Über die Kontroverse um den Halim-Dener-Platz in Linden/Hannover

Nach 23 Jahren einen Ort des Gedenkens gestalten

NAV-DEM Hannover

Nach 23 Jahren einen Ort des Gedenkens gestaltenSeit der 16-jährige Halim Dener 1994 in Hannover beim Plakatieren von einem Zivilpolizisten erschossen wurde, gibt es unterschiedliche Vorstellungen darüber, wie an den kurdischen Aktivisten erinnert werden und sein Tod Beachtung in der Stadtgeschichte finden soll.

Noch auf der Trauerdemonstration am 9. Juli 1994, eine Woche nach der Tötung, erkannte der damalige Oberbürgermeister Herbert Schmalstieg vor ca. 16 000 Teilnehmer*innen die Berechtigung eines würdevollen Gedenkens an und unterstrich, dass er die Aufrechterhaltung des PKK-Verbots, das mitursächlich für den Tod Halim Deners war, für einen Fehler halte. Daraufhin erhielt er Morddrohungen türkischer Nationalist*innen, auch weil eine rechte Tageszeitung Adresse und Telefonnummer Schmalstiegs veröffentlicht hatte.

Der Wunsch nach einem würdevollen Gedenken

Über zwanzig Jahre hielten Aktivist*innen und Gruppen aus den kurdischen und türkischen Communities sowie der autonomen radikalen Linken die Erinnerung an Halim Dener am Leben. Hin und wieder gab es eine Aktion zum Jahrestag der Tötung oder einen kurzen Medienbericht.

Zum 20. Todestag 2014 kamen Strukturen der Jugendbewegung Kurdistans in Europa, der Kurdistan-Solidaritätsbewegung und der radikalen Linken in Hannover zusammen und gründeten die »Kampagne Halim Dener – gefoltert. geflüchtet. verboten. erschossen.«. Sie verbindet ein kreativ-aktives Gedenken an Halim Dener mit den soziopolitischen Fragen von Kurdistan-Konflikt, Flucht und Asyl, PKK-Verbot und tödlicher Polizeigewalt.

Zwar legt sie dabei ihre Schwerpunkte auf die kurdische Community, die linke Szene und die interessierte allgemeine Öffentlichkeit, doch hat sie stets den Kontakt mit der offiziellen Stadtpolitik gesucht – wenn auch selten direkt adressiert. An einer gut besuchten, öffentlichen Podiumsdiskussion am 21. Todestag, dem 30. Juni 2015, nahmen neben der Kampagne Halim Dener und NAV-DEM u. a. auch der damalige Ordnungsdezernent Mark Hansmann und der ehemalige Oberbürgermeister (OB) Schmalstieg (beide SPD) teil. Sie stellten sich der Diskussion mit der Kampagne und zeigten sich zumindest offen für ihre Forderungen. Hansmann ging sogar auf einen Vorschlag aus dem Publikum ein, eine Ausstellung über Halim Dener im städtischen Rathaus zu zeigen, und Schmalstieg wiederholte seine Aussage von 1994, das PKK-Verbot sei ein Fehler und müsste spätestens jetzt gekippt werden. Dabei blieb es dann aber auch.

Während der Demonstration zur europaweiten Newroz-Feier der Freiheitsbewegung Kurdistans am 19. März 2016 und während einer 24-Stunden-Kundgebung der Kampagne Ende September 2016 wurden zwei Gedenksteine am Steintorplatz, wo Halim Dener in der Nacht vom 30. Juni 1994 erschossen worden war, verlegt. Die Stadt ließ sie jeweils nach nur wenigen Tagen kommentarlos entfernen.

Gegen Ende der 24-Stunden-Kundgebung am 26. September suchten Aktivist*innen aus dem Umfeld der Kampagne die Bürgersprechstunde des Oberbürgermeisters Stefan Schostok (auch SPD) auf und trugen dem OB das Anliegen, einen Ort des Gedenkens an Halim Dener zu schaffen, vor. Schostok war die Geschichte Halim Deners durchaus ein Begriff und er sicherte zu, das Anliegen in den Stadtrat oder dessen Ausschüsse zu tragen. Geschehen ist das aber nicht.

Halim-Dener-Platz im Stadtteil Linden

Da der Stadtrat Hannovers eh von einer Koalition aus SPD, Grünen und FDP dominiert wird, war klar, dass sich dort keine Mehrheiten für einen Ort des Gedenkens an Halim Dener gleich welcher Form finden lassen würden. Im Stadtbezirksrat Linden-Limmer hingegen haben Bündnis 90/Die Grünen, DIE LINKE, Piraten und Die Partei eine deutliche Mehrheit und in Niedersachsen entscheiden die Bezirke selbständig über die Benennung von Straßen und Plätzen, die in ihrem Gebiet liegen. So entstand die Idee, im links-alternativ und multikulturell geprägten Stadtteil Linden durch die Benennung einer Straße oder eines Platzes einen Gedenkort zu schaffen.

Um diese Initiative der Öffentlichkeit vorzustellen, fand am 23. März 2017 auf Einladung der Kampagne ein Pressegespräch statt. Neben den Bezirksratsfraktionen der Grünen und der Linken sowie den jeweils einzelnen Ratsmitgliedern der Piraten und der Partei – die SPD-Fraktion war eingeladen, konnte sich aber nicht rechtzeitig entscheiden, wie sie zu dem Vorschlag stehen würde – nahmen auch Personen und zivilgesellschaftliche Gruppen aus Linden teil, die zuvor eine Solidaritätserklärung verfasst und sich als Unterstützer*innen-Kreis für den Halim-Dener-Platz in Linden zusammengeschlossen hatten; unter ihnen ein feministischer Buchladen, ein linkes Wohnprojekt, die Fanszene eines lokalen Fußball-Vereins, Kneipen, Gewerbetreibende und Leute aus einem Kulturzentrum. Bereits nach dem Pressegespräch kamen einzelne Stimmen aus der Spitze des SPD-Stadtverbands zu Wort, der Vorschlag, einen Platz nach Halim Dener zu benennen, wäre eine unnötige Provokation und würde die Gesellschaft spalten.

Diese Stimmen schwollen zu einem regelrechten Geschrei an, als sie von türkisch-nationalistischen bis -faschistischen Gruppen aufgegriffen und am 10. Mai 2017 bei der Sitzung des Bezirksrats vorgebracht wurden. Halim Dener wurde pauschal als Terror-Sympathisant dargestellt, die CDU-Bezirksratsfrau Gabriele Steingrube suchte sogar die Schuld für den Tod bei dem Jugendlichen, denn er hätte sich ja nicht der Festnahme entziehen brauchen. Unbeirrt stimmten DIE LINKE, Die Partei, Die Piraten und Mitglieder von Bündnis 90/Die Grünen mit 11 Stimmen für die Benennung des Halim-Dener-Platzes gegen SPD, CDU und FDP mit 6 Stimmen.

Undemokratische Grätsche von OB und Hauptausschuss

Gegen diesen Beschluss des Bezirksrats legten OB Schostok und der Hauptausschuss der Stadt – ein Gremium von Vertreter*innen der Stadtratsfraktionen und des OBs – jeweils Einspruch ein. Durch die Platz-Benennung würden »der Konflikt zwischen türkischen Bevölkerungsgruppen in Hannover verschärft«, »zwei Gruppen [...] wild aufeinandergehetzt«, der Platz zu einem Anziehungspunkt für türkische Nationalist*innen und PKK-Anhänger*innen. Man war sich auch nicht zu schade, eine Verpflichtung der Stadt Hannover zur Neutralität in innertürkischen Fragen für sich in Anspruch zu nehmen. Neutralität? Spaltung der Gesellschaft?

Die BRD hat längst Position bezogen, indem sie seit nunmehr 50 Jahren – wie bereits vor ihr andere deutsche Staaten auch – Waffen in die Region und an den Staat Türkei liefert, dem AKP-Regime trotz Kriegs- und Menschenrechtsverbrechen weiterhin politische Rückendeckung gewährt, die PKK auch in Europa verfolgt und kurdische Aktivist*innen als vermeintliche Mitglieder einer terroristischen Organisation verurteilt. Auch die Stadt Hannover hat Position bezogen, indem sie im Oktober 2016 einen Empfang für den damaligen Generalkonsul Mehmet Günay zum Gründungstag der Republik Türkei veranstaltete, nur wenige Tage, nachdem Fırat Anlı und Gültan Kişanak verhaftet worden waren. Die beiden DBP-/HDP-Politiker*innen sind die Kobürgermeister*innen der Großstadt Amed (Diyarbakır), mit der die Stadt Hannover seit Jahren eine Städtepartnerschaft anstrebt, zumindest ein Teil der SPD tut das. Ein anderer Teil der SPD knüpft diese Städtepartnerschaft an eine gleichzeitige Partnerschaft mit dem anatolischen Konya. Bei dem Empfang wurde die Rede des Staatspräsidenten Tayyip Erdoğan verlesen, die die Abwehr des Putschversuchs vom 15. Juli 2016 als Heldentat der Nation preist und allen politischen Gegner*innen indirekt droht. Bürgermeister Thomas Herrmann (schon wieder SPD) erklärte in seiner Lobrede auf die guten deutsch-türkischen Beziehungen mit Blick auf die in Amed inhaftierten Kolleg*innen nur, die Ereignisse seien aufzuklären, die Vorwürfe gegen die Kommunalpolitiker*innen zu entkräften und der Türkei eine rechtsstaatliche Lösung zu wünschen. Wer spaltet also die Gesellschaft?

Im Demonstrations-Aufruf der Kampagne Halim Dener zum 23. Todestag wird auf diesen Vorwurf eingegangen und stattdessen eine gangbare Alternative aufgezeigt:

»Kritiker*innen des Halim-Dener-Platzes reden eine Spaltung der Gesellschaft herbei und sehen in der Platz-Benennung Konfliktpotential. Dabei sind sie in Wirklichkeit die treibende Kraft der Spaltung und erkennen nicht, dass gesellschaftliche Fragen zum Konflikt um den Tod Halims geführt haben. Ein Ort des Gedenkens und der Auseinandersetzung mit diesen bestehenden Fragen wäre ein wichtiger Schritt, um die herrschende Realität anzuerkennen und gemeinsame Antworten für Lösungen zu finden.«

Die Kampagne ist das beste Beispiel dafür, dass deutsche, kurdische sowie türkische Gruppen, Aktivist*innen und Jugendliche um die Beschäftigung mit Halim Deners Geschichte zusammenkommen und seit Jahren an einem gemeinsamen Projekt arbeiten. Es kann also keine Rede davon sein, dass die Auseinandersetzung um die Platzbenennung eine kulturelle oder ethnische Frage sei. Vielmehr echauffieren sich Nationalist*innen und Faschist*innen darüber, dass die von ihnen verleugnete kurdische Gesellschaft mit ihrer eigenen Geschichte in Deutschland anerkannt und nach 23 Jahren ein Kapitel der hannoverschen Stadtgeschichte weitergeschrieben wird.

Es bleibt dabei: Für einen Halim-Dener-Platz in Linden!

Aufgrund der Einsprüche von OB und Hauptausschuss musste der Bezirksrat am 7. Juni 2017 erneut über den Antrag, den Halim-Dener-Platz zu benennen, abstimmen. Diesmal waren wieder zahlreiche Nationalist*innen anwesend, die sich in ihren Wortbeiträgen zu Drohungen hinreißen ließen und damit zu erkennen gaben, wes Geistes Kind sie sind. Dass sie 4 000 Unterschriften gegen die Platz-Benennung gesammelt hatten, juckte dann auch niemanden mehr. Im Gegenteil waren Lindener*innen anwesend, die deutlich machten, dass sie einen Halim-Dener-Platz willkommen heißen würden und ein solcher dem weltoffenen, fortschrittlichen und bunten Stadtteil gut zu Gesicht stehen würde. In diesem Sinne nahm der Bezirksrat mit 9 Stimmen für und 5 Stimmen gegen die Platz-Benennung (bei 3 Enthaltungen) den Antrag erneut an.

Der OB hat sich bereits als schlechter Verlierer erwiesen und die Kommunalaufsicht – in diesem Fall das Innenministerium des Landes Niedersachsen – angerufen. Sie prüft nun, ob der Beschluss zur Platzbenennung durch den Bezirksrat rechtmäßig war. Als vorweggenommene Revanche unter Sportsfreund*innen kann da schon das Foto verstanden werden, das die Fanszene des SV Linden 07 mit Schostok beim letzten Heimspiel der Saison machte. Darauf posiert der Oberbürgermeister hinter einem Transparent mit der Aufschrift »Murdered by German Police – Halim Dener 30.06.1994 / Oury Jalloh 07.01.2005«.

Alle Beteiligten haben angekündigt, am Thema dranzubleiben. Es bleibt also spannend.

Der Unterstützer*innen-Kreis bereitet verschiedene kulturelle und soziale Aktivitäten vor, die auf dem Halim-Dener-Platz stattfinden werden. Die Kampagne ruft zu einer Demo am 23. Todestag, dem 30. Juni 2017, vom Steintorplatz zum Halim-Dener-Platz auf. Im Aufruf heißt es:

»... wir [werden] weiterhin das Gedenken an Halim Dener und die Forderung nach einem angemessenen Ort dafür mit der Auseinandersetzung über den Krieg in Kurdistan und den Status der Kurden, dem Thema Flucht und Asyl, dem PKK-Verbot und tödlicher Polizeigewalt verbinden. Unabhängig davon, was Oberbürgermeister oder Kommunalaufsichten beschließen: Wir werden den Halim-Dener-Platz als Ort des Gedenkens und der Begegnung gestalten!«

Blog der Kampagne Halim Dener:
http://halimdener.blogsport.eu/