Das Permanente Völkertribunal tagte in Paris

Nicht bestrafen, aber Verantwortlichkeiten feststellen

Meral Çiçek

Die französische Hauptstadt Paris war im vergangenen April Schauplatz eines wichtigen Prozesses. Gegenstand waren die Kriegsverbrechen des türkischen Staates gegen KurdInnen. Der türkische Staat, vertreten durch den Präsidenten Erdoğan, wurde angeklagt. Jedoch nicht vor einem »ordentlichen« Gericht, sondern vor dem Permanenten Völkertribunal. Bei diesem handelt es sich um eine von staatlichen Instanzen unabhängige, international tätige Institution, die Sachverhalte untersucht, bei denen es um Menschenrechtsverletzungen oder Verletzungen der Rechte von Völkern geht. Es wurde 1979 in Anlehnung an die Russell-Tribunale gegründet. Die erste Sitzung des Tribunals fand in Brüssel zur West-Sahara statt. Die Sitzung zur Türkei und den KurdInnen in Paris ist das 38. Tribunal; es hat in den vergangenen 40 Jahren an unterschiedlichen Orten der Welt zu verschiedenen systematischen Verbrechen stattgefunden. Hierzu gehören neben Menschenrechtsverletzungen in lateinamerikanischen Ländern (El Salvador, Guatemala, Puerto Rico, Brasilien, Kolumbien) auch Verbrechen, die durch die Politik des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank verursacht worden sind, der Genozid an den Armeniern oder auch das Asylrecht in Europa.

Das Permanente Völkertribunal tagte in ParisDa es sich bei dem Permanenten Völkertribunal um eine von staatlichen Instanzen unabhängige Institution handelt, sind seine Urteile auch nicht bindend bzw. verfügt es nicht über rechtliche Sanktionskraft. Aber das ist auch nicht Sinn und Zweck seiner Existenz. Denn einerseits schuldet das Völkertribunal seine Existenz dem Fehlen eines zuständigen internationalen Gerichts, das über von Individuen erbrachte Beschwerden und Anschuldigungen, die jedoch in kollektiver Dimension begriffen werden müssen, richten und urteilen kann. Dadurch zeigt es eine große Leerstelle im internationalen (oder eher zwischenstaatlichen) Rechtssystem auf. In diesem Sinne ist das Permanente Völkertribunal, so wie das Russell-Tribunal, mit der Zeit zu einer Art Beschwerdeinstanz von Völkern und Gemeinschaften geworden, die die Unfähigkeit bzw. die Unwilligkeit von internationalem Recht, ihnen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, selbst erlebt haben. Und deshalb geht es nicht in erster Linie um die Bestrafung der Verantwortlichen und Schuldigen, sondern vor allem um Wahrheit, Erinnerung und moralische Entschädigung. Dazu kommt natürlich die Bestätigung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit bzw. der Schuld der staatlichen Stellen. Wir wissen alle, dass internationale Gerichte, die von Staaten gegründet und finanziert werden, nicht unabhängig, sondern entsprechend politischen Interessen und Entscheidungen handeln. Deshalb kann über diese Gerichte nie wirklich Gerechtigkeit hergestellt und Wahrheit aufgedeckt werden. Denn leider stehen Staaten in unserem heutigen Weltsystem über den Völkern und nicht umgekehrt.

KurdInnen, ob als Privatpersonen oder Gruppe, wenden sich schon seit Jahrzehnten an internationale Rechtsinstanzen und -institutionen, um einerseits auf dem Feld des Rechtes gegen staatliche Kriegs- und Menschenrechtsverbrechen anzukämpfen und um andererseits Gerechtigkeit zu erfahren. Das heißt, die Schuldigen zur Verantwortung zu ziehen und eine Bestrafung zu erwirken. Bisher haben diese Bemühungen jedoch kaum Erfolg mit sich gebracht. Und dabei denke ich nicht nur an die Verbrechen des türkischen Staates in den vergangenen 40 Jahren, sondern auch an dessen genozidale Verbrechen vor und nach Gründung der Republik sowie an die Verbrechen der anderen drei Staaten, die das Land der KurdInnen besetzen. Hinzu kommt die Ausblendung der kollektiven Dimension, die nur allzu oft von Gerichten vorgenommen wird. Nehmen wir den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) mit Sitz in Strasbourg. Tausende, vielleicht gar Zehntausende KurdInnen haben sich in den vergangenen 20 Jahren an den EGMR wegen Verbrechen des türkischen Staates wie Folter, extralegale Exekutionen, Dorfzerstörungen etc. gewandt, doch sind diese nicht nur als individuelle Vorfälle behandelt worden, sondern endeten meist mit einer Geldstrafe, die vom Staat an den/die KlägerIn zu entrichten ist. Aber wie kann ein Entschädigungsurteil über die Zerstörung eines Dorfhauses das Verbrechen systematischer Dorfzerstörungen, der Folter, geschlechtsspezifischer Gewalt und extralegaler Exekutionen während der berüchtigten Dorfrazzien sowie die Zwangsvertreibung der BewohnerInnen einfach ausblenden? Können wir in diesen Fällen überhaupt von Recht und Gerechtigkeit sprechen?

Wohl eher nicht. Und deshalb kam dem Permanenten Völkertribunal zur Türkei und den KurdInnen so große Bedeutung zu – nicht primär in strafrechtlicher Hinsicht, sondern vor allem wegen der Anerkennung und Ächtung der organisierten Verbrechen des türkischen Staates gegen das kurdische Volk. Es bleiben die Hoffnung und der Glaube, dass die Verantwortlichen irgendwann für ihre Verbrechen bestraft werden. Dieser Wille ist so stark wie eh und je. Nicht nur, damit die Mörder und Verbrecher zur Rechenschaft gezogen werden, sondern auch damit die viel zu vielen Opfer türkischer Staatsverbrechen irgendwann die Möglichkeit erhalten, ihr Leid vorzutragen und Gerechtigkeit zu erfahren.

Da sie bisher kaum die Möglichkeit dazu gehabt hatten, fiel es den vielen ZeugInnen während des zweitägigen Tribunals oft schwer, ohne politische Wertung die Fragen der Anklage zu beantworten. Denn erstens ist alles, was geschehen ist und noch immer geschieht, politisch – zwei Tage nach dem Tribunal sind das türkische Militär und seine verbündeten Dschihadisten in Efrîn-Stadt einmarschiert – und kann deshalb gar nicht von der politischen Lage in der Türkei und der kurdischen Frage als Politikum gesondert betrachtet werden. Hinzu kommt, dass KurdInnen und politische Oppositionelle in der Türkei daran gewöhnt sind, in Gerichtssälen auf der Anklagebank zu sitzen. Oder wie es Ahmet Nesin, türkischer Kolumnist und Sohn des türkischen Schriftstellers Aziz Nesin, während seiner Zeugenaussage zu Todesschwadronen ausgedrückt hat: »Normalerweise stehen wir als Angeklagte, nicht als ZeugInnen vor Gericht.«

Als AnklägerInnen fungiert haben der belgische Rechtsanwalt und Generalsekretär der Internationalen Vereinigung demokratischer AnwältInnen (IADL) Jan Fermon und die italienische Menschenrechtsanwältin Sara Montinaro. Monatelang hatten sie recherchiert, um die über 100 Seiten lange Anklageschrift vorzubereiten. Sie hatten eine extrem schwere Aufgabe zu bewältigen, denn sie mussten zwischen Hunderten, wenn nicht Tausenden Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen des türkischen Staates an KurdInnen eine Auswahl treffen, die die ganze Dimension aufzeigt und andererseits in dem kurzen Zeitraum von zwei Tagen zu behandeln ist.

Dabei ging es ihnen auch um völkerrechtliche Feststellungen, die grundsätzliche politische Fragen beantworten. Zunächst um die Frage, ob es sich im Konflikt selbst um einen – wie von der türkischen Republik immer behauptet – Kampf gegen Terror oder um einen bewaffneten Konflikt handelt. Die AnklägerInnen selbst vertraten die Position, dass es sich nach Völkerrecht um einen bewaffneten Konflikt handelt, dem die Leugnung des Selbstbestimmungsrechts des kurdischen Volkes durch den türkischen Staat zugrunde liegt. Dies wurde in der Anklageschrift als Quelle der Menschenrechtsverletzungen gedeutet. Das ist insofern von Bedeutung, als sich das anzuwendende Recht (in diesem Fall Völkerrecht und Kriegsrecht) daraus ableitet. Dann forderten die AnklägerInnen die RichterInnen dazu auf, die strafrechtliche Verantwortlichkeit des türkischen Staates bei Kriegsverbrechen festzustellen. Hinzu kommt die Schuld von Individuen, in diesem Fall die des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan als Hauptangeklagtem und des Generals Adem Huduti. Die Anklagevertretung hat immer wieder unterstrichen, dass die Verstöße der türkischen Republik und ihrer Vertreter gegen das kurdische Volk und seine Organisationen nach internationalem Recht und humanitärem Völkerrecht als organisierter und kontinuierlicher Prozess erfasst werden müssten. Das heißt, es ist nicht Sache einer einzelnen Regierung, sondern einer kriminellen Organisation in Staatsform. Die türkischen Regierungsvertreter waren offiziell zu ihrer Verteidigung geladen worden, hatten jedoch nicht reagiert. Ihnen wurde vor allem ihre bestimmende Rolle bei den Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen 2015/2016 in den kurdischen Städten zur Last gelegt. In der Anklageschrift heißt es zur besonderen Schuld des türkischen Präsidenten Erdoğan:

Er war der politische Hauptverantwortliche für die Entwicklung, die zu den Auseinandersetzungen von 2015/2016 geführt hat. Er hat diese Konfrontation bewusst gesucht, um nationalistische und chauvinistische Tendenzen in der türkischen Gesellschaft zu schüren und um in bestimmten Teilen der Bevölkerung Angst zu erzeugen; um die Kräfte innerhalb der türkischen Gesellschaft, die eine verhandelte Lösung des Konflikts mit den KurdInnen befürworten, zu diffamieren und Druck auf diese auszuüben und sie bei den Wahlen im November 2015 zurückzudrängen, nachdem sie bei den Wahlen im Juni 2015 einen relativen Erfolg verbuchen konnten.

Durch seine Erklärungen, die sowohl die in den Konfliktgebieten lebenden KurdInnen als auch ihre gewählten VertreterInnen willkürlich als »TerroristInnen« brandmarkten, hat der türkische Präsident das Militär und die Polizeikräfte dazu angestachelt und legitimiert, extreme und vollkommen unverhältnismäßige Gewalt bei den Operationen sowohl gegen bewaffnete kurdische KämpferInnen als auch gegen die Zivilbevölkerung anzuwenden.

Der zweite Hauptangeklagte General Adem Huduti war von 2014 bis 2016 Kommandeur der 2. Armee der türkischen Landstreitkräfte und in dieser Position für den Schutz der Grenzen zu Syrien, Iran und Irak zuständig. In der Anklageschrift wird er als Hauptarchitekt der combined operations von Militärkräften, von Gendarmerie, von Polizei und Paramilitär 2015/2016 in den kurdischen Gebieten genannt. Interessant an der Person Huduti ist, dass er im Zuge des Putschversuches in der Türkei 2016 als ranghöchster General verhaftet wurde. Beschuldigt wird er, als Mitglied der Fethullah-Gülen-Bewegung Teil der Verschwörung gegen die AKP-Regierung zu sein. Gefordert wird erschwerte lebenslange Haft. Natürlich nicht für die Kriegsverbrechen, die unter seiner Leitung in Kurdistan begangen worden sind.

Die zweitägige Sitzung war inhaltlich sehr breit gefasst. Dutzende ZeugInnen haben zu Verbrechen ausgesagt, die in den vergangenen 30 Jahren vom türkischen Staat begangen worden sind. Vor allem die Kriegsverbrechen, die im Zeitraum vom 1. Juni 2015 bis zum 1. Januar 2017 während des Widerstandes für Selbstverwaltung in Sûr, Cizîr (Cizre) und Nisêbîn (Nusaybin) stattfanden, wurden gesondert behandelt. Video- und Tonaufnahmen sowie ZeugInnenaussagen von jungen Menschen, die über Skype zugeschaltet darüber berichteten, wie der türkische Staat Dutzende in Kellern eingeschlossene Menschen bei lebendigem Leib angezündet hatte, gehörten zu den emotional schwersten Momenten während des Tribunals. Hunderte Menschen, die aus aller Welt zum Tribunal nach Paris angereist waren, ZeugInnen und RichterInnen, hörten die Schreie der Menschen, die sich in Cizîr in einem dieser »Todeskeller« befunden hatten. Wir hörten selbst, wie die Polizei die eingesperrten Menschen plötzlich angriff, während die HDP-Abgeordnete Meral Danış Beştaş dem kurdischen Politiker Mehmet Yavuzel am Telefon noch versicherte, die Polizei würde sie nun nach Absprache mit dem Ministerium aus dem Gebäude treten lassen. Mehmet Yavuzel war Parteiratsmitglied der DBP, der Partei der Demokratischen Regionen. Er war 23 Jahre alt.

Besondere Gewichtung erhielt auch die Ermordung der Mitglieder der kurdischen Frauenbewegung Sakine Cansız, Fidan Doğan und Leyla Şaylemez am 9. Januar 2013 in Paris durch den vor Beginn der Verhandlung verstorbenen vermutlichen Mitarbeiter des türkischen Geheimdienstes MIT, Ömer Güney. In diesem Zusammenhang hatte der Tagungsort des Tribunals auch symbolischen Charakter. Neben ZeugInnenaussagen wurde auch ein Video mit Aussagen von MIT-Agenten gezeigt, die in PKK-Gefangenschaft entstanden waren. In diesem Video bestätigen türkische Geheimdienstler, dass es sich hierbei um einen Auftragsmord des MIT gehandelt habe. Außerdem wurde auf weitere politische Attentate in Paris eingegangen.

Nach einer einleitenden Sitzung und der Kontextualisierung des Rechts auf Selbstbestimmung für das kurdische Volk wurden neben den oben genannten Verbrechen das Roboskî-Massaker, geschlechtsspezifische staatliche Gewalt, Todesschwadronen, die Ermordung von Musa Anter, die Bombardierung der Gebäude der Tageszeitung Özgür Ülke und der Parteizentrale der DEP (Demokratie-Partei), das Massaker von Güçlükonak, die Verschleppung von Abdullah Öcalan, die Unterstützung terroristischer Organisationen durch die Türkei sowie Geheimdienstaktivitäten auf europäischem Boden zum Gegenstand der Anklage gemacht. Dabei ging es der Anklage vor allem um die Feststellung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit der türkischen Republik sowie Empfehlungen an Staaten, wie die Republik Türkei und deren politische Vertreter für diese Verbrechen zur Verantwortung gezogen werden können.

In dieser Sache zu urteilen hat das Permanente Völkertribunal sieben unabhängige RichterInnen aus verschiedenen Ländern ernannt: den Hamburger Völkerrechtler Norman Paech, die italienische Politikerin, Journalistin und ehemalige Europaparlamentarierin Luciana Castellina, die portugiesische Friedensforscherin Teresa Almeida Cravo, den irischen UN-Mitarbeiter Denis J. Halliday, das algerische Gründungsmitglied des Tribunals Majid Benchikh, den italienischen Richter Domenico Gallo und den jetzigen Vorsitzenden des Tribunals Philippe Texier. Sie werden ihr Urteil spätestens im Juni auf einer Pressekonferenz im Europaparlament in Brüssel bekannt geben.

Die Erwartung, dass das Urteil der RichterInnen in naher Zukunft politische oder strafrechtliche Konsequenzen für den türkischen Staat mit sich bringen werde, sollte nicht allzu hoch sein. Davon ist nicht auszugehen mit Blick auf die Lage in den kurdischen Gebieten und die Haltung der internationalen Staatengemeinschaft zur Türkei. Aber das Tribunal selbst sollte als Teil des langen Kampfes für Wahrheitsfindung und Gerechtigkeit in Kurdistan gesehen werden. Zugleich ist es auch ein Anfang. Denn irgendwann wird der Tag kommen, an dem die politisch Verantwortlichen für die unzähligen Kriegsverbrechen, die Verbrechen gegen die Menschlichkeit und die Menschenrechtsverletzungen zur Rechenschaft gezogen werden. Wenn nicht heute, dann morgen. Wenn nicht morgen, dann übermorgen. Aber der Tag wird kommen. Und bis dahin gibt es weder Vergeben noch Vergessen.


 Kurdistan Report 197 | Mai/Juni 2018