200 Tage gegen die Isolation von Abdullah Öcalan im Hungerstreik

Wir haben gehofft, gekämpft und gesiegt!

Interview von Sabiha Temizkan mit ihrer Mutter Leyla Güven

Die Zeit, die ich erlebte, war manchmal wie eine Reise ins Unbekannte. Meine Mutter war im Hungerstreik. 200 Tage lang ... Ich war ihre Tochter und voller Sorge. Ich war eine Journalistin und Zeugin. Ich wollte als ein Teil dieses historischen Moments und dessen Zeugin als Erste mit meiner Mutter Leyla Güven sprechen, der Ko-Vorsitzenden des Demokratischen Gesellschaftskongresses (DTK) und Abgeordneten der Demokratischen Partei der Völker (HDP) aus Colemêrg (Hakkari). Was hat sie gefühlt? Gab es Momente, in denen sie Angst hatte? Wie hat sie es geschafft, ihren Glauben, ihre Hoffnung lebendig zu halten? Neben den Emotionen des Widerstands haben wir über viele Dinge wie die Botschaft von Abdullah Öcalan gesprochen. Auch wenn es nicht möglich ist, diesen langwierigen Hungerstreik auf ein paar Seiten vollständig wiederzugeben ... (Sabiha Temizkan)

Sabiha Temizkan mit ihrer Mutter Leyla Güven. | Foto: yeniyasamgazetesi.comAls Journalistin und Tochter in einer Person wird es schwer sein ein Interview zu führen. Was möchtest du in diesem ersten Interview sagen, das du mit deiner Tochter führst?

Es war für mich ein Privileg und eine Chance, dass meine Tochter gleichzeitig die nächste Zeugin dieser Phase war. Ich denke, dass dies gut genutzt werden muss.

Wie alle anderen auch interessiert mich deine seelische Verfassung. Wir haben eine starke Phase der Frauensolidarität gelebt. Du wirst bemerkt haben, dass ich neben dir getrauert habe. Wie war das für dich?

Wir sind zusammen aufgewachsen. Als ich dich, meine Tochter, auf meinen Schoß nahm, war ich 17 Jahre alt. Es ist nicht leicht, dies zu erklären. Auch wenn du jemand bist, die diesen Kampf aus nächster Nähe kennt, so wusste ich doch, dass du für solch eine Aktion nicht bereit warst. So war es auch. Als du ins Gefängnis zu mir kamst, erlebtest du sehr emotionale Momente. Doch als ich dir von der Notwendigkeit dieser Aktion erzählte, hast du mich verstanden und hast meine Stimme 200 Tage lang nach außen getragen. Es war für mich als Mutter eine unbeschreibliche Belastung zu sehen, was meine Tochter erlebte, während neben ihr mein Körper dahinschmolz. Als du dich um mich sorgtest, erlebte ich als Mutter tiefen Schmerz.

Hast du erwartet, dass der Hungerstreik so lange Zeit andauern wird?

Wenn wir die Geschichte der Hungerstreiks betrachten, dann passiert eigentlich etwas innerhalb der ersten 100 Tage. Es endet entweder mit Erfolg oder Misserfolg. Doch in diesem Hungerstreik haben sich Dinge ereignet, die auch ich nicht erwartet habe. Ich habe allein eine Entscheidung getroffen und wollte dies nicht den Jugendlichen überlassen. Doch mit der Beteiligung der Freund*innen in den Gefängnissen und an den vielen Orten der Welt war ich ab dem 38. Tag nicht mehr allein mit dem Hungerstreik. Tausende Freunde und Freundinnen, wie meine liebe Sebahat Tuncel und Selma Irmak, haben zusammen mit mir Widerstand geleistet. Wir haben vorausgesehen, dass die AKP-MHP-Regierung nicht auf einfache Weise Schritte machen wird. Doch unsere Forderung war eine rechtlich legitime Forderung, und ich habe nicht erwartet, dass der Streik so lange gehen wird.

Wie war die Phase während des Hungerstreiks im Gefängnis?

Das Gefängnis von Amed (Diyarbakır) hatte für mich eine ganze andere Seite. Das ist der Geist dort. Der Widerstand vom 14. Juli [1982], Mazlum Doğan und »die Vier« ..., dass Sakine Cansız auch einmal dort war. Das Gefängnis von Amed war eine Burg des Widerstands. Diese Verbindung war bedeutend für mich, motivierte und stärkte mich.

Was hast du zusammen mit deinen Zellenfreundinnen in diesen ersten 79 Tagen des Hungerstreiks im Gefängnis erlebt?

Ich habe eine unbeschreibliche Solidarität von Frauen erlebt. Als meine Freundinnen in meine Augen schauten, sah ich ihre Überzeugung. Es gab eine solche Opferbereitschaft ... Einige von ihnen haben nicht an ihren Gerichtsverhandlungen teilgenommen, um bei mir zu sein, obwohl sie freigelassen werden sollten. Eine unglaubliche Solidarität und Emotionalität. Und dann, als ich freigelassen wurde, waren meine Freund*innen draußen vom ersten Moment an meiner Seite.

Während der Verhandlung, in der du den Hungerstreik angekündigt hast, erklärtest du, dass du von der Philosophie Öcalans über die Frauen sehr beeinflusst bist. Während dieses Hungerstreiks hast du von einigen feministischen Kreisen Kritik bekommen, dass Öcalan ein Mann sei und du als Frau für einen Mann in einen Hungerstreik trittst. Wie bewertest du erstens den Blick von Öcalan auf die Frauen und zweitens, wie verstehst du diese Kritik?

Als Herr Öcalan den Kampf um Kurdistan begann, hat er dem Frauenkampf immer eine besondere Rolle zugeschrieben. Er erklärte, dass eine Revolution ohne die Frau eine unvollständige Revolution sei, etwas, wo die Frau nicht involviert ist, nicht als Freiheit bezeichnet werden könne. Die Rojava-Revolution ist dafür ein gutes Beispiel. Diese Philosophie ist ein Ansatz, eine Frauenbefreiungsideologie, die für alle Frauen auf der Welt Lösungscharakter besitzt. Er hat zum Beispiel mit seinen Beiträgen wie dem Vorschlag des Ko-Vorsitzes, der Konzeptualisierung von Jineolojî und ähnlichen Vorschlägen und Arbeiten einen wichtigen Beitrag dafür geleistet, im kurdischen Kampf und der demokratischen Politik eine gleiche Repräsentation der Frau zu gewährleisten. Öcalan erklärte sogar: »Der Frauenkampf muss entwickelt werden, wenn nötig, bin ich bereit, für euch dafür zu arbeiten.« Er hat niemals einen überheblichen Blick auf die Frau und keinen befehlsorientierten Ansatz. Einige Frauenbewegungen und Freundinnen aus der Türkei können solche Kritiken formuliert haben. Doch ich muss dann sagen, dass wir wohl den anderen Frauenbewegungen nicht erklären konnten bzw. unzureichend erklärt haben, warum wir die Frauenperspektive von Öcalan befürworten. Ich denke, dass die Antwort auf diese Frage allein schon ein Interviewthema sein kann. Ich würde dieses Thema gerne mit Frauenbewegungen tagelang diskutieren.

Es war eine Phase, die sich sehr dem Tod näherte, und dies für ein lebenswerteres Leben. Du hast immer gesagt, dass du den Tod in Kauf nähmst. Doch gab es auch Momente der Angst?

Ich dachte zu der Möglichkeit zu sterben Folgendes, es kann passieren, dass ich sterbe, aber wir alle werden sowieso eines Tages sterben. Doch wenn ich am Ende der Aktion lebendig und erfolgreich bin, wird es für mich und den Kampf noch mehr Moral und Kraft geben. Natürlich wollte ich leben. Ich denke jetzt, dass, wenn ich gestorben wäre, ohne das heute zu sehen, es für mich ein Verlust gewesen wäre. Doch dies ist zum Glück so geschehen.

Die Anwält*innen haben Öcalan am 2. Mai getroffen und am 6. Mai das Treffen der Öffentlichkeit verkündet. Warum hast du nach dieser Erklärung nicht den Hungerstreik beendet?

Nach diesem Treffen gab es keinerlei Hinweis darauf, dass das seit Jahren illegal andauernde Besuchsverbot aufgehoben war. Selbst die Anwält*innen, die Öcalan besuchen durften, wurden von der Regierung bestimmt. Es gab keine Erklärung an die Öffentlichkeit, dass das Besuchsverbot aufgehoben sei. Ja, die Anwält*innen sind einmal zum Treffen gegangen. Doch danach? Es passierte nichts. Wir mussten wissen, ob das Verbot aufgehoben war, und warteten auf die rechtliche und offizielle Verlautbarung dessen.

Der Justizminister Abdülhamit Gül hatte im Grunde eine Erklärung abgegeben ...

Ja, aber es gab solch ein Paradox. Er erklärte, dass das Verbot aufgehoben sei, doch die Besuchsanträge der Anwält*innen blieben ohne Antwort. Und auf der anderen Seite wurde die Familie Öcalan mit Disziplinarstrafen behindert. All dies bedeutete, dass das Problem nicht gelöst war. Wir haben aus diesen Gründen das erste Treffen als nicht ausreichend gesehen.

Wie hast du die Botschaft Öcalans nach dem zweiten Anwaltsbesuch erhalten? Gab es an dich eine besondere Nachricht?

Die Anwält*innen des Rechtsbüros Asrin sind zu mir gekommen und haben die Botschaft mit mir geteilt. Herr Öcalans besondere Nachricht an mich war, dass ich auf meine Gesundheit achten und die Politik von Mahatma Gandhi untersuchen solle. Er sagte, dass auch Gandhi den Hungerstreik befürwortete, aber gleichzeitig eine wirksame Politik führte. Er erklärte, dass man nicht den Tod, sondern das Leben vorziehen und noch stärker kämpfen sollte. Nach dieser Botschaft haben wir unseren Hungerstreik mit dem Ziel einer noch wirksameren Politik zur Aufhebung der Isolation, zur Schaffung einer demokratischen Türkei und eines ehrenvollen Friedens beendet.

Was bereitete dir in diesem langwierigen Kampf am meisten Schwierigkeiten?

Während dieser Aktion habe ich drei große Erschütterungen erlebt. Das Erste war meine Freilassung aus dem Gefängnis am 79. Tag. Ich wusste, dass diese Entscheidung darauf gerichtet war, meinen Widerstand zu brechen. Die zweite und schwerste war die Phase der Aktionen der Aufopferung, die mit Zülküf Gezen begann. Als ich diese Aktion begann, wollte ich nicht, dass sonst noch jemand in den Hungerstreik tritt. Denn ich konnte den Schmerz der Jugendlichen nicht ertragen. Deshalb war ich sehr beeindruckt von der Ausbreitung des Hungerstreiks. Diese Freund*innen waren schon seit Jahren inhaftiert und wiederholt in den Hungerstreik getreten.

Die Briefe und Grüße, die ich von ihnen erhielt, gaben mir Kraft, aber taten auch weh. Es wäre sonst nur mir etwas passiert, aber sie sollten keinen Schaden nehmen. Am meisten berührten mich die Freund*innen, die sich aufopferten und dafür sorgten, dass diese Aktion zum Erfolg führte. Die dritte große Erschütterung war das Todesfasten der 30 Freund*innen. Von diesem Tag an konnte ich sprichwörtlich nicht mehr atmen. Ich dachte: »Lieber möchte ich sterben, als ihren Tod miterleben zu müssen.« Später habe ich verstanden, dass dies ein falscher Blick war. Ja, diese Freund*innen haben sich für uns aufgeopfert, doch tausende Freund*innen in den Gefängnissen richteten sich nach meiner Gesundheit und ich darf ihnen diesen Schmerz nicht zeigen. So dachte ich.

Ich fokussierte mich auf den Erfolg und habe diese Phase mit Motivation abgeschlossen. Auf der anderen Seite habe ich meine Mutter verloren. Als eine, die auch inhaftiert war, als ihr Vater starb, hat mich die Nachricht vom Tod meiner Mutter sehr schwer getroffen. Mit diesem Schmerz den Widerstand fortzuführen war äußerst schwer.

Ich möchte auf die Botschaft von Öcalan zu sprechen kommen. Wie bewertest du in der Botschaft den Punkt zu Syrien, wo es heißt, dass »die Bedenken der Türkei berücksichtigt werden« sollten?

Man hat in Rojava einen gewissen Punkt erreicht. Die Türkei baut eine Mauer und versucht so, die beiden Völker zu spalten. Die Türkei hat Efrîn besetzt, die Menschen aus ihren Häusern vertrieben und verlegt nun die Dschihadisten dorthin. Die Türkei unterdrückt die Völker in Rojava. Trotzdem sagt Öcalan, dass die Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) die Bedenken der Türkei berücksichtigen sollten. Das ist sehr bedeutungsvoll, und die Türkei sollte das zu schätzen wissen. Man muss die Betonung der Geschwisterlichkeit der Völker verstehen. Dafür muss eine entsprechende Politik entwickelt werden. Ich denke, dass die Sieben-Punkte-Deklaration [siehe Editorial] von Öcalan sehr bald die Agenda der Türkei bestimmen wird. Die Äußerung von Salih Muslim und die Erklärung der QSD, dass sie Öcalans Worten Bedeutung beimessen, sind wichtige Entwicklungen.

Worauf stützt sich deine Voraussicht, dass Öcalans Botschaft bald die Tagesordnung der Türkei einnehmen wird?

Die AKP führt gegenwärtig eine Politik, die nicht weiter verfolgt werden kann. Was passiert in solch einer politischen Sackgasse? Eine wirtschaftliche Krise. Wie sehr sie auch versucht sie zu vertuschen, es gibt eine tiefe wirtschaftliche Krise in der Türkei. Die letzte Botschaft von Herrn Öcalan zeigt den Gesellschaften der Türkei im Grunde einen Ausweg auf. Die kurdische Frage ist vielleicht nicht das einzige Problem der Türkei, aber das wichtigste. Wenn wir uns nur das Budget, das jährlich für diesen Krieg bereitgestellt wird, vor Augen führen, wird die Lösung des Problems einen unglaublichen Aufstieg mit sich bringen.

Werden deiner Meinung nach erneut Verhandlungen aufgenommen werden?

Das kann ich nicht voraussehen, doch selbst wenn es keine Verhandlungen sind, wird eine Normalisierung innerhalb der Türkei, in der die demokratischen Kriterien angehoben und rechtliche und freiheitliche Reformen vorgenommen werden, von selbst solch eine Phase mit sich bringen. Herr Öcalan wird im Rahmen seiner Möglichkeiten solch eine Phase unterstützen, und wir als diejenigen, die sowieso innerhalb der demokratischen Politik aktiv sind, werden das auch tun.

Was denkst du, wie nah der ehrenvolle Frieden ist, und was wirst du darin für eine Rolle spielen? Denkst du, dass mit diesem Hungerstreik deine Verantwortung gestiegen ist?

Wir sind diesem Frieden sehr nah und sehr weit entfernt. Weit, denn diejenigen, die die Türkei und die Staaten im Mittleren Osten regieren, verfügen über eine sehr traditionelle und machtbasierte Mentalität. Diese Mentalität muss sich ändern. Ein nachhaltiger und ehrenvoller Friede ist sehr nah, denn eine neue Generation wächst heran. Diese Generation akzeptiert das gegenwärtige Festhalten am Status quo nicht. Sie fordert globale Freiheit und Demokratie. Sie möchte Gleichheit und die Aufhebung der Grenzen. Sie möchte eine freiere Welt, in der global gedacht wird. Und eben diese Generation gibt Hoffnung. Die Politik wird jünger und Frauen beteiligen sich aktiv und geben ihr ihre Farben. Mit all dem demokratisiert sich die Politik. Deshalb denke ich, dass ein nachhaltiger Frieden nah ist.

Herr Öcalan muss an diesem Frieden beteiligt sein. Denn Herr Öcalan legt mit seiner Perspektive der demokratischen Nation ein Projekt vor, in der ein demokratischer Mittlerer Osten, in dem alle Völker zusammenleben, möglich ist. Nach diesen Auseinandersetzungen ist ein Frieden nur mit ihm möglich. Das sage nicht nur ich, es ist eine Realität. Deshalb habe ich den Hungerstreik begonnen, um die Stimme von Öcalan nach außen zu tragen. Die Sieben-Punkte-Erklärung, die nach dem ersten Anwält*innenbesuch veröffentlicht wurde, hat diese Realität einmal mehr dargelegt.

Ich werde mit der Verantwortung der Freund*innen, die sich selbst aufopferten, und der tausenden Gefangenen meinen Kampf weiter fortführen. Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um diesem Volk gerecht zu werden, das sein Leben und all sein Hab und Gut dem Kampf gewidmet hat.

Möchtest du noch eine Botschaft abgeben?

An diejenigen, die mich 200 Tage lang nicht alleingelassen haben, natürlich. Ich danke allen, allen voran der kurdischen Gesellschaft, den sozialistischen und revolutionären Freund*innen, allen auf der ganzen Welt, die ihre internationalistische Solidarität zeigten, Nora von den Müttern der Plaza De Mayo, Leila Chaled, Margaret Owen, den Friedensakademiker*innen, Frauenorganisationen, Glaubensvertreter*innen, der Kakai-Delegation aus Südkurdistan, den Jugendlichen und Kindern ...

Und natürlich den Frauen, die sich im Gefängnis und zu Hause um mich kümmerten. Selbstverständlich danke ich meiner Familie, die von Anfang bis Ende geduldig an meiner Seite stand. Der Erfolg ist unser aller.

Welchen Titel würdest du diesem Widerstand geben?

Wir haben gehofft, gekämpft und gesiegt!


 Kurdistan Report 204 | Juli/August 2019