Globale Demokratie, emanzipatorische Kämpfe und Selbstbestimmung im 21. Jahrhundert

Es geht um die Zukunft

Stephen Bouquin, Professor der Soziologie an der Evry-Universität in Paris

Es geht um die ZukunftWir sind nun in der zweiten Dekade des 21. Jahrhunderts angekommen. Weltweit ist die Menschheit mit den Folgen ökologischer Desaster konfrontiert, allem voran durch den Klimawandel, massive Luftverschmutzung, die Ausbeutung natürlicher Ressourcen und schwindende Biodiversität. Manchen zufolge ist diese ökologische Krise das Ergebnis der Produktions- und Konsumweise und des auf den Menschen zentrierten Verhältnisses zur Natur. Diese Auffassungen sind sicherlich richtig, aber wir sollten unsere Aufmerksamkeit auch auf die sozialen Verhältnisse richten, die sowohl der Natur als auch den Bedürfnissen der Menschheit gegenüber blind und nur auf Profitstreben ausgerichtet sind. Diese sozialen Verhältnisse haben einen Namen: ein weltweites kapitalistisches System.

Doch die Menschheit ist nicht nur damit konfrontiert, durch eine außer Kontrolle geratene ökologische Krise von der Bildfläche zu verschwinden. Sie ist auch mit wachsender weltweiter Ungleichheit, sich häufenden religiösen und ethnischen Säuberungen, der anhaltenden Unterdrückung von Frauen und dem Entzug menschlicher Grundbedürfnisse wie dem Zugang zu sauberem Wasser, Erziehung und Wohnraum konfrontiert. Die dramatische Situation, in der sich die Mehrheit der Menschen befindet, zeigt klar, dass das weltweite kapitalistische System an seine Grenzen gelangt ist, eine weitere positive Entwicklung der Menschheit zu gewährleisten. Mehr noch, wir sollten klar benennen, dass dieses System die Weiterentwicklung der Menschheit verhindert.

Die Tatsache, dass der Faschismus in vielen Ländern wieder große Unterstützung findet, zeigt, dass wir uns in einem Wettlauf befinden. Vor allem emanzipatorische Bewegungen sehen sich mit dieser Realität konfrontiert und dies sollte unsere Anstrengungen verstärken, eine wirkliche Alternative zur aktuellen Situation und dem sich im Verfall befindlichen System zu finden. Manche Teile der Bevölkerung in einigen Ländern mögen glauben, dass sie sich und ihren Wohlstand verteidigen können, indem sie die vielen anderen ausschließen und zurückweisen. Doch das wird nur zu mehr Leid, größeren Konflikten und zunehmender Unmenschlichkeit für die am weitesten Ausgeschlossenen führen, die neuen Verdammten dieser Erde.

Was lehrt uns die Geschichte? Vor mehr als einhundertfünfzig Jahren öffnete uns die neugeborene Arbeiterbewegung den Blick für die internationale Befreiung aller Unterdrückten und Ausgebeuteten. Die zentrale Idee war »Proletarier aller Länder, vereinigt euch«, da Arbeiter kein Vaterland haben und der Weltsozialismus als nächster Schritt in der Menschheitsgeschichte erschien. Aber schnell verbreitete sich die Einsicht, dass allein die Befreiung von kapitalistischer Ausbreitung nicht ausreichen würde. Es wurde klar, dass Unterdrückung auch Menschen betraf, die Chauvinismus, Verleugnung ihrer Kultur und der Unterdrückung ihres spirituellen Glaubens ausgesetzt waren.

Teile und herrsche war eine Art Markenzeichen vieler Weltreiche, die zu verschiedenen Zeiten große Teile der Erde beherrschten. Für eine lange Zeit standen irische Katholiken (oder auch walisische und schottische Gemeinschaften) im Konflikt mit den englischen Protestanten. Herrsche und teile ermöglichte es der herrschenden feudalen Klasse, Großbritannien genauso zu beherrschen wie die sieben Weltmeere. Doch die Bauern und die Arbeiter verbrüderten sich und fanden einen Weg, Schulter an Schulter in denselben Gewerkschaften zu kämpfen. Trotzdem blieb die nationale Frage ungelöst, vor allem in Bezug auf die irische Bevölkerung.

Aber im frühen 19. Jahrhundert verband sich an der Peripherie, etwa in Ländern in Lateinamerika, unterstützt durch Gedanken der Aufklärung und demokratischer Souveränität, die Idee der Freiheit mit Unabhängigkeit und schuf einen positiven Nationalismus. Vor allem Simón Bolívar wollte Unabhängigkeit nicht auf der Grundlage der Nationalstaaten, sondern für den ganzen Kontinent. In Osteuropa inszenierten zahlreiche Länder (etwa das zaristische Russland oder die Habsburger Monarchie) Pogrome unter der Bevölkerung, weil Rassismus nützlich war, um die Bevölkerung zu kontrollieren. Ethnische Aufspaltung war hilfreich, den Zugang zu den feudalen Eliten auf wenige zu beschränken – eine Art Elite unter der Elite. Der Kampf um Befreiung wurde dadurch sehr schnell verknüpft mit der Frage, wie mit den Nationalitäten umzugehen sei.

Die Bourgeoisie als aufstrebende Handelsklasse und gewerbliche Unternehmer war bereit, die autokratische und feudale Vorherrschaft in Frage zu stellen. Dafür benötigte sie eine breite Basis, um zur Mehrheit zu werden. In vielen Fällen hat die Bourgeoisie sich an »die Nationen« gewandt, um diese Unterstützung zu gewinnen. Aber seit der Etablierung von Nationalstaaten nahm die Demokratisierung ein rasches Ende, da es für die jetzige Elite besser war, sich nicht mit sozialer Gerechtigkeit auseinanderzusetzen. Zudem nutzten die neu gegründeten Institutionen der Nationalstaaten Grenzen, um eine neue Klassenherrschaft abzusichern, und Patriotismus und Nationalismus, um Klassenzusammenarbeit zu entwickeln. In vielen Fällen gab es auch Versuche, die Staatsgrenzen zu erweitern, um neue Märkte zu finden. Dies führte zum Ersten Weltkrieg, als imperialistische Nationalstaaten einen blutigen Krieg gegeneinander führten und dabei das Leben von Millionen Menschen in Kauf nahmen.

Einige der progressiven Kräfte (vorwiegend Sozialdemokraten) tendierten dazu, sehr schnell einen Umgang mit den neuen Institutionen und ihren Grenzen zu finden, mit dem Verständnis, dass jedes Wachstum politischen und ökonomischen Ausmaßes automatisch fortschrittlich sei. Dies war auch der Fall für Rosa Luxemburg, die der Auffassung war, dass Separatismus oder Unabhängigkeit auf »jeden Fall ein Rückschritt« sei. Ihr zufolge ist das Recht auf Selbstbestimmung und Unabhängigkeit nur ein hohles Ziel. Austromarxisten wie Otto Bauer traten für nationalkulturelle Autonomie ein, allerdings eine Form, die auch die Rechte von Menschen unterschiedlicher Kulturen unabhängig von ihrer territorialen Herkunft anerkannte. Lenins Ideologie nach war die Position der Austromarxisten inkonsequent, da sie die Möglichkeit ließ, sich nicht gegen die österreichischen Habsburger zu wehren. Lenin unterschied zwischen unterdrückten Nationen und unterdrückenden Nationen und ihm zufolge ist die Frage von Nationalitäten längst nicht geklärt, da die Bourgeoisie nicht mehr die Macht hatte, diesen demokratischen Kampf auszufechten. Lenin war dagegen, Internationalismus auszusondern, aber ebenso gegen Patriotismus und Chauvinismus. Seit 1913 trat er für das Recht der Selbstbestimmung der Menschen ein. Der Sozialismus begann immer auf nationalem Level, kann aber nur im internationalen Kontext siegen. Eine Konföderation sozialistischer Staaten könnte die Möglichkeit der Organisierung schaffen, solange Demokratie, soziale Gerechtigkeit und die Gleichbehandlung aller Nationalitäten respektiert werden. Wenn Lenin und die Bolschewiki nicht seit Februar 1913 den Ruf nach Selbstbestimmung (als auch das Recht auf einen unabhängigen Staat) befürwortet hätten, wäre die Russische Revolution auf Petrograd und Moskau beschränkt gewesen.

Dank des Rechts auf Selbstbestimmung wurde die Russische Revolution zur ersten antiimperialistischen Revolution »von innen«. Dies steht auch im Zusammenhang mit dem multinationalen Charakter der Arbeiterklasse und der Proletarier, während Zaren-Russland ein imperialistisches und zugleich feudalkapitalistisches Regime war. Im Nachgang der Oktoberrevolution gab es eine Konferenz der Bolschewiki der unterdrückten Völker im Osten in Baku (Aserbaidschan). Diese Konferenz fand 1920 statt und es waren 2000 Menschen aus Indien, Südostasien, China, Zentralasien und dem Mittleren Osten vertreten. Das ebnete den Weg für eine Allianz zwischen den Kommunistischen Parteien der Dritten Internationale mit nationaldemokratischen Kräften und Organisationen. Es öffnete des Weiteren den Weg für antikoloniale Kämpfe der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und basierte auf der starken Annahme der »Selbstbestimmung aller Menschen«. Aber seit den 1930er Jahren kehrte eine neue Art von »Panslawismus« zurück an die Spitze und führte zu einer Russifizierung aller Machtkanäle, insbesondere in den peripheren Republiken, in denen viele verdrängte Minderheiten lebten.

Im 20. Jahrhundert, nach zwei Weltkriegen und mehreren Zehntausend Toten, nahmen Rechtsstaaten weltweit zu. Dennoch konnten einige wichtige Länder und Regionen dank des Kalten Krieges und der antikolonialen Revolution vor der imperialistischen Vorherrschaft fliehen. In Westeuropa brachte die Angst vor der Revolution die herrschende Klasse dazu, die Sozialdemokratie zu berücksichtigen, auch wenn das mit der Anerkennung von Gewerkschaften und der Garantie sozialer Sicherheit einherging. Für die herrschende Klasse war dies ein Mittel, um die revoltierende Masse zu zähmen, für die Sozialdemokraten war es ein Mittel, um Macht zu gewinnen und nach und nach die Gesellschaft zu verändern. Leider wurde dieser Wandel aufgehalten. In den späten 1970er Jahren begann eine Konteroffensive durch Margaret Thatcher und Ronald Reagan, die beide durch die neoliberale Politik der Schocktherapie in Chile nach dem Putsch gegen Pinochet inspiriert wurden. Wenn es darum geht, Massen von der Machtergreifung abzuhalten, sind alle Mittel hilfreich wie ein Staatsstreich, Bonapartismus oder zügelloser Faschismus.

Natürlich war 1989 ein Wendepunkt. Der Fall der Berliner Mauer und kurz danach der Zerfall der UdSSR als auch der langsame Übergang der Regierenden in der Volksrepublik Chinas (und Vietnams) zum Kapitalismus ließ alle sozialen Bewegungen und Kämpfe allein im Kampf gegen kapitalistischen Despotismus. Algerien wurde mehr und mehr staatskapitalistisch, während Jugoslawien durch Krieg und interne Konflikte gespalten wurde.

Es ist offensichtlich, dass die neoliberale Globalisierung politischer Ausdruck einer Konteroffensive der weltweiten Regierungsklassen ist. Als in den frühen 1970ern Profitraten und Märkte stagnierten, war es das Ziel, jegliche Hürde für den Kapitalismus zu beseitigen. Auch wenn heute noch der Staat zur Regulierung und zur Wachstumsunterstützung eingreifen muss, bedarf es ebenso supranationaler Regulierung, um Verträge abzusichern, die Konfliktlinien regeln. Multinationale und Finanzoligarchen fügen sich der staatlichen (nationalen) demokratischen Sphäre. Aber da Globalisierung nicht das Ergebnis harmonischen Wachstums ist, sondern um die Lücken zwischen Ländern zu vergrößern, wird früher oder später in jedem Land die Ideologie an Legitimität verlieren.

Auch wenn die neoliberale Ideologie der Globalisierung lokale/spezifische Identitäten nutzt, werden nationale, lokale oder spezifische kulturelle Traditionen verletzt. Da jeder sich selbst international vermarkten muss, führt dessen Unmöglichkeit oft zu einem neuen Nationalismus, der zwar oft reaktionär ist, allerdings auch progressive Ansätze beinhaltet. Die reaktionären Strömungen bewegen sich in Richtung Rassifizierung, Reinheit, des Wunsches, Grenzen dichtzumachen, und der Ausgrenzung anderer. Im Falle der progressiven Strömungen kommt der Wunsch nach Eigenständigkeit und Selbstregierung zum Ausdruck. So wie »Wir, ‚das Volk‘, müssen unsere eigene Zukunft wieder selbst bestimmen können, sowohl in politischer als auch in wirtschaftlicher und kultureller Hinsicht«.

Natürlich ist die Aussage »Sozialismus ist ein Land« heute noch eher hinfällig als schon in den 1980er Jahren. Dennoch müssen wir die Frage beantworten, wie wir Kämpfe auf lokaler und regionaler Ebene mit der Möglichkeit kleiner Fortschritte mit einer internationalistischen und globalen Perspektive verbinden.

Ich denke, es muss gesagt werden, dass die Schriften Abdullah Öcalans einen wichtigen Beitrag zur Beantwortung dieser Frage leisten und dabei helfen, einen theoretischen und praktischen Lösungsansatz in Hinblick auf die humanitäre Krise zu entwickeln. Der springende Punkt ist es, zu verstehen, dass Machtverhältnisse alles dominieren. Dies ist sowohl in Hinblick auf das Patriarchat als auch in Bezug auf Staatsdespotismus wahr und ebenso bei der Unterdrückung vieler Kulturen und nationaler Identitäten sowie des Überschusses an Arbeit im kapitalistischen System. Macht ist auch das erste und letzte Thema, wenn es um Emanzipation geht: Wird Macht aufgeteilt und von unten kontrolliert oder durch eine Partei monopolisiert, die im Namen der Menschen regieren wird? Öcalan hat ein Papier der Analyse des 20. Jahrhunderts geliefert, das die Aufgaben des 21. Jahrhunderts artikuliert. Er wurde vom Sozialökologen Murray Bookchin und dessen Schriften über Kommunalisierung und direkte Demokratie inspiriert. Dennoch erkennt Abdullah Öcalan immer noch die Relevanz des Kampfes gegen das Patriarchat, weshalb Frauen und ihre Emanzipation im Mittelpunkt aller Kämpfe stehen müssen.

Von dem Moment an, in dem Demokratie verstanden wird als ein Weg der Entscheidungsfindung durch kollektive Befreiung auf allen Ebenen und in allen gesellschaftlichen Bereichen, wird das Erfordernis eines konföderalistischen Ansatzes offensichtlich. Deswegen stellt der »demokratische Konföderalismus« – nicht eines Staates, sondern der Gemeinschaften – einen bedeutenden strategischen Beitrag zu unseren heutigen Kämpfen dar.

Diese Antwort fehlte beispielsweise gänzlich in den Debatten während des Weltsozialforums (Beginn 2002 in Porto Allegre). Leider scheinen diese Dynamiken nach einigen Jahren vielversprechender Versammlungen auf NGOs beschränkt zu sein, die jegliche Diskussion über Aufgaben, Kampagnen und aktive Unterstützung füreinander meiden. Daher haben wir nur das Archipel der Front und der Kämpfe. Der Grund, wieso die NGOisierung problematisch wurde, ist leicht zu sehen: Abhängig von staatlichen Subventionen zu sein, wie das in vielen Ländern der Fall ist, führt dazu, dass sich diese Galaxie der Kämpfe von ihrer sozialen Basis und ihren sozialen Kämpfen löst. Das kann auch von der internationalen Handelsbewegung gesagt werden, doch auf dem untersten Level besteht die Realität des Klassenkampfes weiter und führt neue Generationen dazu, sich auf neue Art und Weise in diesem Kampf zu engagieren, wie das der Fall ist bei den Kämpfen gegen Privatisierung, Sozialkürzung, Austerität, Prekarisierung und so weiter.

Heute ist der Bedarf an internationaler und globaler Solidarität groß und dringend: der Kampf gegen Krieg und Staatsterrorismus, worunter gleichermaßen Palästinenser und Kurden leiden; der Kampf der indigenen Völker; Frauenkämpfe für ihre volle Souveränität über ihren Körper und ihr Leben auf der ganzen Welt; Landarbeiter, die gegen Landraub kämpfen; städtische Gemeinden, die dafür kämpfen, dass Wasser weiter als Gemeingut gilt und nicht der Kommerzialisierung und Vermarktung unterworfen wird; Kämpfe gegen den kriminellen Warlord-Kapitalismus in der Nachbarschaft von Metropolen und Städten und so weiter.

Aber auch wenn Verbindungen und Solidaritätsnetzwerke zwischen sozialen Bewegungen sehr wichtig sind, reicht das nicht. Diese Verbindungen können nur zu konkreten Ergebnissen führen, wenn sie durch das Ziel geleitet sind, dass die Menschen über ihre eigene Zukunft entscheiden sollen, anstatt sich vom Moloch des kapitalistischen Systems leiten zu lassen. Nach Demokratie zu streben ist im Grunde genommen ein Kampf um die Wiedererlangung von Souveränität und Macht und um die kollektive Kapazität zur Selbstbestimmung (auf allen Ebenen des sozialen Lebens, sowohl individuell als auch kollektiv), um Unterdrückung zu bekämpfen und die Beziehung zur Natur in einer nicht destruktiven Art zu verändern.

Persönlich denke ich bis heute, dass der Internationalismus auf einer systemischen Alternative einer postkapitalistischen Gesellschaft aufgebaut sein sollte. Müssen wir dieses System sozialistisch oder sogar ökosozialistisch nennen? Auch wenn die Antwort Ja ist, wenn ich einen Dialog mit all denjenigen haben will, die auch dieses System bekämpfen wollen, aber sich nicht in der Terminologie des Staatssozialismus oder des Autoritärkommunismus wiederfinden, muss ich die Diskussion erweitern. Anderenfalls werde ich mich nur mit denjenigen Repräsentanten des 20. Jahrhunderts unterhalten, die sich mit einer Polemik beschäftigen, die in die Vergangenheit gehört.

Heutzutage entwickelt sich die Menschheit angesichts der systematischen Krise, der wir gegenüberstehen, und sie kommt zusammen »dank« des Klimawandels und der Überlebensbedrohungen, die einem durch das kapitalistische System aufgezwungen werden. Alle fundamentalen Probleme der Menschheit werden direkt oder indirekt durch dieses System hervorgerufen. Natürlich sollten wir bereit sein, um das Streben nach Unabhängigkeit und Selbstbestimmung zu unterstützen. Das muss jedoch an einen Inhalt gebunden sein, der die Interessen der sozialen Mehrheiten (Arbeiterklassen, proletarische Sektoren, unterdrückte Gruppen wie Frauen, Migranten und junge Menschen) widerspiegelt. Wir müssen den Ethnozentrismus ablehnen und einen gesellschaftlichen Horizont eröffnen, der emanzipatorisch, radikal demokratisch ist und auf sozialer Gerechtigkeit basiert.

Solidarität und Entwicklungszusammenarbeit sollten auf einem höheren Niveau immer Teil der politischen Methodologie sein: Autonomie oder Devolution kann Hand in Hand mit Kooperation auf einem höheren Level einhergehen, wie die Konföderation von Kantonen, Republiken oder weiteren Gruppen mit einem gemeinsamen Gesellschaftsvertrag oder einer gemeinsamen Verfassung.
Die Notwendigkeit, mit gegenwärtigen institutionellen Ordnungen zu brechen, ist mir sehr wichtig. Mit den gegenwärtigen Institutionen werden Kämpfe nur verbunden, integriert oder domestiziert. Der Staat steht abseits der Gesellschaft und über und auf der Gesellschaft. Seine Natur ist eine asoziale, was bedeutet, dass er nicht neutral sein kann und man ihn somit nicht nutzen kann, um beispielsweise soziale Gerechtigkeit zu implementieren. Die neuesten Erfahrungen progressiver Regierungen in Lateinamerika (Venezuela, Ecuador, Bolivien) haben demonstriert, dass man sogar als Regierung mit einer neuen Verfassung den »tiefen Staat« und die Oligarchie als auch deren Kapazitäten zur Organisierung von Sabotage und Korruption nicht unterdrücken kann.

Gegenwärtig ist es sehr schwer, eine institutionelle Antwort darauf zu finden, vor allem weil die Balance der Kräfte weit vom Guten entfernt ist. Doch aufgrund der Tatsache, dass die kapitalistische Weltordnung auf einem Ozean riesiger Schulden schwimmt und ihre Profite und ihr Wachstum dem immer größer werdenden Schuldenberg hinterherhinken, wissen wir, dass das Finanzsystem sich selbst in eine neue riesige Krise stürzen wird. Einer der Wege, wie diese Krisen gelöst werden können, ist durch Krieg, die Verarmung von Mittelklassen und das Hungern großer Teile der Weltbevölkerung. Das wird eventuell zusammen mit der ihnen zugrundeliegenden ökologischen Krise dazu führen, dass die sich dessen bewusstesten Sektoren der Menschlichkeit postkapitalistische Lösungen suchen werden. Dieses Szenario kann in Kombination mit sehr illegitimen globalen und nationalstaatlichen Institutionen emanzipatorische Bewegungen in eine Position bringen, in der sie dafür verantwortlich sind, Antworten auf die menschlichen Bedürfnisse zu finden, wie das nie zuvor der Fall war. Das kann zu teilweise befreiten oder »verlassenen« Territorien, Städten und Regionen führen, wo sich Selbstverwaltung entwickeln kann, solange soziale Bewegungen, Aktivisten und Forscher sowie technisch begabte Menschen dazu in der Lage sind, diese Werkzeuge des Moments zu greifen. Die einzige Art und Weise, um diese Kämpfe, Erfahrungen und Fortschritte zu verbinden, ist diejenige mit dem Ziel der globalen Demokratie. Wir sollten vorbereitet sein.


 Kurdistan Report 198 | Juli/August 2018