutschen Partner, der Diktatur in der Türkei, Steine in den Weg legen. Auch stimmt es nicht mehr, dass die Bundesregierung die kurdischen Parteien in Südkurdistan, also vor allem die PDK, gegen die PKK unterstützt. Es war die Bundesregierung, die sich klar und deutlich gegen das Unabhängigkeitsreferendum der PDK in Südkurdistan stellte.
Man könnte meinen, die Kurden müssten auch eine Roadmap zum Frieden mit der Bundesregierung entwickeln. Vielleicht sollten es die Millionen Freunde und Freundinnen in Deutschland tun.
Die Verbotspolitik auf europäischer Ebene ist mit rechtlichem Deckmantel nicht mehr aufrechtzuerhalten. Hier ist es empfehlenswert, die Gerichtsbeschlüsse von Brüssel und des Europäischen Gerichtshofs der EU in Luxemburg zu betrachten. Beide Gerichte haben die staatliche politische Argumentation der PKK als terroristischer Organisation zurückgewiesen. Das ist ein wichtiger Anfang, und es zeigt, dass diese PKK-Verbote auch von den eigenen Gerichten nicht mehr getragen werden. Es sind politisch motivierte Verbote, rechtlich bemäntelt.
Die Bundesregierung ist gut beraten, die Kurden nicht mit der türkischen Brille zu sehen, sondern im Gesamtkontext des Nahen/Mittleren Ostens. Eines haben die Kurden trotz der politischen Repression geschafft: die Herzen von Millionen Menschen in Deutschland zu erreichen.
Kurdistan Report 203 | Mai/Juni 2019