Interview zur Lage in Südkurdistan

Fehlverhalten und Misswirtschaft

Seyit Evran, Journalist in Silêmanî und Hewlêr, im Gespräch mit dem Kurdistan Report

Demonstration in Silêmanî für die Aufhebung der Blockade gegen RojavaWie würdest du die Situation der Gesellschaft in Südkurdistan nach dem Unabhängigkeitsreferendum vom vergangenen Jahr und dem traumatischen Verlust von Kerkûk und den anderen umstrittenen Gebieten beschreiben?

Der Angriff der irakischen Armee und der Al-Haschd-asch-Scha‘bi-Milizen auf Diyala, Mendeli, Xaneqîn, Xurmatu, Dohuk und Kerkûk (Kirkuk) am 17. Oktober nach dem Unabhängigkeitsreferendum hat die südkurdische Gesellschaft äußerst negativ beeinflusst. Die übernommenen Regionen sind kurdische Gebiete. Der irakischen Verfassung vom Jahr 2005 zufolge wurden sie als »umstrittene Gebiete« definiert und es war vorgesehen, nach zwei Jahren mithilfe eines Referendums ihre Zugehörigkeit zu klären. Dieses Referendum wurde aber nicht durchgeführt. Sowohl die kurdische Regionalregierung als auch die irakische Zentralregierung haben sich nicht dafür eingesetzt. Denn keine der beiden Seiten hat akzeptiert, dass diese Gebiete für sich selbst eine Entscheidung treffen. Beide erheben Anspruch auf die Gebiete. Nach den Angriffen des Islamischen Staates (IS) auf Mûsil (Mosul), Şengal (Sindschar), Tel Afar und Tikrit im Jahr 2014 geriet die Verwaltung der Region de facto unter die Kontrolle der kurdischen Regionalregierung, ebenso wie alle Ölgebiete. Die Regionalregierung der PDK (Demokratische Partei Kurdistans) hat infolge einer Vereinbarung mit der AKP und Erdoğan das Öl in die Türkei exportiert. Die Moral der Bevölkerung der Region war nach dem von hohen PDK-Funktionären angeordneten Rückzug der Peşmerge aus Şengal gebrochen. Nachdem es auch in Kerkûk einen Rückzug gab, haben sie ihr Vertrauen in die PDK und die YNK (Patriotische Union Kurdistans) vollständig verloren. Nach der Übergabe Kerkûks und der umstrittenen Gebiete an die Zentralregierung machten sich PDK und YNK gegenseitig dafür verantwortlich, Kerkûk und die Gebiete verkauft zu haben. Doch die Übergabe bzw. der Rückzug war zwei Tage zuvor, also am 15. Oktober, auf einer Sitzung im Bezirk Dukkan in Silêmanî (Sulaimaniyya) beschlossen worden, an der auch Mesûd Barzanî teilgenommen hatte. Beide Parteien waren sich bei dem Thema einig. Doch trotzdem schoben sie aufgrund des merklichen Vertrauensverlustes die Schuld auf die anderen, um die Gesellschaft weiter abhängig von sich zu machen. Die Gesellschaft vertritt die Ansicht, PDK und YNK hätten mit der Entscheidung auf der Dukkan-Sitzung Verrat begangen. Es heißt, PDK und YNK hätten sie für ihren eigenen Machterhalt und ihre eigenen Interessen verkauft. So geht es allen Menschen in Südkurdistan. Denn auch wenn die Regionen als umstrittene Gebiete bezeichnet werden, werden sie von der südkurdischen Gesellschaft als kurdische Gebiete betrachtet, für die sie viele Opfer gebracht haben. Aus all diesen Gründen sehen sie nur noch die PKK und ihre Guerilla als Hoffnungsschimmer. Da die PKK und ihre Guerilla sowohl in Şengal als auch in Südkurdistan während der Angriffe des IS die Gebiete verteidigten und während der Angriffe auf Kerkûk und die umstrittenen Gebiete Widerstand leisteten, haben sie bei den Menschen Vertrauen gewonnen.

Praktisch besteht die Autonome Region Kurdistan aus zwei Polen bzw. Gebieten. Was sind die historischen Gründe für diese Konkurrenz und Differenzierung zwischen PDK und YNK?

Im Jahr 1942 entstand in Ostkurdistan eine politische Organisation namens »Komelay Jiyanewey Kurd« mit einer ernstzunehmenden politischen Praxis. Diese Organisation, abgekürzt »Komel« oder »Jekaf«, organisierte sich nicht nur in Ostkurdistan, sondern nahm auch Beziehungen zu politischen Strukturen und Persönlichkeiten aus den anderen Teilen Kurdistans auf. Ibrahim Ahmed baute in Silêmanî in Südkurdistan einen Ableger auf, der seinen Einfluss über die ganze südkurdische Region ausbreitete. Ibrahim Ahmed wurde der Südkurdistan-Verantwortliche von Jekaf. An seiner Seite stand auch ein gewisser Hamza Abdullah aus Wan (Van), geboren während des Ersten Weltkriegs in Elbak (Başkale). Sein Vater war Offizier der osmanischen Armee und starb im Krieg. Der Rest seiner Familie wanderte nach Südkurdistan aus. Hamza Abdullah begann seine Schulausbildung und trug sich in die Rechtsfakultät ein. Dort machte er die Bekanntschaft des gleichaltrigen Ibrahim Ahmed. Beide studierten in der Rechtsfakultät und wurden Anwälte. Beide schlossen sich der Republik von Mahabad an.

Hamza Abdullah lernte während der Zeit der Republik von Mahabad Mustafa Barzanî kennen und kehrte nach Südkurdistan zurück, um die PDK zu gründen. Er war eine der kurdischen Persönlichkeiten, die sich der von Rafiq Hilmi gegründeten kurdischen Hīwā-Partei anschlossen. Nach deren Spaltung aufgrund interner Konflikte entstanden die Gruppen Rizgarî und Şoreş. Hamza Abdullah kehrte auf Wunsch von Mustafa Barzanî nach Südkurdistan zurück und führte die beiden Gruppen zur »Partiya Demokrata Kurdistanê« (PDK) zusammen. Am 16. August 1946 wurde durch seine Bemühungen der Gründungskongress der »Demokratischen Partei Kurdistans« abgehalten. Mustafa Barzanî wurde Parteivorsitzender und Hamza Abdullah sein Sekretär. Nach dem Ende der Republik von Mahabad schloss sich Ibrahim Ahmed 1947 der PDK an.

Hamza Abdullah war eine kurdische Persönlichkeit, die an den Kommunismus glaubte. Aufgrund seiner politischen und ideologischen Überzeugungen stand er der Kommunistischen Partei des Irak sehr nahe. Ibrahim Ahmed repräsentierte innerhalb der PDK mehr den »nationalen Flügel«. Im Jahr 1948 begann die irakische Regierung mit breit angelegten Operationen und Festnahmen gegen die Kommunistische Partei des Irak. Die PDK war auch betroffen. Außer Hamza Abdullah wurden die meisten aus dem Zentrum der PDK, darunter auch Ibrahim Ahmed, festgenommen oder waren gezwungen, das Land zu verlassen. Ibrahim Ahmed blieb zwei Jahre inhaftiert. Im Jahr 1950 wurde auch Hamza Abdullah festgenommen. Die zentrale Struktur der PDK wurde vollständig liquidiert.

Nach einer gewissen Zeit wurde Hamza Abdullah freigelassen und von der irakischen Regierung an die Türkei ausgeliefert. Er schaffte es jedoch, nach Südkurdistan zu fliehen und illegal in Mûsil zu leben. Während seines illegalen Aufenthalts dort schrieb er sein zu der Zeit berühmtestes Buch »Şoreşa Barzan«. Er war damals einer der kreativsten Schriftsteller in Südkurdistan.

Auf dem ersten Kongress der PDK in Bagdad am 16. August 1946 wurde Hamza Abdullah zum Parteisekretär gewählt, auf dem Kongress 1951 Ibrahim Ahmed. Der war zu der Zeit frisch aus dem Gefängnis entlassen. Hamza Abdullah akzeptierte diese Entscheidung nicht und gründete den »progressiven Flügel« der Partei. Auf dem dritten Kongress in Kerkûk 1953 wurde Ibrahim Ahmed als Generalsekretär gewählt. Doch die Konflikte zwischen dem »progressiven Flügel« Abdullahs und dem »nationalen Flügel« Ahmeds hielten weiter an. Trotz der Widersprüche waren beide miteinander verwandt. Die Tochter der Schwester Hamza Abdullahs namens Gelawej Han heiratete Ibrahim Ahmed und dessen Schwester war mit Hamza Abdullah verheiratet.

Mustafa Barzanî wurde trotz der Konflikte zwischen den beiden auf ihren Vorschlag hin zum Vorsitzenden der PDK berufen. Doch die Konflikte wurden nun von ihm weitergeführt. Ibrahim Ahmed und sein Schwiegersohn Celal Talabanî verließen aufgrund von Konflikten in der PDK die Partei und begannen die YNK zu gründen. Celal Talabanî, Ibrahim Ahmed und vier weitere Personen wurden unter dem Vorwurf, die PDK spalten zu wollen, von dieser festgesetzt und in der Nähe der Berge Karox und Boti bei Diyana in Silêmanî festgehalten. Sie schafften es zu fliehen und gründeten im Jahr 1975 die YNK. Sie hatten bereits im Jahr 1966 mit dem Gedanken gespielt gehabt, die Partei zu verlassen. Deshalb nennt die PDK heute die YNK »Cehşê 66«.

Diese Spaltung verstärkte sich im Jahr 1978 noch. Der Vorsitzende der Sozialisten Eli Eskeri und seine Freunde, die Teil der YNK waren, wurden durch die Mitschuld der PDK bei dem Versuch vernichtet, mit 700 Peşmerge über Şemzînan (Şemdinli) nach Rojava zu gelangen [vgl. Artikel über Qendîl S. 13]. Das hat die Widersprüche zwischen den beiden Parteien noch weiter vertieft. Dazu kam noch der Faktor Türkei und Iran. Denn die PDK hat immer eine Politik verfolgt, die sich an der Türkei orientierte, die YNK hingegen hat sich mehr an den Iran gehalten. Die Konflikte zwischen dem Iran und der Türkei wirkten sich auf die Beziehung der beiden Parteien aus. Deshalb verfolgt die YNK sogar heute noch eine Iran-nahe Politik, während sich die PDK schon fast der Türkei ergeben hat. Diese Konstellation wird auch ganz klar mit der Öffnung des Flughafens von Hewlêr (Erbil) durch die Türkei, aber der Schließung des Flughafens in Silêmanî demonstriert. Darüber hinaus ist Südkurdistan zweigeteilt. Im Sprachgebrauch der Parteien drückt sich dies als »gelbes Gebiet« der PDK und »grünes Gebiet« der YNK aus. Diese historisch sehr tief liegenden Widersprüche beeinflussen auch den Befreiungskampf in den vier Teilen Kurdistans und vor allem in Südkurdistan. Insbesondere der stark von Familien- und Stammeswerten geprägte Ansatz der PDK beeinträchtigt den Freiheitskampf.

Während des Regimes von Saddam Hussein wurde ein Genozid u. a. an der kurdischen Gesellschaft verübt. Die Anfal-Operationen sind das konkrete Beispiel. Wie leben die Menschen damit? Gibt es eine Aufarbeitung dieser historischen Ereignisse? Gibt es Bemühungen zur Verständigung mit der arabischen Gesellschaft?

Es gab hintereinander vier Anfal-Operationen [Anfal = Beute]. Einigen Quellen zufolge sollen dabei 185.000, nach anderen 210.000 Kurden ermordet worden sein. Die Leichen all dieser Menschen wurden nicht gefunden. Es gab nicht nur Massaker im Zuge der Anfal-Operationen. Tausende Kurden wurden in Kurdistan in Saddams Folterzentren gefoltert. Tausende wurden gehängt, hunderte exekutiert. Die Schmerzen der südkurdischen Gesellschaft sind immer noch frisch. Diese Massaker haben die Menschen niemals vergessen. In jedem Haus hängen Porträts von Anfal-Getöteten. In Südkurdistan wird dieser Massaker immer wieder gedacht. Bei Entscheidungen der Regionalregierung, die nicht zum Wohle der Gesellschaft sind, gibt es immer eine Reaktion: »Haben wir diese Schmerzen umsonst erlebt? Wir mussten die Opfer bringen.« Die südkurdische Gesellschaft lebt tagtäglich mit diesen Schmerzen. Leider nutzt sie die südkurdische Regierung nur in ihrem eigenen Machtinteresse. Deshalb kommen von den Menschen Reaktionen gegen die südkurdische Regierung wie auch zu den Tätern der Massaker. Sie wissen, dass Saddam Hussein der Schuldige war. Deshalb sind die Wut und die Reaktionen mehr auf Saddam Hussein gerichtet als gegen die arabische Gesellschaft. Doch die Regionalregierung verfolgt eine Politik, die südkurdische Gesellschaft und die Araber zu entzweien. Natürlich nicht im ganzen in Hewlêr und Silêmanî geteilten Südkurdistan. Hewlêr zielt auf Reaktionen gegen die Araber ab. Beispielsweise illustriert die Frage bei Sicherheitskontrollen der PDK, ob es im Auto Araber gebe, den Umgang klar und deutlich. Wenn es einen Araber im Auto gibt, werden alle Insassen aufgefordert auszusteigen, und nach einer gründlichen Durchsuchung wird entweder die Erlaubnis für Hewlêr erteilt oder man wird zurückgewiesen. Damit will man Vorbehalte gegen Araber fördern. Die Menschen in Südkurdistan gehen nicht besonders auf diese Politik ein. Sie sind bereit, in Frieden geschwisterlich mit den Arabern zu leben. Sie wissen, dass eher der Diktator Saddam Hussein für die Massaker verantwortlich ist als die arabische Gesellschaft. Doch es herrscht eine große Wut auf die wirklichen Täter. Wenn sich auch die Politik der Regierenden nach dieser Haltung der Menschen richten würde, dann könnte in kürzester Zeit Frieden zwischen den Volksgruppen erreicht werden. Doch leider ist ein Teil der Regionalregierung dazu nicht bereit und das hemmt eine Aufarbeitung.

Es herrscht gegenwärtig eine ernsthafte Krise in der Autonomen Region Kurdistan. Welche wirtschaftliche Entwicklung hat die sich autonom von Bagdad organisierende Region gemacht? Was für eine wirtschaftliche Rolle spielen der Iran und die Türkei mit ihrem Ölgeschäft und ihrer Eigenproduktion?

Am 5. März 1991 begann in Kaladizê und Ranya bei Silêmanî ein Volksaufstand. Das Saddam-Regime wurde aus der Region vertrieben. Später hat die PDK die Armee Saddams nach Kurdistan gerufen, um an die Gebiete der YNK heranzukommen, und mit ihrer Unterstützung auch einige davon übernommen. Bereits im Jahr 1958 ist Südkurdistan mit der Ankunft von Abd al-Karim Qasim eine autonome Region. Nach der Schließung des Luftraums von Südkurdistan durch die USA 1991 wurde die Region offiziell anerkannt und seitdem wird sie autonom verwaltet. Mit der US-Intervention 2003 und der 2005 verabschiedeten irakischen Verfassung wurde die Region als föderales Gebiet anerkannt. Seit 1993 handelt die Regionalregierung mit der Türkei und dem Iran mit Erdöl. Da sich die Wirtschaft von Anfang an auf Öl stützt, hat es keine Industrialisierung in der Region gegeben. Deshalb kann man die Bedürfnisse der Menschen nicht eigenständig befriedigen. Jeder Bedarf, vor allem Lebensmittel, wird komplett aus der Türkei und dem Iran importiert. In der Region gibt es circa 6000 Firmen aus der Türkei für Bau, Lebensmittel, Kleidung und Industrie. Das zeigt uns in gewisser Weise den Grad wirtschaftlicher Kolonialisierung. Deshalb ist man als Autonome Region Kurdistan nun von der Türkei und dem Iran abhängig. Wenn die ihre Grenzen schließen würden, dann würde eine ernsthafte Krise in Südkurdistan ausbrechen. Darum hat der türkische Staatspräsident Erdoğan nach dem Referendum Drohungen ausgestoßen wie die, die Grenzen schließen und die Menschen hungern zu lassen.

Das Leben auf dem Land ist in der Autonomen Region Kurdistan fast zum Erliegen gekommen. Insbesondere seit 2003 ist ein unaufhörlicher Strom von Menschen in die Städte zu verzeichnen. Was für Auswirkungen hat das auf das soziale und kulturelle Leben der Gesellschaft?

Diese Entwicklung hängt mit der Wirtschafts- und Sozialpolitik der Regionalregierung zusammen. PDK und YNK haben eine Politik verfolgt, die Menschen aus dem ländlichen Raum in die Städte zu bringen. Vor 2003 lebte in Südkurdistan eine Mehrheit der Bevölkerung auf dem Land. Sie betrieb Landwirtschaft und Tierhaltung. Insbesondere nach 2003 wurde die Gesellschaft an einen knappen Lohn gebunden und Landwirtschaft und Tierhaltung wurden zum Erliegen gebracht. Darüber hinaus wurde ab 2003 in den unter US-Einfluss stehenden Gebieten eine Politik verfolgt, das städtische Leben attraktiv zu machen. Das ist im Grunde ein kultureller Genozid. Denn gesellschaftliches Leben findet vorwiegend auf dem Land statt. Dort konnte die eigene Kultur geschützt werden. Die Gesellschaft hat in den Städten das moderne Leben kennengelernt und es begann eine Entfremdung von der gesellschaftlichen Kultur und dem Leben. Denn das Leben in den südkurdischen Städten ist vollständig von der europäischen Moderne geprägt. Damit einher geht eine gesellschaftliche und kulturelle Entfremdung und Landwirtschaft und Tierhaltung liegen brach. Beispielsweise reichte der Reis aus Silêmanî und Umgebung früher für den ganzen Irak. Nun wird Reis komplett importiert. Das zeigt im Grunde den Schlag der Regionalregierung gegen die ländliche Gesellschaft und Landwirtschaft.


 Kurdistan Report 199 | September/Oktober 2018