Die menschenverachtenden Praktiken von Daesch

»Ich kämpfe für dich, Kind, nicht gegen dich!«

Sozdar Sevîm

Über Jahrhunderte werden uns Ereignisse und Geschichten, die nicht niedergeschrieben worden sind, in Form einer Geschichte oder in Form der Dengbêj [kurdische Form epischen Gesangs] nahegebracht, was für die Erhaltung der kurdischen Geschichte und Literatur gesorgt hat.

Heute werden wir ZeitzeugInnen eines legendären Kampfes, ZeugInnen einer historischen Epoche der Geschichte, die von der Gesellschaft und den Frauen-/Volksverteidigungseinheiten (YPJ/YPG) selbst geschrieben wird. Nicht Klagelieder, sondern revolutionäre Lieder beschreiben Rojava (Nordsyrien). Doch was ist mit den Geschehnissen und den Ereignissen an der Front, die nicht niedergeschrieben werden? Wer schreibt die Geschichte der geflüchteten Frauen? Oder die der Kinder, die als lebende Schutzschilde von Daesch (kurdisch/arabisch für Islamischer Staat IS) ausgenutzt werden?

Während meines Aufenthalts in Rojava habe ich sehr viele Geschichten mitbekommen. Geschichten, die sehr prägten und mir zeigten, was wirklich Aufopferung, Hevaltî (GenossInnenschaftlichkeit) und der starke Geist des Widerstands bedeuten. Aber auch, wie im Krieg gewissenhaft gehandelt wird und was der Krieg wirklich bedeutet.

Wenn es an vorderster Front mal ruhig war, wurde ein çay (kurdisch für schwarzer Tee) aufgesetzt und sich am Feuer versammelt. In solchen Momenten wurden sehr gern Ereignisse miteinander geteilt und Lieder gesungen. Jede/r Freund/in erzählte ihre/seine Geschichte, von den verschiedenen Orten und Städten, in denen Kämpfe stattgefunden hatten, mit sehr vielen Emotionen, die uns mitrissen.Der Teekessel kann viele Geschichten erzählen

Bei jeder Geschichte gingen die Blicke ins Feuer, jede/r malte sie sich vor das innere Auge. Manchmal bekamen wir bei Erzählungen trotz des Feuers und der Wärme eine Gänsehaut.

Der Abend war lang und ein Erlebnis nach dem anderen wurde erzählt. Ein YPG-Kämpfer aus Gever (Yüksekova) fing mit seiner Geschichte an:

»Nach der Befreiung von Girê Spî (kurdisch für Tel Abyad) waren wir als Gruppe in einem Dorf am Stadtrand stationiert. Die Stadt selbst und die umliegenden Dörfer waren leer. Die Menschen hatten diese Orte bereits in Richtung Türkei und befreite Städte [gemeint sind die von den YPJ/YPG befreiten Regionen; Anm. d. Red.] verlassen. Wenige Familien, die nicht hatten gehen können, blieben im Dorf und wurden vom Daesch gegen uns organisiert. Eines Tages, während meines nobet (kurdisch für Wache halten), kam uns, bereits aus der Ferne zu sehen, ein kleiner Junge entgegen. Er war unbewaffnet und schien uns gefahrlos zu sein. Wir gingen ihm entgegen, weil oft kleine Kinder zu unseren Stützpunkten kommen, um Brot für ihre Familie zu besorgen. Wir dachten, es sei wieder eines dieser Kinder, und haben ihn herzlich unter uns aufgenommen. Alle am Stützpunkt kümmerten sich um den kleinen ca. Siebenjährigen, der arabisch sprach. Auf die Frage, ob er denn Hunger habe und Brot mitnehmen wolle, antwortete er: ›Nein.‹ Wir fragten, warum er denn hier sei. Er antwortete: ›Ich habe was angezogen bekommen und soll mich hier in die Luft sprengen und wieder zurückgehen. Ich habe aber vergessen, wie das geht.‹

Der Kleine hatte ein unschuldiges breites Lächeln auf seinem Gesicht und schämte sich regelrecht für seine Tollpatschigkeit. Er tat das, weil ihm Geld versprochen worden war.«

Alle fingen an, diese Geschichte mit ihrer/seinem Nachbarn/in zu kommentieren und/oder zu bestätigen. Denn dies war kein Einzelfall. Trotzdem waren wir fassungslos und schockiert über diese menschenverachtenden Praktiken von Daesch.

Nachdenklich fügte eine Kämpferin aus Roboskî/Botan, Mitte 20, ein ähnliches Ereignis hinzu. Eine starke Frau, ihr Selbstbewusstsein und starker Wille spiegelten sich in ihrem Gesicht wider. Ihre Geschichte:

»Wisst ihr, Hevalno, einer der Gründe, warum ich dem Kampf beigetreten bin, sind all die Kinder dieser Welt. Sie werden überall Opfer des Krieges und sind dem so schutzlos ausgesetzt. Ich kämpfe für sie, damit sie in einer besseren Welt leben! Damit sie ihre Kindheit leben!

In Kobanê war ich während der Gefechte in der Stadt an der Front und habe mit weiteren KämpferInnen die Stellung gehalten. Daesch griff unseren Stützpunkt an. Ich sah, wie ein Daesch-Kämpfer in einen Tunnel lief. Ich näherte mich ebenfalls dem Tunnel, um ihn zu töten.

Als ich ihn ansah, erkannte ich einen ca. 10-, 12-jährigen Jungen. Seine Waffe war größer als er selbst! – Ein Kind! – Ich wich zurück, denn ich konnte oder wollte ihn nicht erschießen. Verwirrt überkamen mich unbeschreibliche Emotionen. Was sollte ich machen?

An dieser Stelle sprach ich mit der Kommandantin am Funkgerät und sagte, ich habe den Daesch-Kämpfer gesehen. Und dass er noch ein Kind sei ... Währenddessen bemerkte uns der Junge und schoss auf uns. Zur Verteidigung kamen aus unseren Reihen auch Schüsse und er wurde getroffen.

Wir waren aufgebracht, als wir später die Leichen der Daesch-Kämpfer im Hof sammelten. Ich sah den kleinen Jungen dort und fing an zu weinen. Ich umarmte ihn und sprach weinend zu ihm:

›Was machst du mitten im Krieg? Du gehörst hier nicht hin! Ich kämpfe für dich, Kind, und nicht gegen dich!‹ Immer wieder muss ich an diesen schrecklichen Moment denken.«

Die Runde wurde noch stiller als zuvor. Nur noch das Knistern des Feuers war zu hören und man sah die ernsthaften Gesichter und die vor Wut kochenden Augen. Die kochende Wut, weil den Kindern ihre Kindheit genommen worden war.

An der Front passieren solche und hunderte andere Geschichten, die keine Erwähnung finden. Die jedoch sehr bewegend sind.

In Rojava herrscht seit 2012 ein permanenter Krieg gegen die Verteidigungskräfte der zivilen und militärischen Einheiten, der sich während der Gefechte um die Stadt Kobanê verstärkt hatte. Durch den Widerstand der Bevölkerung, der Volksverteidigungseinheiten, der starken Entwicklung in Nordkurdistan und der internationalen Solidarität und Hilfe wurde ein internationaler Widerstandsblock geschaffen. Das hat weltweit einen Einblick in das Modell der »Demokratischen Autonomie« gegeben. Ein Modell, das sich flexibel nach den Bedürfnissen der Gesellschaft, der historischen Ereignisse und der Gegebenheiten entfaltet. Denn die Menschen in Rojava kämpfen nicht nur gegen den barbarischen Daesch, sondern genauso gegen die Mentalität des Staates, die in einem/r selbst wiederzufinden ist. Das erste Mal seit Jahrhunderten wird ein Modell für alle ethnischen, religiösen Gruppen und Minderheiten nicht nur utopisch vorgeschlagen und träumerisch analysiert, sondern kämpferisch gelebt. Die Menschen fangen an, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Sie organisieren sich in ideologischen, kulturellen, gesellschaftlichen und militärischen Bereichen nach dem Prinzip der Demokratischen Autonomie in allen Kommunen, Kooperativen bis hin zu den Räten und schließlich zu den Stadträten.

Durch den erfolgreichen Kampf der verschiedenen Verteidigungskräfte gegen Daesch wurden viele Gebiete, Städte und Dörfer befreit. Die Niederlagen und Verluste in den Regionen schwächten dessen Kontrolle über die Gebiete und die Zahl seiner Kampfeinheiten. Die Beteiligung an den Daesch-Kräften nahm über die Jahre hinweg langsam ab, was Destabilisierung und große Misserfolge für sie mit sich brachte. Deshalb begannen sie die Häftlinge – hauptsächlich Kinder und Jugendliche – für ihre eigenen Reihen auszubilden. Sie verwendeten verschiedene Methoden, um im Land für Nachwuchs zu sorgen. Aus den hauptsächlich arabisch bewohnten Dörfern begannen sie mit der Zwangsrekrutierung von Jugendlichen für ihre eigenen Reihen. Teilweise lief das auch freiwillig.

Gezielt wurden Familien mit keinem bis wenig Einkommen angesprochen und gewonnen. Auf Familien, die eine/n Angehörige/n verloren hatten, wurde eingeredet, um sie über die Rache-Schiene zu gewinnen. Familien, die eh sympathisieren, schicken gegen einen geringen Geldbetrag ihre Kinder selbst in den Tod.

Anhand der vielen Fälle an der Front und misslungener Selbstmordaktionen wurden die Gründe für derartige Aktionen oft offen thematisiert. Viele der Betreffenden wussten nicht, warum und gegen wen sie kämpften. Ihnen war ein schönes Leben im Jenseits und den Familien eines im Diesseits versprochen worden. Zu Selbstmordattentätern/innen wurden hauptsächlich Kinder, Frauen und Alte, von denen ein solches Verhalten im Krieg nicht erwartet wird. Sie wurden für die Durchsetzung der Ziele von Daesch ausgebildet und ausgebeutet.

Nach den bewegenden Geschichten herrschte eine ernste Stimmung im Raum, in den Gesichtern ließ sich ablesen, dass die Bedeutung verinnerlicht worden war und sich mit dem Gehörten identifiziert werden konnte.

Die Erzähler/innen kostete es einige Überwindung, die eigenen Erfahrungen, Gefühle und Gedanken zu teilen. Das war in der Ernsthaftigkeit ihrer Haltung und ihrer Aufmerksamkeit zu spüren. Nach den Kommentaren, die von etlichen Zuhörern/innen abgegeben worden waren, verwandelte sich die schwere Luft in eine vertrauensvolle Atmosphäre. Erleichtert fing eine Kämpferin an, ein revolutionäres Lied zu singen. Nach und nach übertrug sich die Motivation in der Runde auf eine/n nach dem/der anderen. Alle sangen mit. Singend und klatschend verwandelten sich die Wut und Trauer in eine unbeschreibliche Entschlossenheit. Denn diese Geschehnisse und die Trauer sind Realitäten des Lebens und des Krieges. Umso entschlossener und schöner ist der Kampf dagegen.

Die Einflüsse des Krieges auf Mensch und Natur sind nicht einfach zu beschreiben.

Dieser Austausch bzw. diese Erzählungen zeigen, wie wichtig es sowohl für die Betroffenen als auch die Zuhörenden ist, über die Emotionen, das Leiden und die Realitäten im Krieg zu sprechen, dem eine Bedeutung zu geben. Zu wissen, wofür gekämpft wird, welche menschlichen Werte wir in uns tragen, die uns in verschiedenen Momenten signalisieren, dass unsere Gefühle, unser Geist, Wille, unsere Werte noch lebendig sind. Wie guttuend und erleichternd es für alle in der Runde doch ist, die Erfahrungen zu teilen, um gemeinsam die verschiedenen Aspekte des Krieges zu verstehen. Denn als Kämpfer/in vom Krieg getroffen oder verletzt zu sein, bedeutet nicht nur, dass eine Patrone oder ein Splitter den Körper durchdringt – die Seele, der Geist und die Emotionen werden durchdrungen. Daher ist der Erfahrungsaustausch eine Form von Widerstand und Stärke gegen den Feind, gegen die Kriegseinflüsse, gegen die Gefühllosigkeit in einem/einer selbst und gegen das als Selbstschutz fungierende Schweigen.

Dieser Kampf wird für den Aufbau einer demokratischen, ökologischen und frauenbefreiten Gesellschaft geführt. Für die Menschheit und die Träume der Kinder!