Eine Reise ins befreite Minbic im Norden Syriens

Aus der Hölle ins Paradies

Ercan Ayboga interviewte VertreterInnen der neuen Demokratischen Verwaltung in Minbic

Die Stadt Minbic (Manbidsch) und ihr Umland gehören zu den umstrittensten Gebieten im syrischen Krieg. Und es wird hier immer komplizierter. Fast alle Kriegsparteien sind in unmittelbarer Nähe dieser nordsyrischen Region vertreten. Vor allem die hier als Besatzer agierende türkische Armee will Minbic einnehmen, was trotz der Ankündigung des türkischen Staatspräsidenten Erdoğan am Widerstand der lokalen Bevölkerung, aber auch an der Haltung der USA und Russlands erst mal scheiterte.

Kinder von Minbic spielen auf dem Platz, wo der IS Menschen in Käfige gesperrt und hingerichtet hat. | Foto: E. AybogaAm 12. August 2016 wurde die Stadt Minbic von den Demokratischen Kräften Syriens (engl.: SDF, arab.: QSD) befreit und damit die mehr als zweieinhalbjährige Herrschaft des »Islamischen Staates« (IS) über sie beendet. Kurz vor Beginn der Befreiungsoperation war am 31. Mai 2016 der Militärrat von Minbic durch die von den kurdischen Volks- und Frauenverteidigungseinheiten (YPG/YPJ) angeführten QSD ins Leben gerufen worden. Dieser kontrolliert militärisch die Region Minbic, welche etwa hundert Kilometer südwestlich des durch seinen Widerstand weltweit bekannt gewordenen Kobanê liegt. Im Herbst 2016 übergab der Militärrat die Verwaltung der Region dem provisorischen Zivilrat von Minbic. Der aus AraberInnen, KurdInnen, TurkmenInnen und TscherkessInnen bestehende Zivilrat hat sich am 12. März 2017 in die »Legislative der Demokratischen Administration von Minbic« umbenannt und breiter aufgestellt, um seine demokratische Legitimation zu erhöhen.

Die Bedeutung von Minbic erklärt sich nicht nur durch seine geostrategische Lage im gesamtsyrischen Kontext, sondern auch durch das dort seit August 2016 aufgebaute politische System mit der Legislative der Demokratischen Verwaltung von Minbic, das einen sehr hohen demokratischen Anspruch hat und als Modell für ein neues demokratisches Syrien gelten soll. Letzteres steht im Fokus dieses Interviews, das mit den wichtigsten VertreterInnen der Legislative der Demokratischen Verwaltung geführt wurde. Darunter den beiden Ko-Vorsitzenden Sozdar Xalit (Kurdin) und Faruk Maschi (Araber) sowie Emel Bozgeyik (Turkmenin), Muhamed Dolmusch (Turkmene), Muhamed Tarik (Tscherkesse) und Abdo Mustafa (Kurde).

Was für eine Stadt war Minbic vor dem Krieg in Syrien?

Alle: In Minbic machten vor 2011 etwa achtzig Prozent der knapp 100 000 EinwohnerInnen zählenden Bevölkerung AraberInnen aus. Allerdings war die Mehrheit der Bevölkerung vor mehr als neunzig Jahren mehrheitlich tscherkessisch gewesen. Zu knapp fünfzehn Prozent lebten KurdInnen kurz vor dem Krieg in Minbic. TscherkessInnen und TurkmenInnen zählten gemeinsam nur noch etwa fünf Prozent der Gesamtbevölkerung. Vor mehreren Jahrzehnten hatte es auch eine kleine armenische Community gegeben, die jedoch nach Aleppo auswanderte.

Sowohl der Handel als auch die Landwirtschaft sind in Minbic schon immer ausgeprägt gewesen. Wirtschaftlich stand die Stadt relativ gut da. Auch der Bildungsstandard ist im Vergleich zum Umfeld relativ hoch.

Maschi: Die 63 arabischen Stämme der Region kamen viele Jahre regelmäßig zusammen und arrangierten sich mit dem Staat, ohne ihn jedoch insgesamt aktiv unterstützt zu haben. Die zwei größten Stämme schickten je eineN AbgeordneteN ins syrische Parlament.

Wie gestaltete sich in Minbic die Periode vom Beginn des syrischen Aufstands und Krieges bis kurz vor der IS-Herrschaft?

Alle: Die Stadt Minbic und ihr Umfeld stellten sich ab Frühjahr 2011 schnell gegen das Baath-Regime. Allerdings gab es große Diskussionen, ob der Widerstand friedlich oder bewaffnet sein sollte.

Dolmusch: Diese Diskussion wurde sowohl unter den AraberInnen als auch unter den TurkmenInnen geführt. Während sich Letztere anfangs friedlich organisierten, änderte sich die Meinung vieler zügig, als Waffen, Geld und militärische Ausbildung aus der Türkei aufgedrängt wurden. So war die turkmenische Gesellschaft geteilter Meinung.

Maschi: Ich stellte mich mit meinem Stamm gegen das Regime, lehnte jedoch bewaffnete Angriffe ab. Doch viele befürworteten dies und die AraberInnen waren zwiegespalten. Auf die Seite des Regimes stellte sich kaum jemand.

Alle: Ab 2011 bildeten sich schnell bis zu 76 oppositionelle militärische Brigaden, die alle unter dem Label Freie Syrische Armee (FSA) zusammenkamen. Die KurdInnen organisierten sich politisch zumeist in der Bewegung für eine Demokratische Gesellschaft (TEV-DEM), einem Bündnis mehrerer kurdischer Parteien inklusive der Partei der Demokratischen Einheit (PYD), die schnell zur Hauptkraft der KurdInnen in ganz Syrien wurde, und militärisch zumeist unter der Gruppe Al-Akrad, die als Teil der FSA zu den fortschrittlicheren gehörte und freundliche Beziehungen zu den YPG/YPJ hatte. Die FSA-Herrschaft in Minbic ab Juli 2012 führte zunächst zu mehr politischen Freiheiten, es war aber eine sehr chaotische Zeit. Die meisten FSA-KämpferInnen konnten zum einen die grundlegenden Verwaltungsangelegenheiten nicht bewältigen und zum anderen begannen sie, sich persönlich zu bereichern. Nachdem sie die staatlichen Einrichtungen geplündert hatten, raubten sie ZivilistInnen aus. Nach wenigen Monaten wurde die FSA repressiver und sie bekämpften sich untereinander. Die Bevölkerung wurde unzufrieden. Es war recht einfach für die erstarkende syrische Al-Qaida, die Al-Nusra-Front, im Frühjahr 2013 die Macht zu übernehmen. Al-Nusra führte gleich zu Beginn die Scharia ein und übte einen größeren politischen Druck aus. Vielen, denen kriminelles Verhalten vorgeworfen wurde, wurde die Hand abgehackt. Diebstahl gehörte auch zum Instrumentarium von Al-Nusra-KämpferInnen. Während die FSA die politische Arbeit von TEV-DEM auf den Dörfern eingrenzte, begann Al-Nusra TEV-DEM auch in der Stadt zu unterdrücken. Kurz gesagt: Die kurze Herrschaft von Al-Nusra war von sozialer Gerechtigkeit und Freiheit weit entfernt und steuerte schnell auf eine Diktatur und Chaos zu. Somit war es für den sich rasant ausbreitenden IS mit seiner Beteuerung des absoluten Islams und gerechten Systems keine Schwierigkeit, die Macht in Minbic an sich zu reißen.

Wie können wir uns die knapp dreijährige Herrschaft des IS in Minbic konkret vorstellen?

Alle: Als das Regime 2012 vertrieben wurde, stieg zunächst die Bevölkerungszahl von Minbic. Doch mit dem IS ging sie auf weniger als die Hälfte der ursprünglichen Zahl zurück. Insbesondere fast alle KurdInnen und TscherkessInnen verließen die Stadt, denn sie wurden als potentielle Feinde gesehen.

Dolmusch: Als der IS in Minbic herrschte, war er nicht so sehr hinter den TurkmenInnen, sondern vor allem hinter den KurdInnen her. Denn vor ihnen hatte er große Angst.

Alle: In den ersten Monaten verhielt sich der IS in der Stadt recht zurückhaltend. Auf den Straßen boten sie den Kindern sogar Süßigkeiten an. Sie betonten aber gleich zu Beginn, was »halal« (erlaubt) und was »haram« (verboten) sei. Die Bevölkerung schaute in der ersten Zeit der IS-Herrschaft passiv zu. Doch wenige Monate später zeigte der IS sein wahres Gesicht und begann in noch nie gesehener Form, das politische, soziale, kulturelle und ökonomische Leben zu kontrollieren. Jeder Art von Widerspruch oder Zuwiderhandeln gegen die von ihm auferlegten Regeln wurde auf brutalste Weise begegnet. Die extremste Äußerung des IS-Terrors in Minbic war es, dass in knapp drei Jahren 545 Menschen zunächst tagelang auf öffentlichen Plätzen in Käfige gesteckt wurden, ohne dass Familienangehörige zu ihnen durften, und Tage später öffentlich geköpft wurden, wozu viele Menschen unter Zwang herangekarrt wurden. Dies wurde per Video aufgenommen, um noch mehr Schrecken vor dem IS zu verbreiten.

Demonstration in Minbic gegen das international Komplott, dass Öcalan in die Isolation auf die Gefängnisinsel Imralı brachte. | Foto: E. AybogaBozgeyik und Xalit: Frauen und auch Mädchen wurden mit besonderen Gesetzen bedacht. Sie mussten in der Öffentlichkeit den Tschador in seiner strengsten Form tragen und durften nur in Begleitung eines männlichen Familienangehörigen auf die Straße, dabei mussten sie fünfzehn Meter hinter ihm herlaufen. Um bestraft zu werden, reichte es aus, wenn ein Teil des Gesichts der Frau draußen zu sehen war. Manchmal passierte es, dass Männer ihre Ehefrauen oder Geschwister aus den Augen verloren und nicht wiederfinden konnten. Wegen dieser Regelung blieben viele Frauen einfach immer zuhause. Einige Frauen mussten wegen der schwierigen wirtschaftlichen Lage weiter auf den Gemüsefeldern um die Stadt herum arbeiten, doch der Tschador erschwerte diese Tätigkeit erheblich, insbesondere im Sommer. Manche Lebensmittel wie Tomaten, Konserven oder anderes, was Frauen besonders bevorzugten, wurden verboten. Um die Restriktionen effizienter durchzusetzen, wurde sogar eine Frauenmiliz gegründet. Festgenommene Frauen wurden gefoltert – Blutspuren im Frauengefängnis waren kurz nach der Befreiung zu sehen – und in vielen Fällen an drei öffentlichen Orten gesteinigt. Dass heute genau an einer dieser Stellen ein Baumsprössling herausgewachsen ist, freut uns besonders.

Alle: Unter dem IS wurde die wirtschaftliche Lage in Minbic noch schwieriger und das Leben besonders teuer. Er verkaufte das Brot und den Liter Diesel zu je 350 Syrischen Lira (zur gleichen Zeit kostete es im YPG-/YPJ-/QSD-kontrollierten Gebiet nur je 40–50 Lira) [entsprechen zzt. ca. 1,50 gegenüber ca. 0,20 EUR]. An den Ausgabestellen bildeten sich oft lange Schlangen. Und das, obwohl Erdöl und Getreide im IS-Gebiet ausreichend zur Verfügung standen. Zucker war auch sehr teuer, obwohl im naheliegenden Maskanah produziert. Horrende Steuern wurden wahllos von GeschäftsinhaberInnen und HändlerInnen eingetrieben. Damit finanzierte der IS seinen Krieg. Die vorhandenen Lebensmittel waren rationiert, dabei behielten die IS-Kämpfer das Beste für sich, was sie mit ihrem angeblichen Status als »Soldaten Gottes« begründeten. Die meisten hielten sich mit Geld von außerhalb lebenden Familienangehörigen über Wasser. Den Ärmsten, die nach finanzieller Unterstützung anfragten, wurde in der Regel gesagt, sich dem IS als Kämpfer anzuschließen.

Alle Schulen in Minbic wurden vom IS geschlossen, unsere Kinder konnten nur noch in islamische Schulen gehen. Als der IS mit der Zeit die Kapazität der eigenen Schulen ausgebaut hatte, begannen sie damit, alle Kinder in diese Schulen zu zwingen. Diese wurden hier einer ideologischen Gehirnwäsche unterzogen und unter Druck gesetzt, sich ab einem gewissen Alter dem IS anzuschließen.

Es gab so viele weitere verrückte Verbote wie zum Beispiel, in den Parks nicht zu essen. Telefonieren mit Handy war grundsätzlich verboten. Wenn sie jemand erwischten, musste er/sie beim ersten Mal eine hohe Geldstrafe zahlen. Bei Wiederholung drohten Haft und Folter.

Nicht alles, was der IS getan hat, kann mit dem Islam in Verbindung gebracht werden. Er instrumentalisierte ihn für seine Terrorherrschaft.

Sie stellen es so dar, als habe der IS keine Unterstützung in der Bevölkerung gehabt. Haben ihn aber nicht viele Menschen aktiv unterstützt?

Alle: Das war nur für einen kleinen Teil der Bevölkerung der Fall, die meisten Verbliebenen haben sich eher mit dem IS arrangiert. Bedenken wir, dass ja mehr als die Hälfte der Bevölkerung aus Minbic floh, als der IS herrschte. Wir müssen aber leider sagen: Einige Familien verkauften regelrecht ihre Töchter an den IS. Zum Teil aus ideologischen und zum Teil aus finanziellen Gründen. Wer dem IS nahestand und als AgentIn fungierte, durfte z. B. in den vielen kleinen Diesel-Raffinerien arbeiten. Manche wurden zu AgentInnen, wir hatten nicht nur auf der Straße, sondern auch in unserem Treppenhaus Angst. Die Mehrheit der Bevölkerung stellte sich ab 2015 immer klarer gegen den IS. Es fanden insgesamt drei Demonstrationen in Minbic gegen die Praktiken des IS statt, einmal wurden sogar die Geschäfte geschlossen. Doch alle Versuche wurden auf brutalste Weise unterdrückt. Minbic ist eine der wenigen IS-kontrollierten Städte, wo überhaupt Demonstrationen gegen die IS-Praktiken stattfanden.

Die Unterstützung für den IS war in den bewaffneten Gruppen größer als unter den ZivilistInnen. So hat sich leider ein wichtiger Teil der früheren FSA dem IS ab 2014 militärisch angeschlossen.

Kurz vor der am 31. Mai begonnenen Befreiungsoperation wurden der Zivil- und der Militärrat von Minbic ausgerufen. Wie kam es denn dazu?

Xalit: Mit der Befreiung der Tischrin-Talsperre am Euphrat durch die QSD im Dezember 2015 kam langsam Hoffnung auf, dass der IS seine Herrschaft über die Minbic-Region verlieren könnte. Der IS wurde langsam unsicher und das nicht zu Unrecht. Denn Anfang 2016 kamen aus Minbic geflohene Menschen und Gruppen mit den YPG/YPJ/QSD und VertreterInnen der drei Rojava-Kantone und dem neu gegründeten Demokratischen Rat von Syrien zusammen, um die Befreiung von Minbic vorzubereiten. Die früheren Minbicer TEV-DEM-AktivistInnen waren der Motor dieser Unternehmung. Da wir beide schon vorher aus Minbic geflohen waren, haben wir uns von Anfang an stark eingebracht. Erst wurde Anfang 2016 der Militärrat von Minbic und danach am 5. April 2016 der Zivilrat von Minbic gegründet. Weil uns die Vertretung aller Bevölkerungsteile so wichtig war, haben wir die Sitze für die TscherkessInnen im 43-köpfigen Zivilrat frei gehalten. Denn fast alle von ihnen hatten Minbic verlassen müssen. Der Zivilrat verwendete gleich von Beginn an alle in Minbic gesprochenen Sprachen, die Transparente waren viersprachig. Der Militärrat hatte von Beginn an auch Frauen in seinen Reihen, darauf legten wir großen Wert. Allerdings waren sie während der Befreiungsoperation in den Medien kaum präsent.

Maschi: Dass so schnell beides ins Leben gerufen werden konnte, lag zum einen am äußerst brutalen Terror des IS und dem Hass auf den IS und zum anderen an der aktiven Unterstützung der QSD bzw. des Demokratischen Rates von Syrien für beide Strukturen. Ich selbst hatte schon lange gute Beziehungen zu den KurdInnen in Minbic und im nahe liegenden Kobanê. Tatsächlich tiefer gehende Beziehungen zu ihnen waren mir schon immer ein wichtiges Anliegen, nur so können wir verhindern, dass uns andere Kräfte gegeneinander ausspielen können. Davon überzeugte ich auch viele Menschen in meinem Al-Buberne-Klan, der zu den größten in der Minbic-Region gehört. Der Zivilrat und der Militärrat von Minbic, der eine autonome Struktur innerhalb der QSD hat, arbeiteten gleich von Anfang an eng zusammen, die Aufgabenteilung war recht gut. Das zeigte sich während der knapp dreimonatigen Befreiungsoperation. Der Militärrat wuchs mit dieser Operation schnell an und erreichte eine vierstellige Zahl, als Minbic befreit wurde.

Was taten Sie als Zivilrat, als der Militärrat von Minbic die Befreiungsoperation gestartet hatte?

Xalit und Maschi: Vor und während der Befreiungsoperation haben wir uns stark bemüht, mit Menschen in Minbic und aus Minbic geflohenen Menschen an verschiedenen Orten in Kontakt zu treten und sie für die Befreiung zu gewinnen. Die Akzeptanz des Zivilrat wurde so relativ schnell vergrößert, was vor allem für die Zeit nach der Befreiung – wir waren uns über den Erfolg der Operation sicher – bedeutend wurde. Wir hatten Gruppen gebildet, die ab Juni 2016 umgehend die befreiten Dörfer besuchten und von unseren Zielen und Vorhaben berichteten. Die allermeisten nahmen uns erfreut und erleichtert auf. Außerdem versorgten wir mit Freiwilligen die infolge der harten Kämpfe in Minbic vielen Hundert Verletzten. Vor allem führten wir Diskussionen um die Art und Weise der Administration der Stadt und Umgebung von Minbic. Jeder Schritt während und kurz nach der Befreiung war wichtig für die Unterstützung durch die breite Bevölkerung. In der Tat waren wir insgesamt recht erfolgreich, so wurden wir für die Übergangszeit ohne Infragestellen zur Leitung von Minbic. Fortan wandte sich die Bevölkerung an uns.

Können Sie uns Beispiele und Eindrücke geben, wie die Bevölkerung die Befreiung aufnahm? Was war Ihnen besonders wichtig?

Alle: Die Befreiung vom IS durch den Militärrat von Minbic und die Demokratischen Kräfte Syriens ist zu vergleichen mit dem Übergang von der Hölle ins Paradies! Dementsprechend war die Stimmung in den ersten Wochen besonders euphorisch. Die IS-Brutalität war so groß gewesen, dass viele sich erst freuen konnten, als sie die KämpferInnen des Militärrates und die Demokratischen Kräfte persönlich und nicht in Kampfposition vor ihrem Haus treffen konnten. Dann kam der Freudenschrei. Vor allem Frauen war die große Freude anzusehen. Viele tanzten in den ersten Tagen auf den Straßen. Es gab keinen Lynchversuch in der Stadt, was uns wichtig ist. Zehntausende kehrten in wenigen Wochen zurück in ihre Häuser, darunter viele Tausende aus der Türkei. Sehr viele Menschen kamen zu uns und boten ihre aktive Hilfe an, bzw. sie wollten Aufgaben beim Wiederaufbau übernehmen. Die Bevölkerung hat gesehen, dass wir Freiheit und Gleichheit bringen und niemanden ausgrenzen oder Differenzen für einen kleinen Kreis ausnutzen wollen. Genau das spürt die Bevölkerung. Minbic hat in seiner Geschichte noch nie so viel Freiheit gelebt. Die Freude ist nach wie vor sehr groß, das kann jeder Mensch selbst sehen, wenn er durch die Straßen von Minbic läuft. Die Gesichter der Menschen sind voller positiver Energie.

Was waren Ihre ersten Schritte in Minbic? Wie hat sich das Leben in mehr als einem halben Jahr entwickelt?

Alle: Bei der Befreiungsoperation wurden mehrere Dutzend Gebäude komplett und hunderte Gebäude leicht zerstört, was im Vergleich zu vielen anderen umkämpften Städten Syriens minimal ist. Als einer der ersten Schritte wurden sehr schnell die Trümmer geräumt. Gleich von Anfang an bemühten wir uns, dass in jedem Stadtteil und jedem Ort außerhalb der Stadt ein Volksrat mit breiter Bevölkerungsbeteiligung gegründet wurde. In manchen Orten ist es uns schnell gelungen, eine demokratische Struktur mit Beteiligung von Frauen aufzubauen. Wir sind zuversichtlich, es überall in kurzer Zeit hinzubekommen.

Als einen Monat nach der Befreiung die Schulen geöffnet wurden, ging eine zweite Freudenwelle durch die Region. Drei Jahre lang waren sie geschlossen gewesen. Dazu haben wir alle früheren LehrerInnen aufgerufen, mit Erfolg. Die bisher einzige Veränderung am Unterricht ist die Abschaffung des Faches über Staat und Geschichte, das auf der Basis der Baath-Ideologie gelehrt wurde. KurdInnen und TurkmenInnen haben wenige Wochen nach Eröffnung angefangen, ihre Kinder zusätzlich in ihrer Muttersprache zu unterrichten.

Tarik: Wir sind noch nicht so weit, dass wir unseren Kindern Tscherkessisch anbieten können, was auch daran liegt, dass wir unsere Sprache zumeist wenig sprechen. Aber wir werden zum neuen Schuljahr damit beginnen. Das ist für uns eine große Herausforderung, weil weder in Syrien noch in der Türkei Tscherkessisch in der Schule gelehrt wurde. Es ist ein unglaublich schönes Gefühl, wenn jeder Mensch in der eigenen Sprache zur Schule gehen kann.

Alle: Als sich im Herbst die Lage in Minbic stabilisierte und wir uns als Zivilrat von Minbic besser organisiert hatten, wurde die Verwaltung auch offiziell vom Militärrat auf den Zivilrat übertragen. Von nun an sind alle wichtigen Entscheidungen zur Region Minbic von unserem 43-köpfigen Rat getroffen worden. Der Militärrat bekam in einer der ersten Entscheidungen die Aufgabe, die Sicherheitsstruktur, genannt Asayîş, aufzubauen.

Die Wirtschaft ist von den vielen Einschränkungen der letzten Jahre befreit worden. Das war insofern wichtig, als damit die HändlerInnen von Minbic notwendige Güter aus anderen Regionen bringen konnten. Das reicht aber bei weitem nicht aus und die Handelsgüter sind teilweise teuer. Aber aus den Kantonen Kobanê und Cizîrê kommen Grundnahrungsmittel und andere elementare Güter und Hilfen für die Bedürftigen. Jetzt kosten das Brot – die große Brotfabrik wurde sofort repariert – und der Diesel in Minbic genauso viel wie in Kobanê und Cizîrê, die Wasserversorgung funktioniert wieder. Strom wird vom Tischrin-Staudamm fast den ganzen Tag lang kostenlos geliefert. Dem Handyunternehmen Syriatel wurde erlaubt, die Funkmasten zu reparieren – so konnten Menschen wieder mit ihren Verwandten in anderen Landesteilen telefonieren.

Einigen, denen Spionage für den IS vorgeworfen wird, wurde ein offener und demokratischer Prozess gemacht. Aber erst, als ein für den Zivilrat und die Öffentlichkeit transparentes Volksgericht gebildet worden war.

Die Befreiung von Minbic führte jedoch auch dazu, dass Menschen aus den vom IS und anderen antidemokratischen Kräften oder Regimen kontrollierten Gebieten als Flüchtlinge zu uns kommen. Sie sagen: »Wir haben gehört, dass es hier Freiheit gibt, das Leben besser ist und niemand verfolgt wird. Deshalb sind wir hier.« Wir nehmen sie natürlich auf, aber technisch und finanziell ist es eine große Last, zehntausende Menschen in unserer Lage zusätzlich zu versorgen. Mit der Einnahme von Al-Bab durch die türkische Armee und der südlich von Minbic gelegenen Gebiete durch die syrische Armee sind weitere Zehntausende gekommen. Jetzt gibt es immerhin ein bisschen internationale Unterstützung.

Vor kurzem hat sich der Zivilrat von Minbic in die »Legislative der Demokratischen Verwaltung von Minbic« umbenannt und umstrukturiert? Warum, und was ist jetzt anders?

Alle: Am 12. März 2017 wurde der Zivilrat in die »Legislative der Demokratischen Verwaltung von Minbic« nicht nur umbenannt, es fanden nach monatelangen Diskussionen eine Reihe von Umstrukturierungen der gesamten Verwaltung statt. Beim Zivilrat waren Legislative und Exekutive eine Struktur gewesen, jetzt wurden sie voneinander getrennt. Bei der Legislative der Demokratischen Verwaltung wurde die Zahl der VertreterInnen, die politische Entscheidungen treffen sollen, von 43 auf 134 erhöht. Von denen sind 71 AraberInnen, 43 KurdInnen, 10 TurkmenInnen, 8 TscherkessInnen und je einE ArmenierIn und TschetschenIn. 15 Personen bilden die Exekutive der Demokratischen Verwaltung. Insgesamt wurden 13 Komitees gegründet – Verteidigung, Frauen, Gesellschaftsangelegenheiten, Wirtschaft, Finanzen, Gesundheit, Kultur, Bildung, Kommunalverwaltungen, MärtyrerInnen, Dienstleistungen, Diplomatie, Jugend & Sport.

Xalit: Die größte Herausforderung war es, entsprechend der beschlossenen Geschlechterquote von 40 % unter den NichtkurdInnen genügend Frauen für diese Aufgabe zu gewinnen. Das lag daran, dass bei ihnen bisher sehr wenige Frauen im öffentlich-politischen Leben engagiert waren und die Frauenfrage kaum ernsthaft gestellt wurde. Mehrere Wochen haben wir darum gerungen, dass ausreichend Frauen in der Legislative vertreten sind. Nur dadurch, dass 50 % der KurdInnen in der Legislative der Demokratischen Verwaltung von Minbic Frauen wurden, konnten wir die Quote einhalten.

Alle: Angesichts des Krieges, der Vertreibungen und Massaker in Syrien, wozu Religion oder Ethnizität instrumentalisiert wurden, ist es wichtig, dass alle ethnischen Gruppen von Minbic ausreichend vertreten sind; religiös gesehen sind ja alle sunnitisch. Dabei haben wir uns erfolgreich bemüht, dass sich auch verschiedene Berufsgruppen wiederfinden. Jugendliche, Studierende, Intellektuelle, KünstlerInnen sind auch unter den 134 Delegierten.

Wie müssen wir die Entwicklungen in Minbic für Syrien politisch denn überhaupt verstehen? Wie sollte aus Ihrer Sicht das neue System eingeordnet werden?

Alle: Diese neuen Strukturen in Minbic sind auf der Basis der Idee der »Demokratischen Nation« entwickelt worden. Demnach wird der Nationalstaat abgelehnt und stattdessen sollen sich in ihr alle Individuen und insbesondere Gruppen wiederfinden können. Keine Identität soll über andere herrschen. In der Praxis heißt es u. a., dass alle gesprochenen Sprachen und die freie Ausübung der diversen Kulturen gleichgestellt sind. Die Frauenbefreiung ist ein zentrales Element und durchzieht alle politischen und gesellschaftlichen Strukturen; so führen wir sukzessiv überall das System des Ko-Vorsitzes durch Frau und Mann und eine Geschlechterquote ein. Das Leben soll ferner ökologisch und kommunal organisiert werden: Der privatwirtschaftliche Gewinn darf nicht über den Interessen der Gesellschaft stehen und breite Solidarität untereinander ist wichtig. Dieses Konzept wird seit 2012 in den drei Kantonen Afrîn, Kobanê und Cizîrê mit Erfolg umgesetzt, nur mit dem Unterschied, dass hier jetzt hauptsächlich NichtkurdInnen leben. Und genau das ist das Besondere an Minbic.

Bozgeyik: Was wir alles von den KurdInnen in letzter Zeit hören, ist für uns so ganz neu und aufregend. Das besonders Schöne dabei ist, dass wir gemeinsam und in guter Zusammenarbeit das Neue aufbauen. Noch wichtiger als die Theorie ist die Praxis entscheidend, denn darauf schaut die breite Bevölkerung. Hoffentlich schaffen wir es in Minbic, ein Modell für ganz Syrien aufzubauen. Das ist angesichts des großen Leides sehr wichtig. Wir sind uns bewusst, dass wir eine historische und verantwortungsvolle Aufgabe haben. Deshalb arbeiten wir viel und diskutieren und bilden uns ständig in selbst gegründeten Akademien fort.

Was bedeutet in diesem Sinne die Person Abdullah Öcalan, welcher der Ideengeber für das Konzept der Demokratischen Nation ist? Welche Rolle spielt er in Minbic?

Tarik: Abdullah Öcalan hat tiefgehende Gedanken zur Sprache gebracht, die das Zusammenleben der Kulturen in das Zentrum des Lebens rücken. Die Völker kommen sich im Herzen näher. Heute ist Öcalan nicht nur ein politischer Anführer der KurdInnen, er hat sich eine ganz besondere Rolle für die TscherkessInnen und alle anderen in unserer Region erarbeitet. Das sehen wir auch daran, dass die Frauen in der Gesellschaft aktiv werden.

Was denken Sie über die Rolle der türkischen Regierung im Syrienkrieg? Seit Wochen greift die türkische Armee Dörfer im westlichen Minbic an.

Alle: Wir haben gute Beziehungen zur Bevölkerung der Türkei. Viele von uns lebten in der Türkei als Flüchtlinge bzw. ein kleiner Teil der Menschen aus Minbic sind dort noch Flüchtlinge. Allerdings hat uns die türkische Regierung jahrelang Unrecht getan, indem sie den IS unterstützte. Der IS ist der gemeinsame Feind aller Menschen, auf den wir uns konzentrieren sollten. Die jetzigen mit Unterstützung der türkischen Armee durchgeführten Angriffe der bewaffneten Gruppen auf die vom IS befreiten Dörfer sind inakzeptabel. Wir laden die türkische Regierung ein, nach Minbic zu kommen und selbst Zeuge zu werden, was wir hier aufbauen. Alle Bevölkerungsteile machen mit, wir haben den gesellschaftlichen Frieden und Konsens hergestellt.

Immer wieder ist zu lesen, dass die YPG/YPJ bzw. QSD ethnische Säuberungen unter NichtkurdInnen, insbesondere AraberInnen, in Nordsyrien durchgeführt haben sollen. Ist so etwas in Minbic passiert?

Maschin: Das kann ich ganz klar mit Nein beantworten. Das werden Ihnen alle Menschen draußen auf den Straßen von Minbic auch bestätigen. Wenn so etwas passiert gewesen wäre, hätten weder ich noch die Mehrheit der AraberInnen die neuen politischen Strukturen mit den KurdInnen und den anderen mit aufgebaut. Die befreiten Dörfer wurden in der Regel mehrere Tage lang auf Minen untersucht, dann durften alle BewohnerInnen zurück. Das galt auch für kurdische Dörfer. Wer sowas behauptet, kennt die Realitäten nicht oder hat nichts Gutes im Sinne. Vielmehr ist das Gegenteil der Fall, die KurdInnen haben trotz der jahrzehntelangen Unterdrückung nicht mit Nationalismus geantwortet und die Geschwisterlichkeit der Völker in Syrien tatsächlich vorangebracht. In Minbic ist das besonders zu sehen. Letzten Monat gab es hier eine Demonstration zum internationalen Komplott gegen Abdullah Öcalan vor 18 Jahren, an der wir und viele Tausende teilgenommen haben. AraberInnen, KurdInnen, TurkmenInnen und TscherkessInnen sind gemeinsam gelaufen.