Über die Entwicklungen in der Türkei
Die AKP im Zwang die Macht zu halten
Rıza Altun, Mitbegründer der PKK und Exekutivratsmitglied der KCK, im Interview mit Esra Mikyaz, Journalistin
Wie bewerten Sie die politische Landschaft in der Türkei im Kontext des anhaltenden Ausnahmezustandes, der Parlaments- und Präsidentschaftswahlen und der damit verbundenen Besatzungsoperation im Nordirak?
Die heutige Situation in der Türkei ist von einem Konzept bestimmt, das mit den Wahlen vom 7. Juni 2015 und 1. November 2015 begonnen wurde, umgesetzt zu werden. Es hat zum einen die Machtstellung von Erdoğan stabilisiert, zum anderen aber auch geschwächt. Wir haben diese Phase ab 2015 alle miterlebt; die Neuwahlen am 1. November 2015, die offene Verkündung der Feindschaft gegen die Kurden und die damit verbundenen Operationen und Massaker in den kurdischen Gebieten, die Ausdehnung dieser Politik auch über die Türkei hinaus, die Operation gegen Efrîn, die auf ganz Rojava abzielt, und nun aktuell die Operation in Südkurdistan. Die Regierungspolitik zielte darauf ab, durch das Anheizen von nationalistischen und chauvinistischen Gefühlen ihren Machterhalt zu sichern. Doch diese Art der Politik hat innerhalb der Gesellschaften der Türkei, als auch auf regionaler und globaler Ebene, zu Reaktionen geführt. Man stand – trotz des Machterhalts – in einer politischen Sackgasse. Die Efrîn-Operation sollte dazu dienen, einen Weg da rauszufinden. Bereits vor dieser Operation wurden langfristige Maßnahmen getroffen, wie zum Beispiel die Verfassungsänderungen und die Vorbereitungen für das Präsidialsystem. Mit dem frischen Wind durch den Krieg gegen Efrîn wollte man nun die letzten Änderungen im Regime vornehmen, um die eigene Zukunft abzusichern als auch die Wahlen zu gewinnen. Aus diesem Grund werden Efrîn, Şengal und Qendîl zur Zielscheibe erklärt. Was kann man nun aus diesen politischen Entwicklungen ziehen? Die von Erdoğan seit 2015 verfolgte demagogische, nationalistische und chauvinistische Politik sicherte ihm zwar seine Macht, führte aber mit der Zeit zunehmend dazu, dass seine Argumentation keinen Anklang mehr fand. Stattdessen hatten die despotische Regierungsart und die wirtschaftlichen Probleme einen Bumerang-Effekt entwickelt. Die Erwartungen, die in die Kurdenfeindlichkeit und in die Efrîn-Operation gesetzt wurden, haben sich nicht erfüllt. Das Konzept ist in Efrîn zum Erliegen gekommen, da das Schüren von nationalistischen und chauvinistischen Gefühlen und die Besatzungspolitik nicht die gewünschten innergesellschaftlichen, regionalen und globalen Auswirkungen mit sich brachten. Das strategische Argument ist ins Leere gelaufen. Efrîn hat für Erdoğan langfristige Folgen mit sich gebracht, die ihm seine Ein-Mann-Diktatur nicht untermauern. Denn anstatt Vorteile entwickeln sich mit der Lage um Efrîn tagtäglich mehr Nachteile. Genau an diesem Punkt schürt er die Kurdenfeindlichkeit noch weiter, bringt Şengal auf die Tagesordnung und aktuell auch noch die Besatzungsoperation in Südkurdistan und die Drohungen gegen Qendîl. Im Grunde beharrt er weiter auf ein Argument, das längst widerlegt ist.
Die Kurdenfeindlichkeit hat in der Türkei eine gewisse Polarisierung zwischen den demokratischen und faschistischen Kräften bewirkt. Diese beiden Blöcke haben eine gewisse Balance gebildet, die bereits ausgereizt ist. Auch regional betrachtet stellt keiner der benachbarten Staaten direkte Unterstützung für die Politik der Türkei. Als die Besatzungspolitik in Efrîn und Rojava/Nordsyrien nicht die erwünschten Ergebnisse mit sich brachte, hat sich die Türkei der Freiheitsbewegung in Südkurdistan zugewandt. Mit der Wiederbelebung des Arguments des Kampfes gegen den Terror wirbt sie regional und global um Anerkennung. Zudem möchte sie damit die Gefühle der Gesellschaft von Neuem ansprechen.
In diesem Kontext gesehen wollen Erdoğan und die türkische Regierung in dieser Phase, die sich aus ihrer Sicht am geeignetsten darstellt, zu den Wahlen antreten. Sie nehmen das Risiko in Kauf, um die eigene Macht zu retten und ihr faschistisches Regime zu gründen.
Im Land kommen dabei verschiedene politische Bündnisse zusammen. Mit Blick auf die politische Landschaft in der Türkei sieht man zum einen das von Erdoğan angeführte Bündnis. Dieses Bündnis der AKP und MHP spiegelt im traditionellen Sinne eine nationalistisch-faschistische Linie wider. Es ist der rechte Flügel der Konservativen, denn die konservativen Kreise sind zurzeit gespalten. Der eine Flügel der Konservativen steht gegen den Kurs Erdoğans in Richtung eines faschistischen Regimes und hat sich deshalb von ihm losgesagt. Der andere Flügel sieht seine Zukunft eins mit der von Erdoğan und orientiert sich an ihm. In diesem Sinne hat die Politik der Kurdenfeindlichkeit ein brüchiges Bündnis entstehen lassen. Dieses ist vor allem von dem Zwang, die Macht zu halten, geprägt. Das andere Oppositionbündnis stellt somit zunehmend eine Bedrohung für die Regierung dar.
Im »Bündnis der Nation« (türkisch: Millet İttifakı) nehmen verschiedene Parteien ihren Platz ein, wie die Saadet Partisi (Partei der Glückseligkeit), die früher die Basis der AKP bildete. Die İyi Parti (Gute Partei) wiederum bildet die Basis der MHP. Was kann man von diesem Block erwarten, wenn man auch ihre Position zum kurdischen Genozid mit in Betracht zieht?
Man darf die Lage der Türkei nicht als eine normale betrachten. Die Situation der Konservativen muss in dem Kontext des Ausnahmezustands bewertet werden. Es gibt in der Türkei keinen Freiraum für freie politische Betätigung oder Meinungsäußerung. Es ist wichtig, die Situation, die Praxis und das Ziel des Erdoğan-Blocks zu erkennen. Erdoğan hat die Türkei in den letzten 16 Jahren heruntergewirtschaftet. Die politischen Beziehungen wie auch die militärische Situation der Türkei sind problematisch. Die durch die Herrschaft geschaffene Polarisierung bestimmt den Status quo. Es gibt einen wirtschaftlichen Abstieg. Globale und regionale Staaten diktieren der Türkei politisch und militärisch Bedingungen. Doch die türkische Regierung beharrt an diesem Punkt auf ihrem Standpunkt. Dieses Beharren führt sie zu den reaktionärsten und rückständigsten Beziehungen, die sie als Stütze nehmen. Wenn man sich den faschistischen Charakter dieser Beziehungen vor Augen führt, mit denen man in der Gesellschaft Autorität aufbauen möchte, sind Probleme in den regionalen und internationalen Beziehungen unumgänglich. Die jetzige Regierung hat die Türkei an die Schwelle des Niedergangs gebracht. Für ihren eigenen Machterhalt sind sie an den Punkt gekommen, den Untergang der Türkei zu akzeptieren.
Wenn wir nun die anderen Parteien wie die CHP, die Saadet Partisi, die İyi Parti oder die HDP ansehen, müssen wir das entsprechend ihrer Position zum aktuellen Kurs der Regierung tun. Es ist notwendig, die Situation in der Türkei zu verstehen, um eine alternative Politik führen zu können. In diesem Sinne kann man von einer ernstzunehmenden Opposition sprechen, die man nicht kleinreden sollte. Auch wenn man die einzelnen Parteien für sich genommen kritisieren kann, kann man dies nicht in Hinsicht auf ihre Position gegen die Regierung gleich formulieren. Zumindest agieren sie mit der Voraussicht, dass dieser faschistische Trend die Türkei an den Untergang führen wird. Dies spiegelt sich auch in der Gesellschaft wider.
Die Regierungspartei ist trotz der Mobilisierung all ihrer Kräfte seit den Wahlen vom Juni 2015 immer weiter zurückgefallen und preist ihr geschmiedetes »Bündnis Volksallianz« (Cumhur İttifakı), mit dem sie aber aktuell in eine schlechte Position gefallen ist. Gleichzeitig gewinnt die Opposition an Fahrt. Folgende Frage stellt sich jedoch: Wird solch eine Regierung die Ergebnisse einer Wahl, wo sich doch schon die ersten Anzeichen für eine Niederlage bemerkbar machen, akzeptieren? Die Antwort zeigt sich in ihren Machenschaften nach innen sowie in der regionalen und internationalen Politik. Deshalb wurde in letzter Zeit die Kurdenfeindlichkeit erneut auf die Agenda gebracht. Man kann die Besetzung von Efrîn und Rojava, die Gespräche mit den USA, Russland und der EU, die Besetzung in Südkurdistan, die Operationen in Xakûrkê und Lêlîkan, wo sie angeblich bereits 30 Kilometer vorgerückt sein wollen, und nun die Drohungen gegen Qendîl nicht allein im Kontext der Wahlen bewerten. Wir sind mit einer Situation konfrontiert, die über die Wahlen hinausgeht. Folgendes kann man sagen: Es ist jetzt schon klar, dass Erdoğan als Verlierer aus den Wahlen hervorgehen wird. Das lässt sich aus der Stimmung im Land, der nachlassenden Teilnahme an Kundgebungen, den Umfragen und dem Vorwärtstrend der Opposition ablesen. Auch die Performance der Präsidentschaftskandidaten gibt dieses Bild wieder. Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass in der ersten Runde nicht das gewünschte Ergebnis erzielt wird und in der zweiten Runde dann die Niederlage kommt.
Die AKP erklärt selbst, dass sie eine Niederlage nicht akzeptieren und dann andere Mittel nutzen werde. Das selbst erklärte Hauptziel ist es, die HDP unter die Zehn-Prozent-Hürde zu drücken und die HDP, die Frauen, die Aleviten und Demokraten aus dem Parlament und der politischen Bühne fernzuhalten. Wie kann dies bewertet werden?
Die Politik gegenüber der HDP und den Kurden ist sehr wichtig. Es haben sich zwei Koalitionen gebildet, doch die HDP wurde außen vor gelassen. Es ist die grundlegende Frage, warum die HDP abseits gelassen wurde, und warum diejenigen, die Erdoğan nicht mehr wollen, die HDP trotz ihrer aktiven Rolle als Opposition nicht in ihre Bündnisse miteinbezogen haben. Es gibt in der Türkei eine Situation und psychologische Atmosphäre, die die Opposition geradezu dazu zwingt, auch wenn sie dies so nicht möchte. Es ist so weit gekommen, dass diejenigen, die sich in die Nähe der HDP begeben, diffamiert bzw. politisch gelyncht werden. Dieselbe Politik wurde auch bei der Besatzung von Efrîn angewandt. Die ganze Gesellschaft wird vor die Wahl gestellt, entweder das gegenwärtige Regime anzuerkennen oder ihr Feind zu sein. Auch beim Putschversuch in der Türkei im Juli 2016 wurden die Menschen vor die Wahl gestellt, »entweder FETÖ oder nicht«. Kreise die diese Logik nicht akzeptieren wollen, sind, um keine Probleme zu bekommen, gezwungen zu schweigen. Es gibt eine ernsthafte Polarisierung, bist du FETÖ oder nicht? Bist du PKKler oder nicht? Bist du Kurde oder nicht? Der Faschismus ist damit auf die Höhe getrieben. Wer Politik gegen diese Polarisierung machen will, fällt in die Rolle der HDP. Deshalb wurden die Ko-Vorsitzenden, Bürgermeister und Aktivisten der HDP festgenommen. Unter dem Deckmantel des Kampfes gegen den Terror werden die Menschen in Kurdistan festgenommen, in der Türkei hingegen wegen der FETÖ-Anschuldigung. In dieser Hinsicht hat das Bündnis der Nation keine echte stabile Haltung gewonnen. Die İyi Parti, CHP und Saadet Partisi haben die politische Situation sehr pragmatisch bewertet und die HDP und die Kurden außen vor gehalten, was eine Position der Schwäche darstellt. Die Kurden, Sozialisten, Demokraten, Liberalen wurden ferngehalten. Es ist ein solches politisches Konstrukt mit Widersprüchen. Es ist die große Frage, was die AKP tun wird, wenn sie die Wahlen verliert und nicht weiter die Regierung stellen kann. Oder anders formuliert, was sie tun wird, um die Wahlen zu gewinnen. Sie wird erstens die Unterdrückung noch weiter verstärken, die Festnahmewellen ausdehnen, die organisatorische Basis der Gesellschaft vollständig zerschlagen. Zweitens werden sie versuchen, mit Betrug und Verbrechen mit den Ergebnissen der Wahlen zu spielen. Dafür haben sie sowieso die passenden Gesetze verabschiedet, die nun mit Polizisten und Armee an den Wahlurnen umgesetzt werden. Auf legaler Ebene muss in diesem Sinne ein harter Kampf geführt werden. Darüber hinaus wird die AKP die Feindbilder weiter beleben, um Anerkennung in der Gesellschaft zu finden. Unter dem Deckmantel des Kampfes gegen den Terror wird ein Bild zu erzeugen versucht, dass gegen die »Feinde der Nation« vorgegangen werden muss und dies nur diese Regierung machen könne.
Für diese Politik wird wiederum versucht, Unterstützer zu gewinnen. Sie werden gezwungen, zu diesem Punkt Stellung zu beziehen. Wie kann man dies bewerten?
Wenn das Feindbild geschaffen wird, tritt die genannte Polarisierung wieder von selbst auf. Das ist eigentlich nichts Neues. Wie gesagt war der Angriff auf Efrîn ein ernsthafter Vorstoß, der aber fehlgeschlagen ist. Die Gespräche mit den USA über Minbic sind Unwahrheiten. Die Kurdenfeindlichkeit wird mit Rojava und Şengal auf der Agenda gehalten, findet aber keinen großen Anklang. Die Operationen in Kurdistan wurden in letzter Zeit zwar intensiviert, doch werden seit 1984 ähnliche militärische Operationen von der türkischen Armee durch geführt. Das Niveau der derzeitigen Operationen überschreitet diese nicht. Um eine neue Motivationswelle für ihre Politik zu schaffen, wird auf einen breiten geografischen Raum in Südkurdistan abgezielt und ein neues Argument mit Qendîl hinzugefügt. Diese Bestrebungen engen den Bewegungsspielraum der Opposition noch weiter ein und verhindern demokratische Diskurse. Somit werden der Opposition alle taktischen Mittel entrissen. Die neuen militärischen Szenarien werden ebenfalls genutzt, um die Gesellschaft zu beeinflussen.
Wenn der Plan Erdoğans aufgeht, wird er mit verfassungsrechtlichen Änderungen die Macht gewinnen. Falls der Plan scheitert und sie die Wahlen verlieren, stellt sich die Frage, was Erdoğan und seine Verbündeten tun werden. Die Zukunft Erdoğans, der AKP, aber auch von Bahçeli und der MHP hängen von diesen Wahlen ab. Sie werden weitere faschistische Initiativen nutzen, um angesichts der gesellschaftlichen Polarisierung Krisen herbeizuführen. Denn Erdoğan wird alles tun, um an der Macht zu bleiben.
Kurdistan Report 198 | Juli/August 2018