Ein kurzes Resümee des Verfassungsreferendums

Mit der AKP verliert die Türkei ihre Zukunft

Kenan Kirkaya, Journalist

Die Türkei durchlebt eine der kritischsten und wichtigsten Phasen ihrer Geschichte. Der Krieg in Nordkurdistan, die Einmischung in regionale Konflikte und das Verlangen nach dem Präsidialsystem, all das führt sie geradewegs in eine Sackgasse.

Die nach dem gescheiterten Militärputsch erzeugte »Atmosphäre der Angst« hat in den letzten zwei Monaten vor dem Referendum einen neuen Höhepunkt erreicht. Doch je mehr die Angriffe auf die Opposition zunahmen, desto mehr richteten sich die Blicke selbstverständlich auch auf die Kräfte, die für sich in Anspruch nehmen, den gesellschaftlichen Widerstand gegen die Regierenden zu organisieren.

Es verwundert wenig, dass viele ihre Aufmerksamkeit dabei zunächst auf die kurdische politische Bewegung mit ihrer langen Widerstandstradition richteten. Aber auch die AKP richtete aus verschiedenen Gründen ihre Angriffe während des Ausnahmezustands vor allem gegen die kurdische Bewegung. Der wichtigste Grund dafür war selbstverständlich das Ziel, diese dynamischste und organisierteste Kraft zu neutralisieren, um auf diese Weise den wichtigsten Widerstandspol gegen die eigene Agenda aus dem Weg zu schaffen. Es gibt unzählige Beispiele, wie in den vierzig Jahren des Widerstands der kurdischen Bewegung unterschiedlichste Kräfte innerhalb des Staates Bündnisse schließen, um gemeinsam gegen die Kurden vorzugehen. Zugleich dient der im Kampf gegen die Kurden stets geschürte Nationalismus auch als Instrument, um andere Missstände im Lande zu übertünchen.

Doch die Geschichte hat auch gezeigt, dass dieser immer wieder eingeschlagene politische Kurs alles andere als nachhaltige Lösungen für die Türkei mit sich bringt. Im Gegenteil, die Angriffe auf die Kurden, der Krieg gegen sie haben das Land immer tiefer in die Krise und ins Chaos getrieben. Die Türkei steckt in einem Teufelskreis, aus dem sie nicht herauskommt. Und alle politischen Akteure, die über die Jahre in diesen Teufelskreis gerieten, sind nicht mehr lebend herausgekommen. Ein eindrucksvolles Beispiel dafür ist Tansu Çiller, die in den 1990er Jahren für den berüchtigten schmutzigen Krieg gegen die Kurden verantwortlich war. Heute hingegen kann sie als politisch tot bezeichnet werden.

Seit dem Ende der »Lösungsverhandlungen« setzt nun die AKP-Regierung auch auf einen gnadenlosen Krieg gegen die kurdische Bevölkerung. Eigentlich hatte sie propagiert, die kurdische Bewegung bis zum Frühjahr 2017 völlig zu vernichten. So sollten die Angriffe auf die kurdischen Städte, die 2014 mit den Ausgangssperren begonnen hatten, noch vor dem Referendum ihren Abschluss finden. Das hatte Innenminister Süleyman Soylu mit den Worten »die PKK wird vernichtet werden« gleich mehrfach öffentlich angekündigt.

Die Mission von Innenminister Soylu

Auf der Gedenkzeremonie für den durch einen Anschlag getöteten Landrat von Derik, Muhammed Fatih Safitürk, sagte Soylu: »Gott ist mein Zeuge, dass wir die PKK vernichten werden. Niemand wird mehr den Namen der PKK in den Mund nehmen.« Diese Worte spiegelten nicht nur die Meinung der Person Süleyman Soylu, sie beschrieben die politische Zielsetzung der AKP. Soylu wurde trotz seiner in der Vergangenheit wiederholten öffentlichen Beleidigungen der AKP eigens mit dem Posten des Innenministers betraut, um die Mission »Vernichtung der PKK« umzusetzen.

Die Bedeutung des Frühlings für die AKP

In den Frühling 2017 fiel auch die beabsichtigte Verfassungsänderung der AKP. Es scheint, dass die Regierungspartei einen fünfjährigen Fahrplan hin zu diesem Systemwechsel verfolgt hat. Als diese fünf Jahre sich dann jüngst ihrem Ende zuneigten, nahmen auch die Angriffe der AKP auf die Opposition deutlich zu. Kurz vor dem Ziel sollte nichts mehr dem Zufall überlassen werden.

Und so sorgte die AKP in Kooperation mit der MHP und der freundlichen Unterstützung der CHP zunächst für die Aufhebung der parlamentarischen Immunität der HDP-Abgeordneten. Anschließend kam es dann zu deren Festnahme. Die kurdischen Kommunen wurden unter Zwangsverwaltung gestellt, dutzende Bürgermeister festgenommen. Im März, also als die kurdische Bewegung angeblich vernichtet worden sein sollte, nahmen die Angriffe nochmals an Fahrt auf. Und so kam es dann auch, dass die HDP-Kovorsitzende Figen Yüksekdağ aufgrund einer Rede ihr Mandat verlor, bevor schließlich die Justiz auch ihre Parteimitgliedschaft kappte.

Frauenprotest gegen das Referendum | Foto: ANFAuf dem Weg zum Referendum: 8. März und Newroz

Laut HDP wurden allein in den letzten neun Monaten 11 000 ihrer Mitglieder festgenommen und davon 5 000 inhaftiert. 84 Co-Bürgermeister wurden verhaftet, nur einige wenige von ihnen wieder freigelassen.

Doch trotz all dieser Angriffe zeichnete sich relativ schnell ab, dass die Kurden keinen Schritt zurückweichen würden. Und so wandelte sich der März 2017 aus ihrer Sicht zu einem Monat des permanenten Aufstands gegen die Vernichtungsangriffe der AKP. Der erste Funke des Widerstands ging am 8. März von den Frauen aus. Über ganz Nordkurdistan und den Westen der Türkei verteilt gingen hunderttausende Frauen auf die Straße. Und das, obwohl mit den Anschlägen vom 5. Juni 2015 in Amed (Diyarbakır), vom 20. Juli 2015 in Pirsûs (Suruç) und vom 10. Oktober 2015 in Ankara die Menschen dazu hatten gebracht werden sollen, fortan die Straße als Ort des Widerstands zu meiden ...

Die Aktionen des 8. März in diesem Jahr galten zugleich auch als Startschuss der Referendumskampagne und brachten zum Ausdruck, weshalb die Frauen »na | hayır« (nein) sagten zur Präsidialdiktatur der AKP.

Darauf folgte dann das diesjährige Newrozfest am 21. März. In vielen kurdischen Städten wurden die Feierlichkeiten vorab verboten. Es kursierten zudem Gerüchte, dass es bei den Newrozfeiern zu Angriffen und Massakern kommen könnte. Dennoch gingen die Menschen am 21. März zu Millionen auf die Straße und sandten eine eindeutige Botschaft an die Regierenden. Allein in Amed feierten Hunderttausende. Aus dem diesjährigen Newroz gingen gleich mehrere Botschaften hervor: Zunächst einmal wurden die Spekulationen darüber beendet, wie sich die Kurden wohl beim Referendum entscheiden würden: eindeutig »hayır« bzw. »na«. Eine andere Botschaft lautete, dass die Bevölkerung nach wie vor hinter Abdullah Öcalan und seinen Bemühungen für eine friedliche Lösung der kurdischen Frage steht. Und zu guter Letzt zeigte Newroz 2017, dass die kurdische Bewegung, die ja eigentlich genau dann vernichtet sein sollte, wie eh und je auf den Beinen steht.

Verzweifelte Versuche, die Kurden zu umgarnen

Dieses Gesamtbild brachte Aufruhr in die Reihen der AKP. Sie glaubte nämlich, dass sie im Bündnis mit der MHP problemlos das Präsidialsystem durchbringen würde und der Wille der Kurden ohnehin gebrochen sei. Doch mit Newroz merkte sie, dass das nicht der Fall war. Und von Neuem wütete sie mit ihrer Repressions- und Kriegspolitik gegen die Kurden. Dass der Besuch Mesûd Barzanîs, des Präsidenten der kurdischen Autonomieregion in Südkurdistan, in Ankara auch in diese Phase fiel, war kein Zufall. Die Einladung war aus Ankara erfolgt und bei seiner Ankunft wurde am Flughafen die Fahne der kurdischen Autonomieregion gehisst. Die PDK-nahen Medien werteten dies als Zeichen, dass die Türkei die Unabhängigkeit Südkurdistans anerkennen werde. Aus diesem Grund erklärten die PDK-assoziierten Splitterparteien in Nordkurdistan auch ihre Unterstützung für das »Evet« (Ja) beim Verfassungsreferendum.

Doch nur kurze Zeit später intervenierten Erdoğan und seine AKP, als in Kerkuk die südkurdische Fahne gehisst wurde. »Holt diese Fahne sofort herunter!«, forderte der türkische Staatspräsident und stellte den kurdischen Verantwortlichen ein Ultimatum. Und wieder parallel dazu begann die AKP in Amed, mit Plakaten mit dem Konterfei Şêx Saids Werbung für ein Ja beim Referendum zu machen. Die islamistisch-kurdische Partei HÜDA-PAR, die in Nordkurdistan im Bündnis mit der AKP arbeitet, machte ebenfalls Propaganda für ein »Evet«. Ihre Parole lautete »Autonomie für Kurdistan – die Scharia für die Türkei«. Als dann wenige Tage vor dem Abstimmungstermin der ehemalige CHP-Vorsitzende Deniz Baykal das Gerücht streute, dass die neue Verfassung auch ein Provinzialsystem und die Aussicht auf Autonomie enthalte, wollte er damit eigentlich die nationalistischen Kreise vor dem Referendum warnen. Doch im Ergebnis verhalf er der AKP bei deren Täuschungsmanövern für die Kurden. Letztlich zeigte sich, dass es bei den Kampagnen der verschiedenen Lager viel um die kurdische Frage ging.

Islamophobie und Okzidentalismus

Ein weiteres Standbein der AKP-Referendumskampagne war die kalkulierte Krise mit bestimmten Ländern der EU. Ähnlich wie in der Vergangenheit mit Israel, Russland oder Ägypten dienen diese maßgeblich von Ankara erzeugten Spannungen vor allem der Konsolidierung der Stimmung in der eigenen Anhängerschaft und der weiteren Mobilisierung nationalistischer Kreise. Doch die jüngsten Attacken gegen Europa gingen darüber hinaus. Denn die grundlegende antiwestliche Haltung der AKP ist in der Referendumsphase unverfroren an die Öffentlichkeit gelangt. Auch wenn die Islamophobie-Kritik der türkischen Regierung in Richtung Westen von Zeit zu Zeit nicht unbegründet ist, so benutzt die AKP sie doch auch als Vorwand, um die eigene »Ungläubigen-« und »Ausländer-« Feindlichkeit zu kaschieren. Ihr politisches Verständnis reicht über den Okzidentalismus hinaus. Und so werden die Vorurteile gegen die »Heiden« und der vermeintliche »Kampf gegen die Kreuzzügler«, die noch aus der Osmanischen Ära stammen, von der AKP immer wieder aufs Neue aufgetischt. Die türkische Regierung ist sich dessen bewusst, dass solche Äußerungen bei gewissen Kreisen auch auf fruchtbaren Boden fallen. Gleichzeitig trägt diese Propaganda aber auch zu einer Radikalisierung in religiösen Kreisen bei.

Die Mittelostpolitik der AKP

War die AKP in der Vergangenheit gern als Paradebeispiel für das Modell des »gemäßigten Islams« gelobt worden, so konkurriert sie mit ihrer Politik gegenwärtig durchaus mit den radikalsten islamistischen Akteuren im Mittleren Osten. Aus diesem Grund sucht sie auch den Schulterschluss mit Organisationen wie der Muslimbruderschaft. Und so verfolgt sie in ihrer Mittelostpolitik neben einer klaren antikurdischen Linie auch den Aufbau einer sunnitisch-islamistischen Gemeinschaft in der Region, in der sie selbst tonangebend ist. Das militärische Engagement der türkischen Regierung in Syrien ist daher im Einklang mit beiden außenpolitischen Grundsätzen der AKP zu werten: dem Kampf gegen die Errungenschaften der Kurden und der Stärkung sunnitisch-islamistischer Bündnispartner im Nachbarland.

Die Gesellschaft ist endgültig zwiegespalten

All den beschriebenen Umständen zum Trotz haben Erdoğan und seine AKP beim Referendum letztlich nicht ihr gewünschtes Ergebnis erzielt. Man hatte nämlich zuvor kalkuliert, einen Zustimmungsgrad zu erreichen, der über den gemeinsamen Stimmenanteil von AKP und MHP hinausgeht. Doch anstatt mit den erwarteten 67+x % Ja-Stimmen wurde die Verfassungsänderung schließlich mit 51 % Stimmenanteil der Votierer abgesegnet. Und dieses Ergebnis konnte nur mit einer ganzen Reihe von Wahlbetrugsfällen und deutlich ungleichen Bedingungen für das Ja- und das Nein-Lager in der Propagandaphase gewonnen werden. Das geht auch aus dem Wahlbeobachterbericht der OSZE hervor. Als dann noch aus den Urnen massenhaft Stimmzettel auftauchten, denen der offizielle Stempel der Hohen Wahlbehörde (YSK) fehlte, und beschlossen wurde, auch diese Stimmen zu werten, da war der bereits vor dem Referendumstag vielfach befürchtete Wahlbetrug Realität geworden.

Was sagen die Ergebnisse aus?

Zunächst einmal stehen die Ergebnisse des Referendums für eine noch deutlichere Instabilität im Land. Die vollzogene Polarisierung der Bevölkerung wird vermutlich dazu führen, dass die Regierung mit noch mehr Repression gegen ihre politischen Gegner vorgehen wird. Ein plötzlicher Wandel dieser Regierung in Richtung Demokratisierung ist vorerst nicht zu erwarten. Sollte es bei der AKP dennoch Anzeichen in diese Richtung geben, dann wären sie mit äußerster Vorsicht zu genießen. Denn es wäre nicht das erste Mal, dass die AKP bloß Hoffnungen schürt, um die eigenen kurzfristigen Interessen einfacher umsetzen zu können. Doch vorerst scheint die Regierung selbst das nicht nötig zu haben. Denn der Ausnahmezustand wurde bereits um drei weitere Monate verlängert und in dieser Zeit werden die Regierenden weiter an der Umsetzung ihres autokratischen Systems arbeiten. Und wenn die AKP ihre Zukunft doch in Gefahr sehen sollte, so wird sie sicherlich die Kriegsatmosphäre im In- und Ausland weiter anheizen.

Die Ergebnisse aus Sicht der Opposition

Aus Sicht der Opposition kann das Ergebnis trotz der »Niederlage« als Sieg gewertet werden. Das Selbstbewusstsein in den oppositionellen Reihen wurde nämlich deutlich gestärkt. Der Anschein, dass 70–80 % der türkischen Bevölkerung rechts und konservativ seien, ist genommen worden. Die größte Gegnerschaft zur Verfassungsänderung erwuchs zusammen aus den westlichen und den kurdischen südöstlichen Provinzen. Somit treffen sich der Westen und der Osten der Türkei erstmals auf einer politischen Ebene. Auf dieser Grundlage kann sich sogar eine gemeinsame Opposition gegen die Diktatur und für die Demokratie in der Türkei und Nordkurdistan entwickeln.

Ergebnis

Da es Staatspräsident Erdoğan und seiner Regierung vor dem Referendum nicht gelungen war, im Krieg gegen die kurdische Bewegung zu siegen, hat er seine Kriegspolitik auf die gesamte Bevölkerung des Landes sowie die Nachbarländer ausgeweitet. Doch im Endeffekt hat er auch hiermit nicht den gewünschten Erfolg beim Verfassungsreferendum geschafft. Und nun, nach dem 16. April, ist diese Gefahr auch noch nicht gebannt. Im Gegenteil, Erdoğans Thron wackelt. Und je unsicherer er sich in seiner Machtposition fühlt, desto größer ist letztlich auch die Kriegsgefahr.