Essa Moosa – ein Kämpfer für Gerechtigkeit

Nilüfer Koç, Nationalkongress Kurdistan (KNK)

Einen Tag, bevor uns Judge Essa Moosa in den Morgenstunden des 26. Februar 2017 für immer verließ, telefonierte ich ein letztes Mal mit ihm. Bis zum letzten Moment wollte er seine Arbeit in sicheren Händen wissen. Er wusste, dass er nicht mehr viel Zeit hatte. Mit seiner ruhigen Stimme ließ er mich wissen, dass er gehen wird. Etwa sieben Minuten lang gab er mir Anweisungen, für die Zukunft der kurdischen Revolution. Eines hat er immer wieder betont: »Die Revolution, die ihr führt, ist schon längst nicht mehr nur eure. Eure Revolution wird auch die Zukunft der arabischen Völker mitbestimmen.« Und immer wieder betonte er, vergesst nicht, dass ihr Kurden eure Ideen für Demokratie im Nahen Osten Öcalan zu verdanken habt. Ihr müsst ihn befreien.Essa Moosa und Nilüfer Koç

Aus seiner Stimme spürte ich, dass ich ihm Garantien geben musste. Er wollte, dass ich verspreche, dass wir die Revolution zum Erfolg bringen würden, dass wir uns weiter für die Freiheit von Öcalan einsetzen und bei unserem Kampf auch an die Freiheit der anderen denken und sie miteinschließen müssen. Ich antwortete ihm, er solle wissen, dass Völker und Frauen, die die Freiheit einmal geschmeckt haben, diese bis zum Letzten verteidigen werden. Mehrmals habe ich ihm versprochen, dass unser Kampf nicht aufhören werde, da Tausende von uns, und auch er, viele Opfer für die Revolution aufgebracht haben. Dass wir in Kurdistan – und er in Südafrika – viele großartige Freunde für die Freiheit verloren und wir unseren Völkern die Freiheit versprochen haben.

Am nächsten Morgen kam die traurige Nachricht, die sehr sehr schmerzhaft war. Ich fühlte diesen Stillstand, dieses Erstarren. Wie kann Mr. Moosa, wie ich ihn in den letzten 20 Jahren genannt hatte, einfach weg sein?

Ich habe bisher nie für jemanden einen Nachruf geschrieben. Nicht für die tausenden Hevals, die ich kenne, die gefallen sind. Ich war der Auffassung, dass ich meine Arbeit in der Revolution immer besser machen müsste, um die gemeinsamen Träume, Wünsche und Hoffnungen zu realisieren, für die, die uns verlassen mussten. Ihr Nichtdasein gibt dem Leben immer einen bitteren Beigeschmack. Das Genießen bei durchschnittlichen Dingen ist immer begleitet von einem Schmerz. Denn wir wissen von der anderen Realität, die nicht auf die Bühne kommt. Wir wissen, welche Heldentaten Frauen und Männer in unserer Revolution vollbracht haben. Wir kennen also die ganze Wahrheit, auch die hinter der Bühne. Und wenn Mr. Moosa über das Apartheid-Regime und dessen Brutalität erzählte, fühlte ich mich doch so angesprochen.

Zum ersten Mal schreibe ich für einen Genossen, Freund und Heval: Essa Moosa. Mit 81 Jahren verließ er uns. 81 Jahre waren geprägt vom Kampf um Gerechtigkeit. In Südafrika, zur Zeit des Apartheid-Regimes, war Mr. Moosa ein furchtloser Revolutionär, der Tausende von Menschen in den Gerichtssälen vertreten hat und deswegen selbst mehrmals gefangengenommen worden ist. Bei einem gemeinsamen Besuch 1997 bei dem ehemaligen Erzbischof Desmond Tutu erzählte mir Tutu über seine Freundschaft mit Mr. Moosa. Tutu wollte mir klar machen, mit wem ich es zu tun hätte. Er sagte, die Apartheid-Polizei habe ihn bei einer der unzähligen Demonstrationen erneut festgenommen. In der überfüllten Zelle habe er den Wärtern mit lauter Stimme zugeschrien, er wolle seinen Anwalt Essa Moosa sprechen. Aus der überfüllten Zelle gegenüber schrie dann Essa Moosa zurück und antwortete, sorry, Erzbischof, ich sitze auch in einer Zelle.

Essa Moosa hat seinen Beruf nicht erlernt, um einen besseren sozialen und wirtschaftlichen Standard zu erlangen. Er war mit Leib und Seele ein Revolutionär. Er kämpfte in seinem Beruf für Gerechtigkeit. Tausende von Mandanten verteidigte er, ohne Geld zu verlangen. Er war in seinem Privatleben ein einfacher und bescheidener Mensch. Er hat keinen Wert auf materielle Reichtümer gelegt, und so hat er auch seine neun Kinder erzogen.

Mr. Moosa war ein Mensch mit klaren Prinzipien, die aus seinem Geist für Gerechtigkeit entsprangen. Es kann über ihn gesagt werden, dass er ein Mann ohne Feinde war. Sowohl von seinen Freunden als auch von seinen Feinden hat er stets Respekt genossen. Zu diesem Schluss sind die meisten seiner Freunde gekommen. Er war ein Mann, der auch seine Gegner gerecht behandelte.

1994 erfuhr Südafrika die Befreiung vom Apartheidsystem. Aber es fand kein Systemwechsel statt, welches die Demokratie tatsächlich gefestigt hätte. Im neuen Südafrika konnte neben dem weißen Kapitalismus nun auch der schwarze existieren. Heute ist das Land geprägt von Korruption, und der einst revolutionäre ANC trifft auf immer mehr Unzufriedenheit innerhalb der schwarzen Bevölkerung, was sich bei den letzten Wahlen mit starken Stimmenverlusten zeigte.

Mr. Moosa wurde vom Staatspräsidenten Jacob Zuma gebeten, die Kommission zur Bekämpfung der Korruption als ranghoher Richter a. D. zu übernehmen. Soziale Gerechtigkeit für Südafrika war eines der Hauptziele von Mr. Moosa. Kurz bevor er sich von uns verabschiedete, sagte er in einem letzten Treffen mit dem Vorstand der Kurdish Human Rights Action Group (KHRAG) in Kapstadt, dass sie aus Kurdistan mehr lernen müssten in Sachen soziale Gerechtigkeit für Südafrika. Er hatte mehrmals die Gelegenheit, sich in Bakur (Nordkurdistan/Türkei) selbst ein Bild vor Ort zu machen. Von unseren alternativen Verwaltungsstrukturen, die er kennenlernen konnte, war er sehr fasziniert. Auch das Modell von Rojava hatte es ihm angetan.

Zuletzt hatten wir uns auf der Öcalan-Konferenz im Juli 2016 im südkurdischen Silêmanî/Sulaimaniyya gesehen. Dort war er einer der Hauptredner gewesen. In seiner Rede wies er auf die Illegalität der Entführung und auf die Haftbedingungen von Öcalan hin und sagte, dass hier auch der Kernpunkt der Bedeutung Öcalans liege. Warum, so war seine Frage, würde der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte nicht eingreifen?

Mr. Moosa war auch ein gläubiger Muslim. Für mich war das etwas Neues. Einst hatte er mich zur Fastenzeit Ramadan zu sich nach Hause zum Fastenbrechen eingeladen. Ich hatte die Gelegenheit, die Frage, die mich lange beschäftigt hatte, zu stellen. Nämlich dass er in seiner Politik sehr links sei, aber dennoch sich an die 5 Gebote des Islam hielte. Er war nämlich auch in Mekka gewesen und hieß Hadji Essa Moosa. Seine Antwort lautete: »Ich bin ein muslimischer Sozialist.«

Ein weiteres seiner Hauptthemen war auch die Palästina-Frage. In zahlreichen Komitees in Südafrika hatte er sich sehr für die Freiheit des palästinensischen Volkes eingesetzt.

Mit der kurdischen Frage kam Mr. Moosa Anfang der 1990er in Berührung, nachdem einige kurdische Studierende aufgrund der Verfolgung durch den türkischen Staat Zuflucht in Kapstadt gesucht hatten. Damals führte er eine Anwaltskanzlei und unterrichtete viele neue Anwälte für den Kampf um Gerechtigkeit.

Aktiv wurde er für die Kurden Anfang 1997. Im Frühjahr 97 gründete er den Verein Kurdish Human Rights Action Group (KHRAG) in Kapstadt. Dies war die Zeit, in der ich ihn kennenlernte. Unsere erste gemeinsame Aktion war, die Lieferung der 70 Militärhubschrauber, die Südafrika an die türkische Regierung verkaufen wollte, zu stoppen. Binnen mehrerer Wochen harter Arbeit ist es gelungen, die Thematik öffentlich zu machen – der Verkauf wurde gestoppt. Im selben Jahr hatten die Kurden den »Musa Anter Friedenszug« von Europa in die Türkei und nach Kurdistan organisiert. Mit Mr. Moosa schafften wir es, ANC-Abgeordnete für diese Aktion zu gewinnen.

Es folgte weiteres Engagement von Mr. Moosa, er wurde Mitglied im geschäftsführenden Vorstand der European Union Turkey Civil Commission EUTCC, dann gründete er die International Peace and Reconciliation Initiative IPRI, außerdem führte er die schon genannte KHRAG.

Er hat unglaublich viele Menschen in Südafrika zu Freunden des kurdischen Volkes gemacht. Letztes Jahr führte er die erste kurdische Konferenz in Kapstadt gemeinsam mit KHRAG. Auf dieser Konferenz sprachen u. a. der HDP-Ko-Vorsitzende Selahattin Demirtaş, der PYD-Ko-Vorsitzende Salîh Muslîm, der Ko-Vorsitzende des KNK Rebwar Rashid und die YPJ-Kommandantin Jiyan. Darüber hinaus hatte er Gespräche zwischen der kurdischen Delegation und der südafrikanischen Regierung veranlasst.

Wo immer Mr. Moosa anrief, öffneten sich die Türen. Ging man über die belebte Longstreet in Kapstadt, begrüßten ihn unzählige Menschen mit großem Respekt. Für jeden hatte er ein Lächeln bereit – seine Freundlichkeit kam von innen.

Es mag einem kitschig vorkommen, aber Mr. Moosas Vorname Essa bedeutet übersetzt Jesus, der Nachname bedeutet Moses. Man könnte sagen, dass er den Frieden in sich hatte wie Jesus ihn historisch symbolisierte. Er hatte Prinzipen, wie sie Moses über die Gebote definierte.

Wenn es nach Mr. Moosa gegangen wäre, müssten sich alle für die kurdische Sache einsetzen. In Kurdistan, vor allem bei den kurdischen Friedensmüttern in Wan (Van), hatte es ihn überwältigt, als die Frauen ihn nach Mandela, dem ANC und Südafrika fragten und sich informieren wollten. Dabei waren die meisten Mütter nie in der Schule gewesen, wie sie ihm erzählt hatten. Er hat gesehen, dass der Kampf Südafrikas bis nach Kurdistan gekommen war.

Den türkischen Staat hatte Mr. Moosa auch konkret kennengelernt. Er war im Rahmen der Imralı-Delegation 2005 gemeinsam mit Prof. Dr. Norman Paech und vielen anderen Rechtsexperten in Istanbul und Ankara gewesen, um eine Genehmigung für einen Besuch bei Herrn Öcalan zu erhalten. Die Türkei hatte ihm weitere Schwierigkeiten bereitet, als er zu einer internationalen Konferenz nach Istanbul reisen wollte. Die Reise ging über Dubai. Er wurde schließlich daran gehindert, in die Türkei einzureisen.

Es gibt sehr viele nichtkurdische Freunde des kurdischen Volkes. Manche aus humanitärer, manche aus linker Überzeugung. Aber wenigen gelingt es, den Kern der kurdischen Revolution zu verstehen und zu erfassen. Mr. Moosa konnte es aufgrund seiner revolutionären Erfahrungen in Südafrika. Er hatte sowohl die Gemeinsamkeiten als auch die Unterschiede zwischen der PKK- und der ANC-Revolution verstanden. In der PKK erkannte er den Kern, nämlich Abdullah Öcalan. Ich habe selten nichtkurdische Menschen erlebt, die sich so intensiv mit Öcalan befasst haben wie Mr. Moosa. Je tiefer er in die kurdische Materie eintauchte, desto mehr kam er zu Öcalan. Seine Begeisterung für ihn hatte auch damit zu tun, dass Öcalan die Fehler der Revolution von Südafrika in der kurdischen Bewegung korrigierte, nämlich die Idee der demokratischen Nation, d. h. Aufbau eines Systems, das alle Komponenten trotz Differenzen miteinschloss. Für Mr. Moosa war Öcalan jemand, der nicht ausschließt. So war auch Mr. Moosa. Er war ein muslimischer Sozialist, ohne Menschen nach Klasse, Herkunft oder Religion zu kategorisieren. Jedes Mal, wenn ich in Südafrika war, lernte ich die interessanten Menschen kennen, die Mr. Moosa in das Boot der KHRAG geholt hatte. Es waren Schwarze, Weiße, Abgeordnete, Fotografen, Journalisten, Gewerkschafter, Christen, Juden, Muslime, Studierende, Arme, Reiche ...

Kurze Zeit später, nachdem Mr. Moosa von uns gegangen war, bin ich wieder mal nach Kapstadt gereist, um seine Arbeiten – wie versprochen – weiter zu organisieren, damit nichts zum Stillstand kommt. Bei diesem Mal bin ich sehr ungern nach Kapstadt gereist. Ich hatte Angst, nicht mit dem Gefühl zurechtzukommen, dass mit seinem Fortgang eine Leere entstanden war. Am nächsten Morgen traf ich mich mit dem KHRAG-Vorstand und informierte sie über meine Planung. Aber meine Augen suchten nach Mr. Moosa. Eine unglaubliche Leere hat er hinterlassen. Er kam und kam einfach nicht. Wir besuchten seine Familie. Der Stuhl in der linken Ecke seines Wohnzimmers war dieses Mal leer. Sonst hatte er immer dort gesessen und mir erzählt, was wir so alles machen müssen.

Ich hatte Mut gefasst, um am Tag meiner Abreise gemeinsam mit unseren kurdischen Freunden in Kapstadt seine Grabstätte zu besuchen. Auf einem kleinen Holzbrett war sein Name geschrieben, Hadji Essa Moosa. Es war unbegreiflich, wie konnte dieser großartige Mann, der große Mensch in dieses kleine Grab passen.

Öcalan sagt, der Tod ist da, um dem Leben Wert beimessen zu können. Mr. Moosa hat ein großes Leben gehabt. Mit Kurdistan hat er seine Gerechtigkeit über die Grenzen getragen. Mit Öcalans Gedanken hatte er noch mehr Freude und Überzeugung bekommen, um auch in seinem hohen Alter so zu handeln, als wäre er noch sehr jung. Mit 81 Jahren war er ein heval, und genoss unseren absoluten Respekt, der ihm gegenüber ganz natürlich war. Wir standen auf, wenn er ins Zimmer kam. Das tun wir als Kurden zum Zeichen unseres Respekts. Wenn er sprach, wussten wir, dass er vom Leben sprach. Er wusste, was er sagte, denn alles, was er sagte, hatte er in seiner Revolution in Südafrika erfahren.

Mr. Moosa, Du fehlst uns. Unsere Ehrung – Dir als heval gegenüber – wird der Kampf für Gerechtigkeit in Kurdistan, im Nahen Osten und weltweit sein. Es war für uns, im Besonderen für die, die Dich persönlich kennengelernt haben, eine große Ehre und Freude, Dich als heval bei uns gehabt zu haben. Deine Arbeit in Südafrika wird fortgesetzt, Deine Errungenschaften in der KHRAG und IPRI werden wir wie unseren Augapfel hüten. Versprochen ist versprochen!