Eine Geschichte über das Todesfasten im Gefängnis Diyarbakır

Das Leben zu lieben bis zum Tod

Fuat Kav, Aktivist, Journalist, Autor und Schriftsteller

Fuat KavGefängnisse spielen eine prägende Rolle in der Geschichte der Arbeiter*innenpartei Kurdistan (PKK). Kurz nach deren Gründung 1978 wurden im Zuge des Militärputsches 1980 in der Türkei tausende kurdische und türkische linke Revolutionär*innen inhaftiert, weshalb viele der existierenden Gruppen ihre Strukturen verloren. Unter den während des Militärputsches gefangen Genommenen waren Gründungsmitglieder der PKK. Einer von ihnen war Mazlum Doğan, der mit einer Aktion den Widerstand in den Gefängnissen eröffnete. An Newroz 1982 entzündete er drei Streichhölzer, legte sie auf den Tisch in seiner Zelle und nahm sich das Leben. Er hinterließ die Nachricht »Aufgeben ist Betrug, der Widerstand bringt den Sieg«. Mit den inhumanen Verhältnissen des Foltersystems im Gefängnis von Amed (Diyarbakır), wo die Insass*innen entsetzlichen Misshandlungen wie sexualisierter Gewalt, Vergewaltigung, Psychoterror, Prügel, Elektroschocks und dem Zwang ausgesetzt waren, Hundeexkremente zu essen, versuchte der Staat alle Überzeugungen von den Idealen, Träumen und Utopien der Gefangenen zu brechen. Doch der Widerstand im Gefängnis von Amed zog große Unterstützung nach sich und löste die endgültige Entscheidung der PKK aus, am 15. August 1984 den bewaffneten Kampf gegen den Staat aufzunehmen. Vier Gefangene folgten Mazlum Doğans Aktion: Ferhat Kurtay, Eşref Anyık, Necmi Önen und Mahmut Zengin zündeten sich aus Protest selbst an. Eine weitere Person, die im Gefängniswiderstand herausstach, war eine der weiblichen Mitbegründer*innen der PKK, Sakine Cansız, die von ihren Genoss*innen als »der Geist des Widerstandes im Amed-Gefängnis« beschrieben wurde und die zusammen mit Fidan Doğan und Leyla Şaylemez am 9. Januar 2013 in Paris ermordet wurde. Aus Angst vor den Auswirkungen des Todesfastens der Gefangenen, die die Wärter*innen, Gerichte und die Gesellschaft über die Gefängnismauern hinaus durch ihre politische Verteidigung vor Gericht und die Bildungsaktivitäten in den Zellen politisierten, griff der Staat zu drastischen Maßnahmen, um die Bedeutung der Aktionen herunterzuspielen.

Kemal Pir, der Protagonist des folgenden Textes, war ein türkischer Revolutionär aus der Schwarzmeerregion, einer der Mitbegründer der PKK. Unter der Führung der zentralen PKK-Mitglieder Kemal Pir, Hayri Durmuş, Akif Yılmaz und Ali Çiçek wurde am 14. Juli 1982 der Beginn des Todesfastens ausgerufen, um gegen die Verhältnisse im Gefängnis zu protestieren. Alle vier starben im Todesfasten, Pir im Alter von zwanzig Jahren am 55. Tag, nachdem er sein Augenlicht verloren hatte. Bis zum heutigen Tag wird er als Verkörperung des radikalen und internationalistischen Geistes der Bewegung und als Brücke zwischen den Kämpfen türkischer und kurdischer Menschen geehrt.

Der Autor der folgenden Geschichte, Fuat Kav, ist ein kurdischer politischer Aktivist und Autor. Er verbrachte 20 Jahre in türkischen Gefängnissen, davon 8 Jahre im berüchtigten Gefängnis von Amed. Er beteiligte sich am Widerstand und erfuhr dort unfassbare Formen der Grausamkeit. Sein lebendiges Gedächtnis ist eine der wenigen Quellen der verschwiegenen Geschichten, die sich hinter den Mauern türkischer Gefängnisse abspielten. Bis zum heutigen Tag wurden die Verbrechen an der Menschheit im Gefängnis Amed nicht zureichend untersucht oder offengelegt. Die Memoiren Fuat Kavs aus dem Gefängnis beruhen auf wahren Gegebenheiten und Unterhaltungen, ausgedrückt in literarischer Form wie in seiner Novelle »Mavi Ring«. Fuat Kav lebt heute im Exil in Europa. Er bereichert weiterhin das politische kurdische Leben mit seinen Kommentaren und mit seiner Weisheit als Journalist und Schriftsteller.

Kemal war eine Legende

Wie ein Ritter, der um sein Leben kämpft, setzte er seinen Widerstand gegen den Tod fort. Er hielt Moment für Moment stand, Zelle für Zelle. Auf seiner Türschwelle stand aber schon der Tod, er hatte das Ende seines physischen Lebens erreicht. »Ich muss der Erste sein, der stirbt. Ich muss der Erste sein, der seine Augen schließt«, sagte er in den ersten Tagen des Todesfastens. Er hielt sich daran. Doch nun war er umgeben von Dunkelheit. Ab einem bestimmten Punkt konnte er nur noch träumen. Von der Welt, den Sternen, der Sonne, dem Mond und dem Licht. Denn seine Augen hatten ihr Licht verloren. Das Lächeln in seinen feurigen Augen, das seine Freund*innen aufgeheitert hatte, existierte nicht mehr.

Kemal Pir vor Gericht in der Türkei

»Meine Augen sehen nicht mehr. Alles ist dunkel ... Wow! So ist die Welt der Blinden! Nun verstehe ich, wie grausam das Leben für sie sein muss«, sagte er eines Nachts plötzlich zu Hayri. Der sammelte all seine Kraft und fragte: »Kannst du gar nichts mehr sehen, Kamin?« »Nein, nichts. Vollkommene Dunkelheit ... Aber das ist nicht wichtig. Meine Tage sind sowieso gezählt. Ich will nicht, dass die Wärter*innen etwas mitbekommen. Sonst benutzen sie es gegen mich.« »Rede nicht so, Kemal. Wer weiß schon, wer zuerst gehen wird?« »Nein, ich muss der Erste sein, der stirbt. Mach dir keine Sorgen.« »Ich kann den Tod eines weiteren Freundes nicht ertragen, Kemal. So wie deine sind auch meine Tränen aus Blut. Dass Mazlum vor uns starb, dass unsere Freunde ihr Leben gaben, all dies hat Spuren in mir hinterlassen. Und jetzt ...« »Ich verstehe dich. Wir sind zusammen durch unfassbar schmerzvolle Tage gegangen. Mir ist die Verantwortung sehr bewusst. Dennoch sage ich, dass ich der Erste sein muss, der stirbt. Bitte verstehe mich, okay?« Nur durch einen Themenwechsel würde Hayri das Gespräch über Kemals unerträglichen Wunsch beenden können. Er versuchte es mit einer zusammenhanglosen Frage: »Kennt irgendjemand das Lied ›Ağlama yar ağlama/mavi yazma bağlama‹? Es ist ein wundervolles Lied. Ich könnte es immer hören, dieses wunderschöne Lied, das den Schmerz, die Einsamkeit und die Sehnsucht nach der eigenen Mutter ausdrückt. Es wäre so toll, wenn es jemand singen würde. Ist hier denn niemand, der es singen kann?«

Obwohl niemand da war, der das Lied singen konnte, musste es gesungen werden. Es war Hayris Wunsch. Aber niemand war talentiert genug. Es war, als hätten sich ausgerechnet nur diejenigen dem Todesfasten angeschlossen, die nicht singen konnten! Die einzige Person unter ihnen, die Lieder auswendig kannte, war Mustafa Karasu. Aber er kannte nur ein oder zwei Lieder. Weil es sich Hayri aber so sehr wünschte, versuchte er sein Bestes, seine Erinnerungsfetzen zusammenzusetzen. Eigentlich haben sogar alle das Lied an einem ihrer freien Abende gemeinsam gesungen gehabt, aber niemand konnte sich an den kompletten Text erinnern. Was also nun? Karasu war der Retter in der Not: »Na gut, lasst es uns alle zusammen versuchen«, sagte er. »Wenn wir im Chor singen, wird es klappen.« Gemeinsam sangen sie sogar das ganze Lied! Wenn jemand fragen würde, »wie« sie sangen, dann wäre die Antwort wohl »schrecklich«. Nach dem Lied verzichtete Karasu auf Kritik und sagte: »Die Hauptsache ist, dass wir gesungen haben, auch wenn das Lied nicht wiederzuerkennen war. Egal! Wir haben gesungen!« Hayri applaudierte dem Chor. »Ich habe mitgesungen«, sagte er. »Karasu, ich habe auch gesungen. Denk bloß nicht, du wärest der Einzige gewesen«, fuhr Kemal dazwischen. »Ich weiß nicht, Kemal. Um ehrlich zu sein, habe ich eure Stimmen gar nicht gehört. Ich habe keine Anzeichen eures Singens wahrgenommen.« »Auf was für Anzeichen hast du denn gewartet?« »Na, auf ein anständiges. Alle anderen Freunde, die gesungen haben, habe ich wahrgenommen, aber bei euch bin ich mir nicht sicher.« »Wenn du es nicht gehört hast, dann hat das etwas mit dir zu tun. Ich werde es nicht hinnehmen, dass du meine Hingabe abstreitest.« »Na gut. Dieses Mal werde ich genauer zuhören.« »Kennst du das Lied ›Eşkıya dünyaya hükümdar olmaz‹ [The bandit cannot rule the world], Karasu?« »Nein, beziehungsweise kann ich mich nicht an den ganzen Text erinnern. Aber ich bin mir sicher, dass wir es im Chor singen können.« »Okay, dann lasst es uns singen. Auch ich werde singen, sag mir nur nicht, du hättest wieder kein ›Anzeichen‹ vernommen, ja?« »Ist ja gut. Ich werde jetzt richtig zuhören. Mal sehen.« Der »Chor« hat so gesungen, wie Kemal es sich vorgestellt hatte. Während des Refrains wurde Kemals unverwechselbare Stimme lauter. Er hatte die tiefste von allen und weil er so laut sang, hörte es sich fantastisch an. Seine prächtige, tiefe Stimme hallte in der Zelle wider. Es war Karasu unmöglich, sie nicht zu bemerken. »Hast du die Anzeichen dieses Mal vernommen, Karasu?«, fragte Kemal nach dem Lied. »Ja, das habe ich. Ein großes sogar, lieber Kemal. Vielleicht akzeptieren wir dich nun in unserem Chor, ha!« Er war wirklich beeindruckt von Kemals Stimme. »Du hast ›vielleicht‹ gesagt, habe ich das richtig gehört?« »Nein, nein. Nicht ›vielleicht‹. Ich berichtige mich. Wir akzeptieren dich.« »Na gut, Karasu. Ich muss mich ein wenig ausruhen.« »Ruh dich aus, Kemal. Ich werde es auch tun. Wir haben nicht darüber geredet, welcher Tag heute ist, wo wir sind, wo wir hingegangen sind, was wir auf unserer Reise gesehen haben und ob wir heute gegen Faschist*innen gekämpft haben, Genosse Kemal.« »Stimmt! Heute ist der 47. Tag unserer Aktion. Das heißt, wir sind in Mêrdin. Ich muss gestehen, dass ich Mêrdin wirklich sehr liebe, eine der dynamischsten, historischsten und multikulturellsten Städte Kurdistans, ein wahrhaft farbenfrohes Mosaik aus Menschen. Heute habe ich ihre historischen Stätten besucht, bin hoch zur Festung gegangen und habe fasziniert ihre Architektur untersucht. Leider konnte ich keine Faschist*innen finden, denn in Mêrdin gibt es keine. Aber ich muss zugeben, dass ich mit einigen Sozialchauvinist*innen diskutiert habe.« »Ich lief einfach still durch die Gegend. Wurde ich müde, ging ich zur Festung hinauf. Dort verkauften mir die Kinder etwas Wasser. Für einen Moment konnte ich nicht anders, als an all die Eroberer zu denken, die diese Stadt im Verlauf der Geschichte eingenommen haben. Als ich über all die Tyrannen, Despoten und die Scharfrichter nachdachte, die die Stadt mehrere Male niedergebrannt und zerstört haben müssen, kamen mir die heutigen Unterdrücker in den Sinn. Unterscheiden sie sich von den früheren? Kemal, hörst du mir zu ...?«

Kemal war eingeschlafen. Er wanderte tief in den unvorstellbarsten Räumen. Seine Schwäche, begründet in seinem Hunger, in Durst und Erschöpfung, führte ihn dorthin. Sein Körper konnte die Situation nicht verkraften. Er hatte sein Augenlicht und seine Energie verloren. Sein Bewusstsein kam und ging. Weil seine Augen blind waren, zündete er oft die Filterseite seiner Zigarette an. Manchmal wurde er ganz still, aber meistens sprach er. Er sprach ohne Pause. Die Versuche der Ärzt*innen und der Wächter*innen, die Gefangenen zur Aufgabe zu bringen, brachten ihn zur Weißglut; er schrie, manchmal fluchte er sogar. Der Gefängnisarzt Orhan Özcanlı versuchte Kemal mit aller Kraft davon zu überzeugen, die Aktion zu beenden.

»Passen Sie auf, Kemal. Sie sterben, der Tod kommt Ihnen Schritt für Schritt näher. Denken Sie nur daran, Ihr Leben neigt sich dem Ende zu. Sie sind kurz davor, diese Welt zu verlassen. Geben Sie diese Sache auf. Das führt doch zu nichts ...« »Doktor, sehen Sie mich ganz genau an und hören Sie mir gut zu! Meißeln Sie sich meine Worte in den Schädel. Ich habe diese Sache ganz bewusst begonnen. Ich weiß, dass mich der Tod am Ende dieses Weges erwartet. Ich bin am Ende dieses Weges angekommen. Ich kann die Anwesenheit des Todes und seiner Henker spüren. Ich höre ihren Atem.« »Das Leben ist schön, Kemal. Sie sollten das Leben lieben. Obwohl Menschen sterblich sind, wollen sie in dieser Welt leben und deshalb fürchten sie den Tod. Es ist also eine Lüge zu behaupten, Sie hätten keine Angst vor dem Tod. Selbst die Tapfersten und Mutigsten erzittern vor ihm. Und weil auch Sie ein Mensch sind, lebt diese Angst gewiss auch in Ihnen. Noch kann ich Sie retten, selbst in Ihrer Verfassung ...« »Was glauben Sie, wer ich bin, Doktor? Sie haben es noch immer nicht geschafft, mich kennenzulernen? Ich bin Kemal Pir. Ich will nicht angeben, aber ich habe meine Augen an den Ufern des Schwarzen Meeres geöffnet. Mit den Werten dieser Region habe ich über das Leben in der reinsten, stichhaltigsten Form unter den aufrichtigsten Menschen gelernt, die zwischen wahrer Freundschaft und Feindschaft unterscheiden können. Ich bin Kemal Pir, der bis zum heutigen Tag Menschen aus 72 Nationen Anatoliens getroffen und sein Leben der Freiheit der kurdischen Menschen gewidmet hat. Habe ich mich klar genug ausgedrückt?« »Ja, das haben Sie, aber ...«

»Es gibt kein ›aber‹ in dieser Angelegenheit, Doktor. Ich habe mich Ihnen so vorgestellt, wie ich bin, ohne Übertreibungen oder Lügen, auf eine ehrliche Art und Weise, in einer schlichten Sprache. Wenn Sie nun immer noch ›aber‹ sagen, dann ist das Ihr Problem.« »Aber das Leben verläuft anders, Kemal. Wie auch immer Sie sich beschreiben, niemand kann sich vor den immer gleichen Gedanken im Angesicht des Todes verbergen. Die Angst vor dem Tod ist ein furchterregendes Gefühl. Es erzeugt ein Erdbeben an Emotionen, das dich in jedwede Gestalt oder Form bringen kann. Dieses Erdbeben nimmt dir womöglich deine Menschlichkeit.« »Endlich bringen Sie etwas Wahres über ihre Lippen.« »Was soll das bedeuten?« »Ist es denn nicht verständlich?« »Ich spreche vom Leben und der Angst. Ich behaupte, dass jeder Mensch im Angesicht des Todes gleich reagiert. Jeder fürchtet ihn. Wer auch immer auf den Tod trifft, zittert, als habe er Fieber. Selbst wenn diese Person Kemal Pir ist.« »Sehen Sie, Doktor. Ich bin mir der Bedeutung des Lebens und des Todes durchaus bewusst. Ich weiß ganz genau, wer Angst vor dem Tod hat und wer vor ihm zittert, wenn er auf ihn trifft. Ich weiß auch, dass unser Leben endlich ist, und ich kenne die Idee des Himmels und der Hölle im Jenseits. Für Sie und Ihresgleichen sind solche Sachen fremd. Sie verstehen es nicht und wenn doch, dann verhalten Sie sich so, als würden sie es nicht verstehen. Soll ich Ihnen noch etwas sagen, Doktor?« »Bitte.« »Ich liebe das Leben so sehr, dass ich bereit bin, dafür zu sterben. Sehen Sie, Sie können es bezeugen. Sie werden es mit eigenen Augen sehen, wie ich um des Lebens willen sterben werde, wie ich mein Leben gebe, ohne zu blinzeln, wie ich mich an das Leben klammere durch den Tod ...«

»Sie werden umsonst sterben, Kemal, für nichts. Sie werden durch den Tod nichts erreichen. Sie müssen leben, um die Ziele erreichen zu können, welche Sie auch immer haben. Ansonsten wird niemand Ihren Weg einschlagen. Es ist eine vorübergehende, unnütze Fantasie zu träumen, man sei ein ›Held‹. Ich finde es weder richtig noch bedeutsam. Ob Menschen nach ihrem Tod zu Helden werden, welche Statuen in ihrem Namen errichtet, Bücher geschrieben oder Filme produziert wurden, hat keine Bedeutung für mich. Wenn Sie tot sind, sind Sie tot.« »Sie glauben ohnehin an nichts. Sie sind eine Person ohne Sinn, die nicht über die Zukunft nachdenkt. Jemand, der das Leben ablehnt, der den Kindern der Zukunft nichts zu bieten hat. Das ist der Grund, warum Sie alles anhand ihrer gegenwärtigen Relevanz und der materiellen Welt betrachten. Sie denken, dass das Vergangene vergangen ist und dass sich nur diejenigen mit der Zukunft auseinanderzusetzen brauchen, die sie auch erleben werden. ›Lebe, denke und gestalte die Gegenwart.‹ Deshalb können Sie Heldentum und Mut nicht verstehen.« »Ich bin mir immer noch sicher, dass nicht eine einzige Person in der Zukunft nach Ihnen fragen, Ihre Statue errichten, Bücher über Sie schreiben oder Filme über Sie drehen wird. Niemand wird an Sie denken und sagen ›Es war einmal ein mutiger Mann vom Schwarzen Meer, der sein Leben für uns im Todesfasten gab‹. Eine winzige Gruppe wird vielleicht Ihren Namen feiern, um Zeit totzuschlagen, aber Sie werden niemals ein Held sein, der irgendetwas zu irgendeiner Nation beigetragen oder etwas für irgendwelche Menschen beigetragen hat. Merke Dir meine Worte, Kemal.« »Warum erwähnen Sie immer wieder das Heldentum oder das Vermächtnis meines Namens? Kann ein Mensch nicht einfach seine sozialen und historischen Pflichten erfüllen? Warum brauchen Sie etwas als Gegenleistung?« »Wir reden über ein sehr ernstes Thema, über den Tod, Kemal. Natürlich sollte es eine Gegenleistung geben. Sie sterben, also sterben Sie wenigstens als Held. Wenigstens Ihr Name sollte erinnert, Bücher in Ihrem Namen sollten geschrieben werden.« »Die Dinge, die Sie erwähnen, solche Titel sollten nicht so viel bedeuten. Was zählt, sind die Pflicht und die Verantwortung. Zu denken, es sollte eine Belohnung für alles geben, ist bizarr. Es ist der Ausdruck eines inneren Zustands des Selbstverlustes und der Entfremdung von der eigenen Realität, der Seele und der Staatsräson.«

»Ich beharre auf der Frage, wofür genau Sie sterben? Für ein leeres Ziel. Sie werden ganz umsonst sterben, ein verschwendetes Leben. Ich kenne den Staat sehr gut und deshalb sage ich Ihnen, dass er sich nicht an Sie richten wird. Selbst wenn Sie alle sterben werden, selbst wenn jeder Einzelne von Ihnen diesen Ort in einem Sarg verlässt, wird unser großartiger Staat Sie nicht ernst nehmen. Merken Sie sich das.« »Wir haben schon so lange über solch unerträgliche Dinge diskutiert. Aber Sie bleiben zäh und dickköpfig. Sie sind kein Arzt, wahrscheinlich haben Sie nicht einmal die medizinische Fakultät besucht. Sie könnten eher Schlachter, Henker, ein Mörder oder ein Monster sein. Es ist unmöglich, dass Sie ein Arzt sind.« »Sie beleidigen mich, Kemal. Wir diskutieren, wir reden miteinander und manchmal streiten wir uns. Aber beleidigen sollten wir uns niemals.« »All Ihre Worte sind beleidigend. Es ist unmöglich, über irgendetwas mit Ihnen zu diskutieren. Eine Person sollte wenigstens die Fähigkeit haben, wie ein menschliches Wesen zu sprechen und zu diskutieren.« »Was auch immer geschieht: Sie sollten mich nie beleidigen.« »Wenn Sie in dieser Art und Weise reden, werde ich Sie nicht nur beleidigen. Hätte ich die Kraft, würde ich Sie angreifen. Seien Sie sich dessen gewiss.« »Meine Intention war es nie, jemanden zu beleidigen und ihm Unrecht zu tun, der sich in den Händen des Todesengels befindet. Sie werden so oder so sterben. Sie befinden sich auf Ihrer letzten Reise. Sie verabschieden sich ohnehin vom Leben.« »So reden Sie mit einem Menschen, der für seine Ideale stirbt? Passt das zu einem Arzt?« »Ich kann Sie retten, Sie behandeln und Sie in ihren ursprünglichen Zustand bringen. Kehren Sie um, bevor es zu spät ist, Kemal.« »Ich sterbe für meine Ansichten. Deshalb ist mein Tod auch nicht vergeblich. Ich habe mein Leben der Menschheit gewidmet. Ich sterbe für die Menschheit. Ich bin den kurdischen Menschen verpflichtet. Das ist eine weitere ganz spezielle Dimension meines Kampfes, meines Widerstandes. Aber Sie werden es nie verstehen!« »Gut. Ich habe Ihnen meine Hilfe angeboten, ich bin frei von jeder Schuld. Selbst wenn Sie mich nun anbetteln würden: Von nun an werde ich Sie nicht mehr retten! Ich weiß ohnehin von all den Dingen, die Sie im Geheimen tun ...«

Die anderen Gefangenen, die das Gespräch mitverfolgt hatten, wollten sich einmischen, gaben die Versuche dann aber doch auf. Die Anschuldigungen des Arztes, sie würden heimlich essen, bestürzte sie. Die Unbarmherzigkeit konnten sie ertragen, aber das ging zu weit. Ob so etwas wohl auch an anderen Orten der Welt passierte? Vom Feind würde man sich zumindest ein wenig Respekt vor denjenigen erwarten, die den Tod zur Verteidigung ihrer Ideale wählen. Dies allerdings war der ultimative Schlag gegen die Menschenwürde. »Sehen Sie mich an, Doktor!« »Ja, Kemal, ich sehe Sie an. Was ist denn? Was haben Sie zu sagen?« »Meinen Sie, ich hätte heimlich gegessen? Ach, was soll´s, Sie sind sowieso eine ehrlose Person. Doktor, in ein paar Tagen werden Sie sehen, dass ich nichts gegessen habe.« »Wie auch immer, Kemal. Wenn Sie das Fasten beenden wollen, werde ich Sie ins Krankenhaus bringen. Aber vergessen Sie nicht, dass dafür eine Gegenleistung fällig wird.« »Verschwinden Sie! Ihr Scharfrichter, selbst sein Vorgesetzter und ihr Handlanger eines Generals konnten mich nicht auf die Knie zwingen. Aber Sie glauben, dass sie es könnten?! Verschwinden Sie jetzt. Ich will Sie nicht sehen!«


 Kurdistan Report 201 | Januar/Februar 2019