»Neue Macht – Neue Verantwortung« – Analyse zur deutschen Außenpolitik

Das Werteproblem der deutschen Außenpolitik

Ali Çiçek, Mitarbeiter von Civaka Azad e.V. – Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit

In der (Staats-)Politik, so eine weit verbreitete Wahrnehmung, spielt Ehrlichkeit eine nachgeordnete Rolle. So sind wir auch nur mit wenigen Momenten der Ehrlichkeit deutscher Politiker betraut, wenn es um die wirklichen Hintergründe und Interessen in den deutsch-türkischen Beziehungen geht. Ein Politiker, der hinsichtlich der deutschen Türkeipolitik Ehrlichkeit bewiesen hat, ist der ehemalige Bundesinnenminister Thomas de Maizière. Während seiner Amtszeit und vor allem der Flüchtlingskrise im Jahr 2016 antwortete er auf die Frage eines Journalisten, warum Kritik an der Türkei im Hinblick auf Pressefreiheit, Unabhängigkeit der Justiz und Achtung der Menschenrechte ausbleibe, »ehrlich« mit den Worten: »Alle, die uns jetzt sagen, man muss die Türkei von morgens bis abends kritisieren, denen rate ich mal, jetzt das nicht fortzusetzen. Wir haben einen Interessensausgleich mit der Türkei vor uns. Wir haben Interessen, die Türkei hat Interessen. Das ist ein wichtiger Punkt. Natürlich sind in der Türkei Dinge entstanden, die wir zu kritisieren haben. Aber die Türkei, wenn wir von ihr etwas wollen, wie, dass sie die illegale Migration unterbindet, dann muss man auch Verständnis dafür haben, dass es dann im Wege des Interessenausgleichs auch Gegenleistungen gibt.«1

Der Bundesaußenminister Maas war von der Universitätsgesellschaft in Osnabrück eingeladen worden, um einen Vortrag zum Thema »Deutschlands Verantwortung in Europa und der Welt« zu halten und mit Studierenden zu diskutieren. Empfangen wurde er von Kurdinnen und Kurden des kurdischen Studierendenverbandes JXK/YXK. | Foto: ANF

Hier stellt sich die Frage, was sind denn die deutschen und die türkischen Interessen? Im selben Jahr sprach sich de Maizière für eine Geheimdienstzusammenarbeit mit der Türkei aus. »Wir können uns ja unsere Partner nicht aussuchen«, rechtfertigte de Maizière die angestrebte Geheimdienstzusammenarbeit mit der »geografischen Schlüssellage« der Türkei, den Millionen in Deutschland lebenden türkischstämmigen Menschen und der NATO-Partnerschaft. Er könne doch nicht »auf Information über einen für Deutschland gefährlichen Menschen verzichten, nur weil sie aus einem Staat kommt, wo Pressefreiheit nicht in vollem Umfang gewährleistet ist«,2 verharmloste der Bundesinnenminister die menschenrechtliche Situation in der Türkei.

Das Desinteresse der deutschen Außenpolitik in Hinsicht auf Demokratie, Frieden und Menschenrechte begrenzt sich jedoch nicht nur auf die Türkei, sondern stimmt mit der allgemeinen außenpolitischen Leitlinie der Bundesregierung überein. Thomas de Maizière brachte dies mit den treffenden Worten »Nicht der Schiedsrichter beim Thema Menschenrechte für die ganze Welt sein«3 auf den Punkt und erklärte die Bundesregierung kurzerhand als nicht mehr zuständig in Fragen der Menschenrechte.

»Neue deutsche Verantwortung«

Noch vor wenigen Jahren galt Außenpolitik in Deutschland als Randthema. Ob im Parlament, den Medien oder politischen Think-Tanks – nur selten befasste man sich umfassend mit der globalen Rolle Deutschlands. Heute jedoch betonen weite Kreise der politischen Landschaft in der Bundesrepublik das außenpolitische Gewicht des Landes und fordern ein entschlosseneres Auftreten weltweit. In Europa, Nord- und Westafrika, aber auch im Mittleren Osten treten deutsche Staatsvertreter immer vehementer für die eigenen Interessen ein. Vorrangiges Ziel scheint die Sicherung lukrativer Wirtschaftsdeals und politischen Einflusses in den unmittelbaren Nachbarregionen Europas. Aber auch darüber hinaus sind Politik, Wirtschaft und Sicherheitsbehörden in weiter entfernten Regionen wie Asien und Südamerika aktiv.

Ein Schlüsselgedanke dazu findet sich in einem Papier, das die Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), ein vom Kanzleramt finanzierter Think-Tank, im Herbst 2013 gemeinsam mit dem German Marshall Fund of the United States unter dem vielsagenden Titel »Neue Macht – Neue Verantwortung«4 publizierte. In dem Papier heißt es, die »deutsche Sicherheitspolitik« müsse sich »in erster Linie auf das zunehmend instabil werdende europäische Umfeld von Nordafrika über den Mittleren Osten bis Zentralasien konzentrieren« – also auf ein Gebiet, das manchmal auch als »Krisengürtel« rings um die EU bezeichnet worden ist.

Dabei fällt auf, dass die deutsche Außenpolitik sich nicht an der offen autoritären Politik zahlreicher Partnerländer stört. Teilweise entsteht der Eindruck, Regime wie Abdel Fattah al-Sisi in Ägypten oder Erdoğan in der Türkei könnten sich nur mithilfe umfassender Unterstützung aus Deutschland auf den Beinen halten. Sudan, Algerien, Ägypten, Ukraine, Brasilien, Kolumbien oder die Türkei – in diesen Ländern sind offen autoritäre Regime entweder an der Macht oder entsprechende Gruppen derart stark, dass sie direkten Einfluss auf Regierungsentscheidungen geltend machen können. In weiten Kreisen der deutschen Wirtschaft und Politik begegnet man den Regierungen der Länder mit offener Sympathie. Dass die deutsche Bundesregierung beim Thema Menschenrechte nicht den Schiedsrichter spielt, wird bei einem Blick auf die deutsche Unterstützung der oben genannten Länder deutlich.

Deutsche Außenpolitik im »Krisengürtel«

Demonstranten im Sudan und in Algerien haben die Langzeitherrscher Baschir und Bouteflika verjagt. Während die Medien gar von einem zweiten arabischen Frühling schreiben, reagiert die Bundesregierung verhalten. Bundeskanzlerin Angela Merkel erklärt immer wieder, wie wichtig die Stabilisierung des Nahen Ostens sei.5 Was Stabilisierung hierbei bedeutet, lässt sich bei einem Blick auf die Zeit vor dem Aufflammen der Proteste im Sudan und Algerien erkennen.

So hat die Bundesregierung jahrelang mit Diktator Baschir und dem Militär im Sudan kooperiert. Im Sudan nimmt nach dem Sturz des Machthabers Omar al-Baschir ein langjähriger Helfer der EU-Flüchtlingsabwehr eine führende Stellung im herrschenden Militärrat ein. Mohamed Hamdan Dagalo, Vizevorsitzender des Militärrats, kommandiert die Miliz »Rapid Support Forces«, die tausende Migranten aufgegriffen hat, seit Berlin und die EU Khartum Millionen für die Flüchtlingsabwehr zahlen.6 Dagalos Miliz hat ihre Ursprünge im Bürgerkrieg in Darfur; ihren Vorläufern haben Berlin und die EU einst vorgeworfen, einen Genozid zu verüben. Dagalo gilt vielen als der eigentliche Machthaber in Khartum, seit mit seiner tatkräftigen Unterstützung am 11. April al-Baschir gestürzt wurde. Dessen Regierung konnte sich noch Ende vergangenen Jahres ganz auf Berlin verlassen: Oppositionelle stuften Deutschland als Sudans »größten Unterstützer in der EU« ein; Außenminister Heiko Maas, der sich gerne als Förderer der Menschenrechte preist, sagte seinem Amtskollegen aus der Baschir-Regierung noch im November 2018 deutsche Unterstützung zu. Vier Wochen später brachen Massenproteste gegen die Regierung aus.7

Auch in Algerien dauern die Massenproteste gegen die herrschenden, von Deutschland geförderten Generäle an. Algeriens Streitkräfte, die ungebrochen die Macht in den Händen halten, werden seit Jahren aus der Bundesrepublik unterstützt. Hintergrund ist das deutsche Bestreben, Flüchtlinge an der Reise nach Europa zu hindern. Berlin hat dazu dem Bau mehrerer Werke in Algerien zugestimmt, in denen Rüstungsgüter hergestellt werden, darunter Radpanzer für die algerischen Streitkräfte. In die Joint Ventures ist Algeriens Verteidigungsministerium eingebunden. Ab nächstem Jahr soll Rheinmetall Algérie8 auch den Radpanzer Boxer montieren dürfen. Beaufsichtigt hat die Kooperation etwa auch der aktuelle Machthaber, Generalstabschef Ahmed Gaïd Salah. Berliner Regierungsberater warnen schon lange, mit der Zusammenarbeit trage man zur Verfestigung der Militärherrschaft bei. Noch im vergangenen September besuchte die Bundeskanzlerin Merkel den abgetretenen Präsidenten Bouteflika.9 Es ging um bilaterale Beziehungen, denn es sind beispielsweise etwa 200 deutsche Unternehmen in Algerien aktiv. Die deutsche Ausfuhr nach Algerien, das drittgrößter Kunde deutscher Exportunternehmen in Afrika ist, besteht zu größeren Teilen aus Bausätzen für Militärfahrzeuge – darunter Transportpanzer –, für Radaranlagen und weiteres Gerät, die in Algerien montiert und bei der Abschottung der Grenze eingesetzt werden. Es ging der Kanzlerin jedoch auch darum, die beschleunigte Abschiebung ausreisepflichtiger Algerier durchzusetzen und Algerien zum »sicheren Herkunftsland« zu erklären.

Nicht anders erscheint der Umgang der Bundesregierung mit dem Al-Sisi-Regime in Ägypten. Zehntausende inhaftierte Oppositionelle, eine massive Machtkonzentration in den Händen einiger weniger Militärs und die Machtergreifung al-Sisis in Folge eines Putsches mit fragwürdigen Wahlen im Anschluss, lassen die Vertreter der deutschen Außenpolitik offensichtlich kalt. Ähnlich wie Erdoğan ist auch al-Sisi in der Vergangenheit ein gerne gesehener Gast in Berlin gewesen, der auf dem roten Teppich empfangen wurde. Lukrative Großaufträge in Ägypten für Unternehmen wie Siemens ergänzen das Bild. Die Bundesregierung genehmigt weiterhin voluminöse Rüstungsexporte für das Militärregime in Kairo; deutsche Konzerne sind mit milliardenschweren Projekten in Ägypten präsent.

In der Ukraine unterstützte die Bundesregierung auch den ehemaligen Präsidenten Poroschenko, dessen Regierung sich offen auf die Zusammenarbeit mit faschistischen Parteien und Paramilitärs stützt.10 Die ukrainischen Faschisten führen nicht nur regelmäßig pompöse Aufmärsche im Land durch, sondern gehen gewalttätig gegen Oppositionelle vor und konnten in den letzten Jahren umfangreiche militärische Erfahrung in der Ostukraine sammeln.

Maas‘ »Verbündete für Menschenrechte« in Lateinamerika

Auch über die Machtübernahme des brasilianischen Faschisten Bolsonaro freuten sich deutsche Wirtschaftsvertreter offen. Prompt wurde eine Geschäftsreise organisiert, um die wirtschaftlichen Anreize auszuloten, die Bolsonaro internationalen Investoren unterbreitete. Die Drohungen des neuen brasilianischen Staatsoberhauptes gegen die demokratische Opposition im Land, die Verbindungen seines Umfeldes zu paramilitärischen Kreisen oder seine Verachtung für die Rechte indigener Völker werden getrost ignoriert.11

Während »Das Erste«12 die Entscheidung getroffen hat, den brasilianischen Präsidenten als rechtsextrem zu bezeichnen, traf sich Außenminister Heiko Maas (SPD) im Mai dieses Jahres unter dem Vorwand, »Verbündete für Menschenrechte«13 um sich scharen zu wollen, mit den beiden am weitesten rechts stehenden Präsidenten Südamerikas, Bolsonaro sowie dem Präsidenten Kolumbiens Iván Duque. Iván Duque ist ein Gegner des Friedensvertrags mit den FARC-Rebellen; in dem Land sind in den vergangenen zweieinhalb Jahren mehr als 300 Regierungsgegner ermordet worden, wobei die Täter zumeist straflos bleiben. Während das Auswärtige Amt von einem gemeinsamen »Wertefundament«14 mit Bolsonaro und Duque spricht, zielt Berlin tatsächlich darauf ab, Verbündete im Kampf gegen China und Russland zu sammeln sowie seine Stellung in Lateinamerika gegenüber Washington zu stärken. Zudem ist es um nicht von Sanktionen bedrohte Absatzmärkte für die deutsche Exportindustrie bemüht.

Neben diesen Initiativen der deutschen Politik in Lateinamerika stoßen die Aktivitäten der deutschen Wirtschaft auf Protest. So geht zum Beispiel die Justiz in Brasilien aktuell gegen den TÜV Süd15 vor, dem sie Mitverantwortung für das Bersten eines Staudamms im Januar dieses Jahres zuschreibt; dabei kamen mehr als 250 Menschen zu Tode. Brasilianische Aktivisten prangern zudem an, dass die Konzerne Bayer und BASF in Brasilien Agrargifte vertreiben, die in der EU verboten sind. In Brasilien verstarben in den vergangenen zehn Jahren mehr als 2000 Menschen an Vergiftungen durch Agrochemikalien. Dabei profitieren die Konzerne vom Amtsantritt des ultrarechten Präsidenten Jair Messias Bolsonaro, der seinen Wahlsieg nicht zuletzt der Unterstützung durch die Agrarindustrie verdankt: Bolsonaro hat, wie die Leverkusener NGO »Coordination gegen Bayer-Gefahren« feststellt, allein in den ersten 100 Tagen seiner Regierung 152 neue Agrargifte für den Kauf freigegeben.16

Demokratischer Widerstand in der Türkei gegen ein autoritäres Regime

Aufgrund seiner strategischen Bedeutung für die deutsche Außenpolitik verdient der Umgang der Bundesregierung mit dem autoritären Regime in der Türkei besondere Aufmerksamkeit. Das Erdoğan-Regime, das sich auf ein Bündnis aus der MHP und AKP stützt, als faschistoid zu bezeichnen, erscheint wenig abwegig angesichts der massiven Machtzentrierung in den Händen des Präsidenten. Seit dem Abbruch der Friedensverhandlungen zwischen der Arbeiterpartei Kurdistan (PKK) und dem türkischen Staat im Frühjahr 2015,17 spätestens aber mit dem gescheiterten Putschversuch im Sommer 2016, ist eine rapide Zentrierung aller Macht in der Türkei zu beobachten. Heute sehen wir uns in der Türkei mit gleichgeschalteten Medien, einer politisch gesteuerten Justiz, massiver Kapitalkonzentration im unmittelbaren Umfeld des Präsidenten und einem Parlament konfrontiert, das praktisch all seines Einflusses entledigt wurde. Mit der Einführung des Präsidialsystems kann Erdoğan nun auch auf den jahrelang andauernden Ausnahmezustand verzichten. Ein eigener Geheimdienst, das Regieren per Dekret am Parlament vorbei und viele weitere Rechte ermöglichen es ihm und seinen Unterstützern, die Türkei ganz nach ihren Vorstellungen zu lenken. Hinzu kommt eine stark von Militarismus, Nationalismus und frauenverachtender Polemik geprägte Stimmung im Land, die vom Regime in den letzten Jahren gezielt angeheizt wurde, um die Gesellschaft für die Kriegspolitik gegen die kurdische Bevölkerung in der Türkei, Nordsyrien und im Nordirak zu mobilisieren. Trotz dieser bedauerlichen Entwicklungen der letzten Jahre findet in der Türkei und insbesondere in den vorwiegend kurdischen Siedlungsgebieten im Südosten des Landes ein bemerkenswerter Protest statt. Regelmäßige Demonstrationen trotz Polizeigewalt, Streiks angesichts monatelang ausbleibender Lohnzahlungen, der Wahlkampf oppositioneller Parteien wie der Demokratischen Partei der Völker (HDP) und der gerade beendete Hungerstreik tausender politischer Gefangener in der Türkei für die Aufhebung der Isolation Abdullah Öcalans unterstreichen den Willen großer Teile der Bevölkerung, sich gegen die Autoritäten in der Türkei zur Wehr zu setzen. Auch die Aktivitäten der kurdischen Selbstverteidigungskräfte in der Südosttürkei und im Nordirak sind letztendlich verbunden mit den zuvor genannten Protestformen. Sie alle werden von dem Willen getragen, das autoritäre Erdoğan-Regime zu stürzen und einen Demokratisierungsprozess im gesamten Land einzuleiten, wie er bereits während der zweijährigen Friedensphase 2013–2015 von vielen Beobachtern erhofft worden war. Von den Hungerstreiks in den Gefängnissen über Demonstrationen in Istanbul bis zum Wahlkampf der HDP und anderer oppositioneller Parteien – sie alle als Teil eines gemeinsamen antifaschistischen Widerstandes in der Türkei zu verstehen –, dieser Blick ermöglicht ein realistisches Bild der derzeitigen politischen und gesellschaftlichen Dynamiken in der Türkei. Dieser Widerstand stellt das Erdoğan-Regime vor ernstzunehmende Probleme und gefährdet zunehmend sein Weiterbestehen. Angesichts der umfassenden Unterstützung der deutschen Bundesregierung für das autoritäre Regime in Form von ununterbrochenen Waffenlieferungen, Milliarden Euro im Rahmen des EU-Flüchtlingsdeals und pompösen Staatsempfängen in Berlin wird sich auch die deutsche Bundesregierung Sorgen um ihre politischen und wirtschaftlichen Investitionen in der Türkei machen müssen.

Der Preis »neuer deutscher Verantwortung«

In den oben genannten Partnerländern Deutschlands können wir heute bereits beobachten, was die politische Leitlinie »neuer deutscher Verantwortung« konkret bedeutet. Während die außenpolitischen Kreise der Bundesrepublik sich heute noch am Beginn einer neuen Phase des globalen Einflusses Deutschlands wähnen, sind die Folgen dieser Politik in diesen Ländern bereits deutlich zu spüren. Indem die Bundesregierung ihre Beziehungen zu Regimen, die ein klar undemokratisches Programm verfolgen, aufrechterhält bzw. gezielt ausbaut, lässt sie erkennen, was sie bereit ist für den Ausbau der eigenen weltweiten Macht zu zahlen. Den Preis dafür zahlt bereits heute die Bevölkerung der Türkei, Ägyptens, Sudans, Algeriens, Brasiliens oder der Ukraine ... Und auch die Gesellschaft in der Bundesrepublik wird die Folgen dieser Politik der deutschen Regierung in Form von anhaltenden Fluchtbewegungen, zunehmenden Investitionen ins Militär und der Diskreditierung kritischer Stimmen in Deutschland zu spüren bekommen. Die demokratischen Kreise in Deutschland sehen sich daher zunehmend vor der Herausforderung, wirksame Schritte zu unternehmen, um eine zunehmend militarisierte, aggressive und kompromisslose Außenpolitik des eigenen Landes zu verhindern. Denn es wird immer deutlicher, dass die außenpolitische Leitlinie »neuer deutscher Verantwortung« ein Werteproblem hat.

Praktischer Internationalismus gegen imperialistische Politik Deutschlands

»Länder wie die Türkei, Syrien oder der Irak, die Situation des kurdischen Volkes oder verfolgter religiöser Gruppen sind in deutschen Medien oder politischen Diskussionsveranstaltungen immer wieder Thema. Warum aber schaffen wir es nicht, eigene Ideen zu entwickeln und praktisch werden zu lassen, die Frieden, Demokratie und Freiheit im Mittleren Osten ermöglichen? Die Beantwortung dieser Frage führt zwangsläufig zu einigen selbstkritischen Eingeständnissen, zu denen wir als antikapitalistischen Kräfte in Deutschland bereit sein müssen. Denn noch immer überlassen wir das Feld der Mittelostpolitik den Vertreter*innen des deutschen Staates, anstatt eine Alternative zu entwickeln, die auf unserer eigenen Kraft fußt und sich klar von der Weltmachtpolitik Deutschlands abgrenzt.«18

Die Linke in Deutschland wird in Zukunft immer mehr mit der Frage konfrontiert werden, wie sie damit umgehen wird, dass die politischen Eliten ihres Landes unter dem Motto »Neue Macht – Neue Verantwortung« eine weltpolitische »Machtentfaltung« Deutschlands und der EU forcieren. Berlin bekennt sich ausdrücklich zu einem globalen Führungsanspruch und zu dessen Durchsetzung auch mit militärischen Mitteln. Gleichzeitig treibt Berlin sowohl die Aufrüstung der Bundeswehr wie auch die Militarisierung der EU entschlossen voran. Die deutschen Militäreinsätze in einem immer wieder als »Krisengürtel« rings um Europa bezeichneten Staatenring von Mali über Libyen und Syrien bis zum Irak nehmen zu. Hierbei passt die Debatte um »Deutsche Tornados zum Schutz von Rojava?«19 ins Bild.

Die demokratischen Kräfte in Deutschland werden eine selbstbewusste und unabhängige Politik – jenseits von Staat und Regierung – entwickeln müssen. In diesem Sinne bedeutet praktischer Internationalismus auch, sich mit den zentralen Problemen der Gesellschaften in den krisenbehafteten Regionen zu befassen, die sich vor allem um die Frage von Krieg und Frieden drehen. In diesem Sinne sind die noch am Anfang stehenden Diskussionen um eine Aktualisierung der Friedensbewegung, die auf die Fragen im 21. Jahrhundert Antworten entwickelt, begrüßenswert. Es macht in diesem Kontext Sinn den Austausch und die Zusammenarbeit mit der organisiertesten und erfahrensten demokratischen Kraft im Mittleren Osten zu suchen, der kurdischen Freiheitsbewegung.

Denn spätestens seit der völkerrechtswidrigen Besatzung der türkischen Armee im nordsyrischen Kanton Efrîn, wo der Einsatz deutscher Leopard-2-Panzer und Heckler&Koch-Gewehre dokumentiert wurde, haben weite Teile der Gesellschaft in Deutschland die Rolle der deutschen Außenpolitik als Kriegspartei gegen ein emanzipatorisches Projekt klar wahrgenommen. In diesem Sinne ist die Formel, dass eine neue Friedensbewegung internationalistisch ist, sich mit sardischen Anarchist*innen austauscht und die Fahnen der kurdischen Selbstverteidigung trägt20, während sich Erdoğan, auch mit deutschen Waffen, für einen Krieg gegen Rojava rüstet, sehr bedeutungsvoll. Eine breite Bewegung zur Verteidigung von Rojava – als einem Tatort deutscher Beihilfe für Krieg, aber auch als positivem Bezugspunkt für einen demokratischen Aufbruch mitten im Chaos21 – kann hierbei der Anfang einer eigenen Agenda linker Kräfte und der Beginn einer Antikriegsbewegung sein, die es schafft, die Wut vieler, ob kurdischer, türkischer oder deutscher Linker, auf die AKP-Diktatur, die Rojava vernichten will, mit der breit von der deutschen Öffentlichkeit geteilten Ablehnung von Waffenexporten und Erdoğan zu verbinden.

Fußnoten:

1 - https://www1.wdr.de/daserste/monitor/sendungen/schmusekurs-mit-erdogan-106.html

2 - https://www.deutschlandfunk.de/de-maiziere-ueber-die-beziehung-zur-tuerkei-wir-koennen-uns.868.de.html?dram:article_id=358976

3 - https://www.faz.net/aktuell/de-maiziere-ueber-tuerkei-wir-sollten-nicht-schiedsrichter-bei-den-menschenrechten-sein-14106945.html

4 - https://www.swp-berlin.org/publikation/neue-macht-neue-verantwortung-neue-aussenpolitik/

5 - https://www.spiegel.de/politik/ausland/aufstaende-im-sudan-und-in-algerien-nordafrika-rebelliert-europa-sieht-weg-a-1263961.html

6 - https://www.sueddeutsche.de/politik/sudan-general-ohne-gnade-1.4479762

7 - https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/7923/

8 - https://www.zeit.de/politik/2018-12/ruestungsindustrie-transportpanzer-algerien-produktion-rheinmetall und https://www.welt.de/wirtschaft/article193367965/Radpanzer-Boxer-Rheinmetall-baut-angeblich-Produktion-in-Algerien-auf.html

9 - https://www.tagesschau.de/ausland/merkel-algerien-101.html

10 - https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/7171/

11 - https://amerika21.de/analyse/220338/deutschland-brasilien-wirtschaftspartner

12 - https://anfdeutsch.com/hintergrund/warum-wir-erdogan-als-rechtsextrem-bezeichnen-sollten-10518

13 - https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/regionaleschwerpunkte/lateinamerika/maas-lateinamerikareise/2213786

14 - https://www.auswaertiges-amt.de/de/newsroom/maas-lateinamerikareise/2213858

15 - https://www.spiegel.de/wirtschaft/brasilien-richter-werfen-tuev-sued-versagen-vor-a-1269145.html

16 - https://www.amerika21.de/analyse/226851/neue-deutsche-lateinamerika-initiative#footnote6_fxncoy7

17 - http://civaka-azad.org/tuerkei-setzt-erneut-auf-totalisolation-oecalans-ende-des-loesungsprozesses/

18 - http://www.kurdistan-report.de/index.php/archiv/2019/67-kr-202-maerz-april-2019/820-selber-machen

19 - https://anfdeutsch.com/aktuelles/deutsche-tornados-zum-schutz-von-rojava-11725

20 - http://blog.interventionistische-linke.org/antikriegsbewegung/neue-kriege-alte-antworten

21 - http://tatortkurdistan.blogsport.de/2017/01/22/vom-tatort-kurdistan-zum-positiven-bezugspunkt-demokratischer-konfoederalismus/


 Kurdistan Report 204 | Juli/August 2019