Über die Regierungszeit der AKP in der Türkei

Erdoğans politische Abenteuer und die Wahlen in Istanbul

Cafer Tar, Journalist

Erdoğan selbst gab den Befehl an die Hohe Wahlkommission (YSK), die Wahlergebnisse vom 31. März in Istanbul zu annullieren und Neuwahlen anzusetzen. Die Bevölkerung war verärgert und ging auf die Straße. | Foto: ANFDie politische Karriere und der Weg zur Errichtung seines Ein-Mann-Regimes begannen für den heutigen Staatspräsidenten der Türkei Recep Tayyip Erdoğan in Istanbul, als er im Jahr 1994 die Kommunalwahlen mit einem hauchdünnen Vorsprung gewann. Es war eine Zeit, in der die Kurd*innen, die Alevit*innen, aber auch die Kräfte des politischen Islams erstmals auf die politische Bühne traten. Bis dahin war es den kemalistischen Eliten erfolgreich gelungen, alle drei Gruppen von der politisch-legalen Sphäre des Landes fernzuhalten.

Aber die kemalistische Türkei fand damals weder im Inland noch im Ausland Antworten auf die großen politischen Herausforderungen, vor denen das Land stand. Stattdessen war die Türkei selbst zu einem Problem geworden. Die Gerichte standen unter der Kontrolle der Militärs, so dass keine unabhängige Justiz existierte. Unlautere Geschäfte dominierten das Bankwesen des Landes, weshalb es auch keine Sicherheit mehr für die Gelder der Bevölkerung auf ihren Bankkonten gab. Der Staat verfolgte eine typische Klientelpolitik. Nur bestimmte Teile der Bevölkerung profitierten von staatlichen Sozialleistungen, während andere Teile nie etwas davon zu sehen bekamen. Aus diesen Gründen hatte sich ein nicht unbedeutender Teil der Bevölkerung vom Staat abgewandt.

In jenen Jahren erwachten weite Teile der Bevölkerung langsam aus der Ohnmacht, in die sie durch den Putsch von 1980 versetzt worden waren. Die Kurd*innen verfügten über einen gewissen Erfahrungsschatz als oppositionelle politische Kraft. Doch die Alevit*innen, die Suryoye, Armenier*innen und andere ausgebeutete Teile der Gesellschaft, und auch die Kräfte des politischen Islams, suchten nach ihrem Platz in der Politik.

Die Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes, die Vereinigungen der Schüler*innen und Studierenden, die Kulturvereine der Alevit*innen nahmen Schritt für Schritt ihren Platz in der Öffentlichkeit ein und verstärkten den Kampf um ihre Rechte. Allerdings gelang es ihnen nicht, diese Kämpfe auf eine gemeinsame Ebene zu heben und sich im Kampf um mehr Demokratie in der Türkei zu vereinen. Stattdessen konkurrierten sie oftmals miteinander und kamen einzeln nur bedingt voran.

In jenen Jahren war der damals noch sehr unbekannte Erdoğan der Vorsitzende der islamistischen Refah-Partei in Istanbul. Er sprach zu den Anhänger*innen seiner Partei fast schon mit einer linken Rhetorik. Er kritisierte die sozialen Ungerechtigkeiten oder verurteilte die Korruption und Vetternwirtschaft im türkischen Bankensystem. Er traf die Töne, die die Menschen hören wollten. Denn sie hatten die Missstände im Wirtschafts- und Bankensystem des Landes satt. Die Türkei war zu einem Staat geworden, der keine gesellschaftlichen Probleme mehr lösen konnte, sondern vollständig im Sumpf der Korruption versunken war. Die Menschen glaubten auch nicht mehr daran, dass die alte politische Elite fähig oder gewillt war, diese Probleme anzugehen.

Es bedurfte deshalb eines Kurswechsels im Land. Aber weil die politische Linke im Land noch mit dem Untergang des Realsozialismus beschäftigt war und sich neu finden musste, konnte sie der Bevölkerung die ersehnte Alternative nicht bieten. Und gerade weil sie von der Linken nichts zu befürchten hatte, wurde der Refah-Partei zu jener Zeit die Regierungsmacht auf dem Silbertablett serviert.

Erdoğans politisches Abenteuer begann unter diesen Bedingungen. Mit einem Stimmenanteil von gerade einmal 25 % wurde er 1994 zum Bürgermeister von Istanbul gewählt. Da aber der Konflikt zwischen der Refah-Partei und den kemalistischen Eliten des Landes fortdauerte, benutzten Erdoğan und seine Parteikolleg*innen zunächst keine islamistische Rhetorik. Sie versuchten stattdessen breitere Kreise der Gesellschaft anzusprechen und auf ihre Seite zu ziehen.

Die Praxis setzte sich dann auch in der Regierungszeit der AKP unter Erdoğan fort. Um ein Beispiel aus der Außenpolitik anzuführen: Die Zypernfrage beschäftigte die Türkei seit geraumer Zeit. Die Kemalisten und insbesondere das Militär versuchten ihre Macht durch die ungelöste Zypernfrage zu festigen. Die AKP näherte sich der Frage, zumindest in der Theorie, lösungsorientiert an. Sie erklärte, dass sie die Problematik um Zypern lösen wolle und sicherte sich auf diese Weise Sympathien der Menschen.

Es gibt weitere Beispiele wie dieses, die den damaligen politischen Kurs der AKP verdeutlichen: So baute die AKP in den ersten Jahren ihrer Regierungszeit diplomatische Beziehungen zu Armenien auf. Es wurde ein Arbeitskreis gegründet, der sich mit den Problemen der Alevit*innen beschäftigte, und in der kurdischen Frage wurde der Dialog mit dem kurdischen Repräsentanten Abdullah Öcalan aufgebaut. Die Türkei erlebte in den ersten Jahren der AKP eine Phase der politischen Entspannung.

Die Menschen konnten nun wieder offen über die gesellschaftlichen Fragen und Traumata des Landes sprechen. Nicht nur die kurdische Frage, sondern eine Vielzahl von weiteren Problemen der Türkei hatten sich über Jahre hinweg aufgestaut. Nun begannen die Menschen, diese Probleme aufzuarbeiten. Doch dann beendete die AKP-Regierung plötzlich die Friedensverhandlungen mit Öcalan und in der Türkei ereigneten sich 2015 in Suruç und Ankara zwei grausame Anschläge.

Bis zu diesem Wendepunkt hatte Erdoğan die Wahlen immer wieder mit einer »Opfer-Rhetorik« gewonnen. Er vermittelte den Eindruck, als könnten er und seine Partei zu jedem Zeitpunkt von den Kemalisten im Lande weggeputscht werden. Seine Partei wolle mehr tun, um ihre Versprechen zur Lösung der gesellschaftlichen Fragen einzulösen, doch seien ihm und seiner Partei wegen der Bedrohung die Hände gebunden. Als diese Bedrohung dann aber vollständig gebannt war, zeigte Erdoğan sein wahres Gesicht und es wurde deutlich, dass er bereit ist, alles zu tun, um an der Macht zu bleiben.

Die Parlamentswahlen vom 7. Juni 2015 markierten einen Wendepunkt in der Geschichte der Türkei. Die politische Bewegung der Kurd*innen hatte bei diesen Wahlen nämlich unter Beweis gestellt, dass sie unter gleichberechtigten Bedingungen problemlos die undemokratische 10%-Hürde des türkischen Wahlsystems nehmen kann. Die politische Bewegung der Kurd*innen, mit der Demokratischen Partei der Völker HDP als einem ihrer wichtigsten Standbeine, hat mit diesem Achtungserfolg die politischen Bewertungen der AKP und der übrigen türkischen Parteien vollends durcheinandergebracht. Die AKP erkannte, vor welche Schwierigkeiten sie ein solcher Erfolg der HDP stellen könnte. Deshalb versuchte sie mit allen Mitteln zu verhindern, dass die HDP als Partei (statt wie bisher mit unabhängigen Kandidat*innen) zu den Wahlen antrat. Die Wahlstrategie der HDP wurde auch bei Gesprächen zwischen Abdullah Öcalan, der HDP und Vertreter*innen des Staates wiederholt diskutiert. Die Staatsbediensteten versuchten auch in diesen Diskussionen, die HDP von ihrem Vorhaben abzubringen.

Doch die HDP setzte ihren Kurs erfolgreich durch und nahm die 10%-Hürde bei den Wahlen. Eine Begleiterscheinung dieses Wahlerfolges war, dass die türkischen staatstragenden Parteien in Nordkurdistan kaum mehr etwas zu sagen hatten. Ihre Stimmenanteile waren dahingeschmolzen. Das löste panisches Verhalten innerhalb der AKP und des Staates aus. Der Staat hatte sich zwar über die Jahre daran gewöhnt, gegen die Kurd*innen in den Bergen einen Krieg zu führen. Doch zum ersten Mal waren sie nun mit einer derart starken legalen kurdischen Bewegung in den Städten und in den Dörfern konfrontiert.

Außerdem hatte die AKP mit diesen Wahlen ihre absolute Mehrheit im türkischen Parlament verloren. Weil sie auch das nicht akzeptieren wollte, beendete die AKP zunächst die Verhandlungen mit den Kurd*innen und setzte anschließend Neuwahlen an. Was darauf folgte, war eine Gewaltspirale, welche die Türkei so bislang nicht gekannt hatte. Die Massaker in Ankara und Suruç sind zwei Beispiele hierfür. Vor den Augen des Staates durften die Banden des sogenannten Islamischen Staats (IS) hunderten Menschen durch ihre Anschläge das Leben nehmen.

Ein Grund dafür, dass sich die AKP so sehr an der Macht festkrallt, ist der Korruptionssumpf, in den sich die Regierungsmitglieder in den 17 Jahren ihrer Macht begeben haben. Sie wissen sehr genau, dass an dem Tag, an dem sie die Macht verlieren, diese Skandale aufgearbeitet und die Verantwortlichen vor Gericht gestellt werden. Deshalb wollen sie die Macht nicht aus der Hand geben. Nach den Wahlen vom 7. Juni 2015 hatte Erdoğan persönlich signalisiert, dass er für seinen Machterhalt bereit ist, alles nur Erdenkliche in Bewegung zu setzen.

Zwischen dem 7. Juni und dem 1. November im Jahr 2015, an welchem die Neuwahlen stattfanden, hatte die HDP – wie auch die übrigen Parteien – keine Möglichkeit, Wahlkampfveranstaltungen abzuhalten. Die Bevölkerung war einem erbitterten Terror ausgesetzt. Unter diesen Bedingungen, unter Furcht und Terror, war es der AKP gelungen, ihre Macht aufrechtzuerhalten und einen Wahlsieg zu erringen.

Dann kam es zu dem ominösen Putschversuch vom 15. Juli 2016. Nach der Niederschlagung des Putschversuchs hatten die AKP und die MHP vollständig die Macht im Staate unter ihre Kontrolle gebracht. Erdoğan bezeichnete die Ereignisse um den Putschversuch später als ein »Geschenk Gottes«. Mittlerweile sind fast drei Jahre seit dem Putschversuch vergangenen, doch die vollständigen Hintergründe jenes Abends sind weiter nicht aufgeklärt. Was sich allerdings seitdem geändert hat, sind die Machtverhältnisse im Land. Denn in dem Ausnahmezustand, der nach dem Putschversuch für fast zwei Jahre aufrechterhalten wurde, haben die Machthaber durch ihre Dekrete mit Gesetzeskraft die Staatsstruktur geradezu neu aufgebaut. Unzählige Soldat*innen, Polizist*innen, Akademiker*innen usw. wurden aus den staatlichen Einrichtungen entlassen.

Doch all diese Maßnahmen ändern nichts daran, dass sich die Ära der AKP und Erdoğans dem Ende nähert. Die Ergebnisse der Kommunalwahlen vom 31. März 2019 sind ein deutliches Indiz dafür. Die Türkei kann ihren Weg nicht weiter mit Erdoğan fortsetzen. Auch die Außenpolitik des Landes befindet sich in einem katastrophalen Zustand. Noch nicht einmal die Zypernfrage ist gelöst, obwohl gerade hier die AKP große Töne gespuckt hatte. Auf die ungelöste kurdische Frage will ich an dieser Stelle gar nicht eingehen. Im Inland ist die Situation auch nicht besser. Die Bevölkerung ist tief gespalten und polarisiert.

Am 31. März wurde dem AKP-MHP-Block ein schwerer Schlag versetzt und die Rolle der kurdischen Wähler*innen ist hierbei von großer Bedeutung. In den wichtigsten Provinzen des Landes musste die AKP Niederlagen hinnehmen. Die Wahlniederlage in Istanbul scheint die AKP wohl selbst als den Anfang von ihrem Ende zu deuten.

Trotz dutzender Neuauszählungen und Beschwerdeverfahren hatte sich an den Wahlergebnissen der wichtigsten Metro­pole der Türkei nichts geändert. Deshalb erteilte Erdoğan selbst den Befehl an die Hohe Wahlkommission (YSK), die Wahlergebnisse zu annullieren und Neuwahlen anzusetzen. Die Begründung für die Annullierung ist traurig und lustig zugleich: Die Wahlurnenleiter*innen am 31. März waren keine Bedienstete des öffentlichen Dienstes. Dabei hatte doch die YSK selbst die Wahlurnenleiter*innen ernannt.

Die Erdoğan-Regierung setzt nun auf eine Wiederholung des Schauspiels, welches sie bereits bei den Parlamentswahlen vom 7. Juni 2015 veranstaltet hatte. Erdoğan, der, wenn es ihm in den Kram passt, stets von der Wichtigkeit der Demokratie spricht, verleugnet einmal mehr den Wähler*innenwillen der Bevölkerung und lässt den Urnengang in Istanbul wiederholen.

Auch wenn die AKP die Wahlen zur Farce verkommen lässt, muss die Opposition sich nun nochmals zusammenreißen und nicht den Gegnern der Demokratie das Feld überlassen. Auch die Weltöffentlichkeit sollte sich die Geschehnisse in der Türkei genau anschauen und nicht durch falsches Handeln die Lebensdauer dieses Regimes unnötig verlängern.

Die Regierung Erdoğans ist eine Meisterin der Heuchelei. Um die Bevölkerung zu täuschen und zu manipulieren, benutzt sie politische Propaganda. Die Bevölkerung der Türkei sollte genau deshalb diese Regierung zur Rechenschaft ziehen.

Und die internationalen Partner Erdoğans sollten endlich einen Schlussstrich unter ihre Unterstützung für dieses antidemokratische Regime ziehen. Denn die Türkei ist weit mehr als bloß Erdoğan und die AKP. Und eine andere Türkei jenseits dieses Regimes erscheint heute möglicher denn je. Um diese andere Türkei zu verwirklichen, müssen nicht nur die Menschen innerhalb des Landes gut arbeiten, auch die internationale Öffentlichkeit kann ihren Beitrag hierfür leisten.


 Kurdistan Report 204 | Juli/August 2019