Avahî-Reisebericht
Eine Poliklinik für die Demokratische Föderation Nordsyrien
Avahî – Solidarity Construction Rojava
Im Mai brachen wir kurzfristig zur ersten Baudelegationsreise nach Rojava auf. Kurzfristig und doch lange geplant. Seit über zwei Jahren bereiten wir den Bau eines Gesundheitszentrums für Rojava im Kanton Cizîrê vor – in enger Zusammenarbeit mit der Stiftung der Freien Frau in Rojava (WJAR). Nun endlich saßen wir den Frauen direkt gegenüber, anstatt uns über Telefon, E-mails oder Videonachrichten auszutauschen. Bereits im letzten Jahr hätte eine Vorbereitungsgruppe als erste Delegation aufbrechen sollen, aber aufgrund der politischen Lage und der daraus resultierenden Grenzschließung in der Autonomen Region Kurdistan im Nordirak und des bevorstehenden Unabhängigkeitsreferendums mussten wir unsere Reisevorbereitungen abbrechen.
Nach einigen Tagen zähen Wartens an der Grenze, die von der Autonomieregierung im Irak kontrolliert wird, standen wir dann doch noch am Abend unserer Einreise auf dem Bauplatz. Diesen kannten wir bisher nur von Bildern. Der Rohbau, der nur wenige Kilometer von der türkischen Grenze entfernt liegt, steht schon seit über zehn Jahren und wartet auf die Fertigstellung.
Mit den Frauen der Stiftung und zwei Architekten diskutierten wir während unseres Aufenthalts über die Zukunft des Bauprojekts und das Für und Wider der geplanten Stahlbeton-/Lehmbauweise. Es gab Bedenken gegen Lehm als Baumaterial. Er wird zwar traditionell seit tausenden von Jahren vor allem in den Dörfern zum Hausbau verwendet, aber er gilt heute oft als rückständig. Je nach Technik und Verarbeitung sowie Verwitterungsschutz muss bei traditionellen Lehmhäusern einmal im Jahr die Fassade überarbeitet werden, was eine regelmäßige Belastung der Bewohner*innen mit sich bringt. Durch das Erläutern der regionalen Bautechniken, der Wetterbedingungen und der Materialverfügbarkeit konnten wir unseren Blick erweitern.
Parallel zu den Vorbereitungen der Baustelle besuchten wir die verschiedenen Projekte der Stiftung. Wir fuhren zu mehreren Gesundheitszentren, die WJAR leitet. Dort wird vor allem Frauen eine kostenlose Grundversorgung zur Verfügung gestellt. Die Mitarbeiter*innen von WJAR geben Frauengesundheitsseminare, Erste-Hilfe-Kurse u. v. m. Im Gesundheitszentrum von Serê Kaniyê werden auch Frauen für die Arbeit im Gesundheitsbereich ausgebildet. Ein weiteres wichtiges Arbeitsfeld ist die Arbeit in den zahlreichen Flüchtlingscamps, wie im Camp Roj und Camp Hol. Alle Frauen berichteten uns, dass es an Medikamenten und medizinischem Gerät für die Grundversorgung der Bevölkerung fehle. Rojava unterliegt nach wie vor quasi einem Embargo durch die Nachbarländer.
Trotz dieser Umstände arbeiten die Menschen, die wir kennenlernen durften, am Aufbau der basisdemokratischen Gesellschaft. Am Beispiel des Gesundheitsrates, von dem die Stiftung WJAR ein Teil ist, lernten wir die Rätestruktur der demokratischen Autonomie kennen. Wir trafen außerdem die Ko-Vorsitzenden der Stadtverwaltung von Qamişlo, eine Muslima und einen Christen. Lachend erzählten sie uns von einem Beschluss des schwedischen Parlaments, welches vor kurzem die Einführung einer 30-Prozent-Quote für Frauen beschlossen habe. »Schaut her, hier sind Frauen mit 50, 60 Prozent in den Räten und dem Vorsitz vertreten. Und uns wird vorgeworfen, wir seien rückständig!?«
Menschen aus verschiedensten Religionen und mit verschiedenem kulturellem Hintergrund organisieren sich hier gemeinsam in den Räten. Selbst die Nummernschilder sind dreisprachig, kurdisch, arabisch und aramäisch. Hinzu kommen Assyrer*innen, Christ*innen, einige wenige Jüd*innen und Êzîd*innen.
In den ersten Tagen trafen wir die Filmemacher aus der Filmkommune in Qamişlo. Vor Assad gab es in Syrien eine große Filmkultur, aber seit über 40 Jahren hat die Bevölkerung in bestimmten Teilen des Landes kaum mehr Kontakt mit Film, Kunst und Kultur. Die Filmkommune organisiert Filmvorführungen in den Stadtteilen, dreht aber auch eigene Filme. Ihr aktueller Film handelt von drei Frauen aus Şengal, Cizîrê und Kobanê. Gemeinsam diskutierten wir die Möglichkeit, das Bauprojekt filmisch zu begleiten.
Zwischen den vielen Besuchen und Ausflügen kamen wir immer wieder mit den Frauen der Stiftung zusammen. Wir übergaben einen Teil der Spendengelder, die wir für den Aufbau des Gesundheitszentrums gesammelt hatten, und sprachen darüber, welche Arbeiten zu Baubeginn im Herbst stattfinden werden. Im Herbst sollen in kleineren Gruppen Handwerker*innen aus Deutschland auf die Baustelle kommen und gemeinsam mit Freiwilligen aus dem Stadtteil den ersten Teil des Gesundheitszentrums bauen.
Nicht nur die verschiedenen Stationen unserer Reise zogen uns in den Bann, allein schon die Fahrt durch das flache weite Land faszinierte uns. Auf der vierstündigen Fahrt von Qamişlo nach Kobanê passierten wir Orte, die wir bisher aus der Berichterstattung über die Kämpfe gegen Daesch (IS) kannten. Al-Raqqa und Aleppo waren plötzlich keine 100 Kilometer mehr entfernt. Alle paar Kilometer und an den Kreuzungen waren Straßenkontrollen. Diese verhindern Angriffe auf die Menschen von Rojava. Immer wieder fehlten Teile der Straßen und Brücken, die durch Daesch beim Rückzug gesprengt worden waren und die nun notdürftig wieder repariert wurden.
Sehr wichtig war für uns der Besuch im Frauendorf Jinwar, wo Frauen seit etwa einem Jahr ein Dorf aufbauen, in dem später Frauen gemeinsam leben und arbeiten werden. Es wird den Frauen, die aus ihrem Leben als Haus- und Ehefrau ausbrechen wollen oder Betroffene von Gewalt geworden sind, eine Alternative bieten. In Jinwar erfuhren wir viel über die traditionelle Herstellung der Lehmziegel. In vielen Dörfern Rojavas wird mit Lehmziegeln und -putz gebaut. In Jinwar sind schon über 20 Häuser in dieser Bauweise entstanden. Die Frauen aus dem Aufbaukomitee berichteten ausführlich über die Herstellung der Lehmsteine, der roten und schwarzen Erde, die dabei eine wichtige Rolle spielt, und über weitere wichtige Baustoffe sowie deren Kosten und Beschaffungsaufwand. Jinwar ist für uns ein Ort, an dem wir viel lernen konnten.
In der Geburtsklinik von Heyvar Sor, dem Kurdischen Roten Halbmond, in Kobanê konnten wir den Einsatz von Lehm als modernen Baustoff analysieren. Nach der massiven Zerstörung der Stadt durch Daesch 2015 bauten Internationalist*innen das Krankenhaus auf. Seitdem werden dort im Monat über 300 Kinder geboren. Der Besuch in Kobanê war sehr berührend. Bisher hatten wir nur die Bilder der zu über 80 Prozent zerstörten Stadt im Kopf. Umso beeindruckender erschienen uns nun der Wiederaufbau und die Motivation der Menschen, weiter zu kämpfen. Vor uns stand eine Stadt, der man in weiten Teilen kaum ansieht, dass die Befreiung erst vier Jahre zurückliegt. Einige Häuserblocks wurden bewusst zerstört belassen, um zu mahnen und zu erinnern.
Bei dem Besuch des Friedhofs für die Gefallenen wurde uns ein weiteres Mal bewusst, wie viele Menschen für die Verteidigung der Freiheit ihr Leben gelassen haben. In jedem Dorf, in jedem Stadtteil, durch die wir bei unserer Reise kamen, erinnerten die Bilder der Gefallenen an die Verluste, die ein Kampf mit sich bringt. Aber sie zeigten uns auch, dass die Menschen für die Idee der demokratischen Autonomie, der Freiheit aller Menschen und des Aufbaus einer gerechten, solidarischen Gesellschaft sterben. Das Gedenken zeigt uns, dass dieser Kampf schmerzlich, aber erfolgreich sein kann.
Wir kehrten mit einem ersten Eindruck von der Stärke und dem Kampfgeist der Menschen Rojavas zurück nach Hause und sind mehr denn je überzeugt, dass wir unseren Teil für den Kampf um Freiheit und Selbstbestimmung beitragen müssen.
Kurdistan Report 198 | Juli/August 2018